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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Die Ministerkrisis in England.

worden war. In diesem Geiste ärgerlicher und verlegner Unzufriedenheit sehen
wir ihn den Gedanken an ein Protektorat über die Nilländer von sich weisen,
während er doch genötigt ist, die Pflichten eines Protektors zu erfüllen, und
schier leidenschaftlich dem Hause der Gemeinen erklären, daß er "nicht einen Zoll
weit" über das notwendige Erfordernis der Lage hinausgegangen sei und hinaus¬
zugehen beabsichtige. Hierin liegt die Erklärung von vielem, was sich ans diesem
Gebiete ereignet hat. Wenn Ägypten, das große Thor auf dem Wege nach
Indien, die Brücke zwischen Occident und Orient, eine Frage Wege" des Stimm¬
rechts oder eine mit der Kirche oder Theologie in Verbindung stehende Reform
gewesen wäre, so würde Herr Gladstone sicher nichts vernachlässigt haben, er
würde alles nötige vorausgesehen und sür alles gesorgt haben; da Ägypten aber
zu den auswärtigen und militärischen Angelegenheiten gehört, so ist es immer für
ihn mehr oder minder gleichgiltig gewesen, obwohl es für das englische Interesse
von der höchsten Wichtigkeit ist. Die Folge hiervon liegt jetzt deutlich vor.-
England ist von den Ereignissen überrascht und von ihnen von Niederlage zu
Niederlage fortgeschleppt worden, indem es das Rechte niemals zu rechter Zeit
gethan hat. Man begreift es, wenn Gladstone und seine Kollegen entschlossen
sind, ihre Politik des Zcmderns und der halben Maßregeln soviel wie irgend
möglich fortzusetzen. Ägypten ist ihnen nur eine Plage, nur ein Hemmschuh
ihrer liberalen Politik im Innern, nicht eine vortreffliche Gelegenheit gewesen,
Englands Interessen im Orient wahrzunehmen und zu fördern. Solche ver¬
blendete Ungeduld könnte begreiflich erscheinen: die liberalen Herren haben Eile
mit der Verwirklichung ihrer Reformpläne im Pnnkte des Wahlrechts. Es soll
ihnen die Herrschaft für immer sichern. Aber wenn diese Politik in Afrika zu
so schrecklichem Verluste an Leben, zu allen den schweren Gefahren, welche die
Fortschritte der Revolution im Sudan sür das gesamte Morgenland herauf¬
beschworen haben, und zu den kostspieligen Schritten, die England hierdurch
zuletzt aufgenötigt worden sind, geführt hat, so zeigt die Thatkraft und das
Talent, welche der englische Premier jetzt entwickelt, nur, was man hätte erreichen
können, wenn er von Anfang an für Englands Interessen und Aussichten im
Nilthale auch nur etwa so viel Auge und Herz gehabt hätte wie für die Gesetz¬
vorlage wegen Verunreinigung der Flüsse daheim. Das sind die Betrach¬
tungen, welche die sonst so geistvolle und wirksame Rede Gladstones erweckt,
die unsrer Ansicht nach den Vorwurf, die Regierung habe sich einer schwan¬
kenden und nicht folgerichtigen Politik schuldig gemacht, nur soweit widerlegt,
als sie deutlich und unbestreitbar darthut, daß die Regierung niemals in dem
Wunsche geschwankt hat, von der Verantwortlichkeit für Ägypten freizukommen, und
niemals darin inkonsequent gewesen ist, daß sie den Ereignissen folgte, statt sie
vorauszusehen und ihnen vorzubauen.

Gladstones Verteidigungsrede war, wie gesagt, formell ein Meisterstück.
Sie hatte in dieser Beziehung fast alle Merkmale und Eigenschaften, welche die


Die Ministerkrisis in England.

worden war. In diesem Geiste ärgerlicher und verlegner Unzufriedenheit sehen
wir ihn den Gedanken an ein Protektorat über die Nilländer von sich weisen,
während er doch genötigt ist, die Pflichten eines Protektors zu erfüllen, und
schier leidenschaftlich dem Hause der Gemeinen erklären, daß er „nicht einen Zoll
weit" über das notwendige Erfordernis der Lage hinausgegangen sei und hinaus¬
zugehen beabsichtige. Hierin liegt die Erklärung von vielem, was sich ans diesem
Gebiete ereignet hat. Wenn Ägypten, das große Thor auf dem Wege nach
Indien, die Brücke zwischen Occident und Orient, eine Frage Wege» des Stimm¬
rechts oder eine mit der Kirche oder Theologie in Verbindung stehende Reform
gewesen wäre, so würde Herr Gladstone sicher nichts vernachlässigt haben, er
würde alles nötige vorausgesehen und sür alles gesorgt haben; da Ägypten aber
zu den auswärtigen und militärischen Angelegenheiten gehört, so ist es immer für
ihn mehr oder minder gleichgiltig gewesen, obwohl es für das englische Interesse
von der höchsten Wichtigkeit ist. Die Folge hiervon liegt jetzt deutlich vor.-
England ist von den Ereignissen überrascht und von ihnen von Niederlage zu
Niederlage fortgeschleppt worden, indem es das Rechte niemals zu rechter Zeit
gethan hat. Man begreift es, wenn Gladstone und seine Kollegen entschlossen
sind, ihre Politik des Zcmderns und der halben Maßregeln soviel wie irgend
möglich fortzusetzen. Ägypten ist ihnen nur eine Plage, nur ein Hemmschuh
ihrer liberalen Politik im Innern, nicht eine vortreffliche Gelegenheit gewesen,
Englands Interessen im Orient wahrzunehmen und zu fördern. Solche ver¬
blendete Ungeduld könnte begreiflich erscheinen: die liberalen Herren haben Eile
mit der Verwirklichung ihrer Reformpläne im Pnnkte des Wahlrechts. Es soll
ihnen die Herrschaft für immer sichern. Aber wenn diese Politik in Afrika zu
so schrecklichem Verluste an Leben, zu allen den schweren Gefahren, welche die
Fortschritte der Revolution im Sudan sür das gesamte Morgenland herauf¬
beschworen haben, und zu den kostspieligen Schritten, die England hierdurch
zuletzt aufgenötigt worden sind, geführt hat, so zeigt die Thatkraft und das
Talent, welche der englische Premier jetzt entwickelt, nur, was man hätte erreichen
können, wenn er von Anfang an für Englands Interessen und Aussichten im
Nilthale auch nur etwa so viel Auge und Herz gehabt hätte wie für die Gesetz¬
vorlage wegen Verunreinigung der Flüsse daheim. Das sind die Betrach¬
tungen, welche die sonst so geistvolle und wirksame Rede Gladstones erweckt,
die unsrer Ansicht nach den Vorwurf, die Regierung habe sich einer schwan¬
kenden und nicht folgerichtigen Politik schuldig gemacht, nur soweit widerlegt,
als sie deutlich und unbestreitbar darthut, daß die Regierung niemals in dem
Wunsche geschwankt hat, von der Verantwortlichkeit für Ägypten freizukommen, und
niemals darin inkonsequent gewesen ist, daß sie den Ereignissen folgte, statt sie
vorauszusehen und ihnen vorzubauen.

