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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Die Ministerkrisis in England.

Redekunst zu einer unwiderstehlichen und beneidenswerten Gabe machen. Liest
man sie aber durch, so drängt sich sofort eine andre Betrachtung auf. Was
hätte der Redner leisten können, wenn er auf der andern Seite gestanden hätte?
Setzen wir einmal den Fall, der beredte Premierminister der Königin Viktoria
wäre Führer der allergetreuestcn Opposition Ihrer Majestät gewesen, er hätte
die Pflicht gehabt, anzugreifen statt zu verteidigen -- wie würde er ungefähr
gesprochen haben? Herr Minister, würde er gesagt haben, das Haus hat so¬
eben die Rede gehört, mit welcher Ihrer Majestät Regierung ihre ägyptische
Politik verteidigt. Die beste und überzeugendste Antwort auf dieselbe wird von
der ergreifenden Trauerkunde erteilt, die soeben aus der Wüstenfestung Sinken
eingetroffen ist, wo das Blut von sechshundert tapfern ägyptischen Soldaten
und vielleicht ebensovielen Frauen und Kindern laut gegen die Kniffe und Winkel¬
züge eines Kabinets aufschreit, welches die öffentliche Entrüstung nicht zu be¬
achten scheint. Die lange Kette der verderblichen Folgen dieser Politik der
Schwäche und Verblendung ist um ein neues Glied vermehrt worden. Sie ist
schuld, wenn dreizehntausend Ägypter niedergemacht wurden, wenn dreißigtausend
mehr in höchster Lebensgefahr schweben, wenn der Sudan von den Horden eines
wilden Fanatikers überschwemmt wird, dessen Siege in Mekka und Benares
widerhallen und, wie wir soeben aus dem Munde des Herrn Ministers selbst
vernahmen, die ägyptische Regierung mit Auflösung bedrohen. Das sind die
unbestreitbaren Folgen des Verfahrens des Staatsmannes, der an der Spitze
der Regierung Ihrer Majestät steht. Soll das britische Volk demselben weiter
Vertrauen schenken, ihm, in dessen Händen die volle Gewalt lag, die Ereignisse
zu beherrschen, und der uns jetzt sagt, er sei für jene Wendung der Dinge nicht
verantwortlich, sie sei unvermeidlich gewesen? Welche Armee, welcher Staat
würde sicher sein, wenn Minister mit so weitgreifenden Vollmachten für ihre
Niederlagen Straflosigkeit beanspruchen und sich weigern dürften, eine Verant¬
wortung zu übernehmen, auf Grund deren sie ins Amt gelangt sind! Hat der
sehr ehrenwerte Herr selbst etwa in vergangenen Tagen irrenden Staatsmänner"
solche Nachsicht gewährt? Nahm er während des letzten russisch-türkischen Kriegs
irgendwelche Rücksicht auf die Verlegenheiten des patriotischen Lords Beaeons-
field? Nein, er beurteilte seine Gegner nach ihren Früchten, und darnach muß
er selbst jetzt beurteilt werden. Ich bin erstaunt, daß der Herr Minister sich
auf seine frühere Verurteilung unsrer Intervention am Nil beruft, da dieselben
gebieterischen Grüude, die uns dorthin führten, ihn seinerseits gezwungen haben,
Alexandrien zu bombardiren, aus dem Chedive einen Schattenkönig zu machen und
Schiffe und Regimenter nach den Küsten des Rothen MeereL zu entsenden. Diese
Gründe, die er jetzt in seiner Rede ignorirt, sind einfach die Interessen des
britischen Weltreichs. Und was soll man dazu sagen, wenn er uns auf eine
Reihe kleiner Verbesserungen hinweist, die in Ägypten von seinen Beauftragten
vorgenommen worden sind? Ist es, wenn jemandes Haus in Flammen steht,


Die Ministerkrisis in England.