Gladstones Verteidigungsrede war, wie gesagt, formell ein Meisterstück.
Sie hatte in dieser Beziehung fast alle Merkmale und Eigenschaften, welche die


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[0438] Die Ministerkrisis in England. worden war. In diesem Geiste ärgerlicher und verlegner Unzufriedenheit sehen wir ihn den Gedanken an ein Protektorat über die Nilländer von sich weisen, während er doch genötigt ist, die Pflichten eines Protektors zu erfüllen, und schier leidenschaftlich dem Hause der Gemeinen erklären, daß er „nicht einen Zoll weit" über das notwendige Erfordernis der Lage hinausgegangen sei und hinaus¬ zugehen beabsichtige. Hierin liegt die Erklärung von vielem, was sich ans diesem Gebiete ereignet hat. Wenn Ägypten, das große Thor auf dem Wege nach Indien, die Brücke zwischen Occident und Orient, eine Frage Wege» des Stimm¬ rechts oder eine mit der Kirche oder Theologie in Verbindung stehende Reform gewesen wäre, so würde Herr Gladstone sicher nichts vernachlässigt haben, er würde alles nötige vorausgesehen und sür alles gesorgt haben; da Ägypten aber zu den auswärtigen und militärischen Angelegenheiten gehört, so ist es immer für ihn mehr oder minder gleichgiltig gewesen, obwohl es für das englische Interesse von der höchsten Wichtigkeit ist. Die Folge hiervon liegt jetzt deutlich vor.- England ist von den Ereignissen überrascht und von ihnen von Niederlage zu Niederlage fortgeschleppt worden, indem es das Rechte niemals zu rechter Zeit gethan hat. Man begreift es, wenn Gladstone und seine Kollegen entschlossen sind, ihre Politik des Zcmderns und der halben Maßregeln soviel wie irgend möglich fortzusetzen. Ägypten ist ihnen nur eine Plage, nur ein Hemmschuh ihrer liberalen Politik im Innern, nicht eine vortreffliche Gelegenheit gewesen, Englands Interessen im Orient wahrzunehmen und zu fördern. Solche ver¬ blendete Ungeduld könnte begreiflich erscheinen: die liberalen Herren haben Eile mit der Verwirklichung ihrer Reformpläne im Pnnkte des Wahlrechts. Es soll ihnen die Herrschaft für immer sichern. Aber wenn diese Politik in Afrika zu so schrecklichem Verluste an Leben, zu allen den schweren Gefahren, welche die Fortschritte der Revolution im Sudan sür das gesamte Morgenland herauf¬ beschworen haben, und zu den kostspieligen Schritten, die England hierdurch zuletzt aufgenötigt worden sind, geführt hat, so zeigt die Thatkraft und das Talent, welche der englische Premier jetzt entwickelt, nur, was man hätte erreichen können, wenn er von Anfang an für Englands Interessen und Aussichten im Nilthale auch nur etwa so viel Auge und Herz gehabt hätte wie für die Gesetz¬ vorlage wegen Verunreinigung der Flüsse daheim. Das sind die Betrach¬ tungen, welche die sonst so geistvolle und wirksame Rede Gladstones erweckt, die unsrer Ansicht nach den Vorwurf, die Regierung habe sich einer schwan¬ kenden und nicht folgerichtigen Politik schuldig gemacht, nur soweit widerlegt, als sie deutlich und unbestreitbar darthut, daß die Regierung niemals in dem Wunsche geschwankt hat, von der Verantwortlichkeit für Ägypten freizukommen, und niemals darin inkonsequent gewesen ist, daß sie den Ereignissen folgte, statt sie vorauszusehen und ihnen vorzubauen. Gladstones Verteidigungsrede war, wie gesagt, formell ein Meisterstück. Sie hatte in dieser Beziehung fast alle Merkmale und Eigenschaften, welche die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/438>, abgerufen am 04.07.2024.