Redekunst zu einer unwiderstehlichen und beneidenswerten Gabe machen. Liest
man sie aber durch, so drängt sich sofort eine andre Betrachtung auf. Was
hätte der Redner leisten können, wenn er auf der andern Seite gestanden hätte?
Setzen wir einmal den Fall, der beredte Premierminister der Königin Viktoria
wäre Führer der allergetreuestcn Opposition Ihrer Majestät gewesen, er hätte
die Pflicht gehabt, anzugreifen statt zu verteidigen — wie würde er ungefähr
gesprochen haben? Herr Minister, würde er gesagt haben, das Haus hat so¬
eben die Rede gehört, mit welcher Ihrer Majestät Regierung ihre ägyptische
Politik verteidigt. Die beste und überzeugendste Antwort auf dieselbe wird von
der ergreifenden Trauerkunde erteilt, die soeben aus der Wüstenfestung Sinken
eingetroffen ist, wo das Blut von sechshundert tapfern ägyptischen Soldaten
und vielleicht ebensovielen Frauen und Kindern laut gegen die Kniffe und Winkel¬
züge eines Kabinets aufschreit, welches die öffentliche Entrüstung nicht zu be¬
achten scheint. Die lange Kette der verderblichen Folgen dieser Politik der
Schwäche und Verblendung ist um ein neues Glied vermehrt worden. Sie ist
schuld, wenn dreizehntausend Ägypter niedergemacht wurden, wenn dreißigtausend
mehr in höchster Lebensgefahr schweben, wenn der Sudan von den Horden eines
wilden Fanatikers überschwemmt wird, dessen Siege in Mekka und Benares
widerhallen und, wie wir soeben aus dem Munde des Herrn Ministers selbst
vernahmen, die ägyptische Regierung mit Auflösung bedrohen. Das sind die
unbestreitbaren Folgen des Verfahrens des Staatsmannes, der an der Spitze
der Regierung Ihrer Majestät steht. Soll das britische Volk demselben weiter
Vertrauen schenken, ihm, in dessen Händen die volle Gewalt lag, die Ereignisse
zu beherrschen, und der uns jetzt sagt, er sei für jene Wendung der Dinge nicht
verantwortlich, sie sei unvermeidlich gewesen? Welche Armee, welcher Staat
würde sicher sein, wenn Minister mit so weitgreifenden Vollmachten für ihre
Niederlagen Straflosigkeit beanspruchen und sich weigern dürften, eine Verant¬
wortung zu übernehmen, auf Grund deren sie ins Amt gelangt sind! Hat der
sehr ehrenwerte Herr selbst etwa in vergangenen Tagen irrenden Staatsmänner»
solche Nachsicht gewährt? Nahm er während des letzten russisch-türkischen Kriegs
irgendwelche Rücksicht auf die Verlegenheiten des patriotischen Lords Beaeons-
field? Nein, er beurteilte seine Gegner nach ihren Früchten, und darnach muß
er selbst jetzt beurteilt werden. Ich bin erstaunt, daß der Herr Minister sich
auf seine frühere Verurteilung unsrer Intervention am Nil beruft, da dieselben
gebieterischen Grüude, die uns dorthin führten, ihn seinerseits gezwungen haben,
Alexandrien zu bombardiren, aus dem Chedive einen Schattenkönig zu machen und
Schiffe und Regimenter nach den Küsten des Rothen MeereL zu entsenden. Diese
Gründe, die er jetzt in seiner Rede ignorirt, sind einfach die Interessen des
britischen Weltreichs. Und was soll man dazu sagen, wenn er uns auf eine
Reihe kleiner Verbesserungen hinweist, die in Ägypten von seinen Beauftragten
vorgenommen worden sind? Ist es, wenn jemandes Haus in Flammen steht,


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[0439] Die Ministerkrisis in England. Redekunst zu einer unwiderstehlichen und beneidenswerten Gabe machen. Liest man sie aber durch, so drängt sich sofort eine andre Betrachtung auf. Was hätte der Redner leisten können, wenn er auf der andern Seite gestanden hätte? Setzen wir einmal den Fall, der beredte Premierminister der Königin Viktoria wäre Führer der allergetreuestcn Opposition Ihrer Majestät gewesen, er hätte die Pflicht gehabt, anzugreifen statt zu verteidigen — wie würde er ungefähr gesprochen haben? Herr Minister, würde er gesagt haben, das Haus hat so¬ eben die Rede gehört, mit welcher Ihrer Majestät Regierung ihre ägyptische Politik verteidigt. Die beste und überzeugendste Antwort auf dieselbe wird von der ergreifenden Trauerkunde erteilt, die soeben aus der Wüstenfestung Sinken eingetroffen ist, wo das Blut von sechshundert tapfern ägyptischen Soldaten und vielleicht ebensovielen Frauen und Kindern laut gegen die Kniffe und Winkel¬ züge eines Kabinets aufschreit, welches die öffentliche Entrüstung nicht zu be¬ achten scheint. Die lange Kette der verderblichen Folgen dieser Politik der Schwäche und Verblendung ist um ein neues Glied vermehrt worden. Sie ist schuld, wenn dreizehntausend Ägypter niedergemacht wurden, wenn dreißigtausend mehr in höchster Lebensgefahr schweben, wenn der Sudan von den Horden eines wilden Fanatikers überschwemmt wird, dessen Siege in Mekka und Benares widerhallen und, wie wir soeben aus dem Munde des Herrn Ministers selbst vernahmen, die ägyptische Regierung mit Auflösung bedrohen. Das sind die unbestreitbaren Folgen des Verfahrens des Staatsmannes, der an der Spitze der Regierung Ihrer Majestät steht. Soll das britische Volk demselben weiter Vertrauen schenken, ihm, in dessen Händen die volle Gewalt lag, die Ereignisse zu beherrschen, und der uns jetzt sagt, er sei für jene Wendung der Dinge nicht verantwortlich, sie sei unvermeidlich gewesen? Welche Armee, welcher Staat würde sicher sein, wenn Minister mit so weitgreifenden Vollmachten für ihre Niederlagen Straflosigkeit beanspruchen und sich weigern dürften, eine Verant¬ wortung zu übernehmen, auf Grund deren sie ins Amt gelangt sind! Hat der sehr ehrenwerte Herr selbst etwa in vergangenen Tagen irrenden Staatsmänner» solche Nachsicht gewährt? Nahm er während des letzten russisch-türkischen Kriegs irgendwelche Rücksicht auf die Verlegenheiten des patriotischen Lords Beaeons- field? Nein, er beurteilte seine Gegner nach ihren Früchten, und darnach muß er selbst jetzt beurteilt werden. Ich bin erstaunt, daß der Herr Minister sich auf seine frühere Verurteilung unsrer Intervention am Nil beruft, da dieselben gebieterischen Grüude, die uns dorthin führten, ihn seinerseits gezwungen haben, Alexandrien zu bombardiren, aus dem Chedive einen Schattenkönig zu machen und Schiffe und Regimenter nach den Küsten des Rothen MeereL zu entsenden. Diese Gründe, die er jetzt in seiner Rede ignorirt, sind einfach die Interessen des britischen Weltreichs. Und was soll man dazu sagen, wenn er uns auf eine Reihe kleiner Verbesserungen hinweist, die in Ägypten von seinen Beauftragten vorgenommen worden sind? Ist es, wenn jemandes Haus in Flammen steht,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/439>, abgerufen am 04.07.2024.