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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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ist mit daß, wie wir eingangs andeuteten, Meinungsverschiedenheiten und Irr¬
tümer sogar uuter den Kundigen möglich sind, daß endlich das Dnrchschnitts-
verständnis für die Phrasirnng innerhalb der musikalischen Fachkreise selbst
gesunken ist. Die Versuche, die musikalische Interpunktion zu vervollkommnen,
reichen daher schon weiter zurück. Riemann nennt in einem längeren Aufsätze
im "Musikalischen Wochenblatt" D. G, Türk als den ersten Vertreter der
hierauf gerichteten Bestrebungen, (Türk starb 1813 als Universitätsmusik¬
direktor in Halle, wo er sich um die Leitung der "Wöchentlichen Konzerte"
große Verdienste erworben hatte. In ganz Deutschland galt er als Autorität
in Geueralbaßsacheu, und seine zahlreichen theoretischen Werke sind noch heute
kennenswert.) Ich bin jedoch in der Lage, die Existenz eines Jnterpnnktions-
shstems lange vor Türk nachzuweisen und werde weiter unten darauf zurück-
kommen.

In neuerer Zeit haben sich die Herren Lebert und Stark um die Phrasirung
bedeutende Verdienste erworben. Ihre Klassikcrausgaben veranschaulichen den
Satzbau in seinen größeren und kleineren Verhältnissen ganz trefflich, wo nicht
durch Zeichen, so durch textliche Erklärungen.

Riemann geht aber weiter als sie, und zwar nach zwei Richtungen. Einmal
sind seine Analysen noch detcnllirter, sodann stellt er neue Schriftzeichen auf.
Der letztere Schritt wird, wie wir hoffen, von bleibender Bedeutung sein.
Werden die Riemcmnscheu Zeichen acceptirt und allgemein eingeführt, dann
wird die musikalische Deklamation eine sehr einfache Sache sein und den Nimbus
einer Geheimkundc der oberen Fachleute vollständig verlieren. An den Kom-
pmnstcn liegt es vor allem, sich derselben zu bedienen, denn das Schlimmste
sind die Fälle von Unklarheit, die durch die Autoren selbst veranlaßt
werden.

Zu einer Auseinandersetzung des Riemannschen Zeichcusystems selbst ist
der Ort eine musikalische Fachschrift. Hier sei nur angegeben, daß das Wich¬
tigste der von Riemann angewendeten schriftlichen Jntcrpunktionsmittel das
"Lesezeichen" ist. Es erscheint in der Form eines einfachen / oder //. Dieses
Lesezeichen hat Türk schon vorgeschlagen. Es kommt aber -- und damit löse
ich mein oben gegebenes Versprechen ein -- lange vor Türk schon vor, und
zwar bei PH. Rcimeau, dem großen französischen Zeitgenossen von Bach und
Händel. Er bedient sich desselben in den Justrumentalstücken seiner Opern
(nicht bloß gelegentlich) zur Abgrenzung der Perioden, des / für kleinere, des
// für größere. Außerdem bezeichnet Ramean die logische Hauptnote der kleinen
Melvdieabschnitte immer durch ein ein Zeichen, das in dem modernen mu¬
sikalischen Jnterpunktionsshstem wohl auch ganz gut zu verwenden wäre. Das
Lesezeichen selbst, wie Riemann es genannt hat (französisch Auicis), eignet sich
zu vielerlei Varianten durch kurze und lange, dünne und dicke Form, durch
Anbringung von Häkchen :e. Es könnte mit ihm allein der ganze Phrasirnngs-


ist mit daß, wie wir eingangs andeuteten, Meinungsverschiedenheiten und Irr¬
tümer sogar uuter den Kundigen möglich sind, daß endlich das Dnrchschnitts-
verständnis für die Phrasirnng innerhalb der musikalischen Fachkreise selbst
gesunken ist. Die Versuche, die musikalische Interpunktion zu vervollkommnen,
reichen daher schon weiter zurück. Riemann nennt in einem längeren Aufsätze
im „Musikalischen Wochenblatt" D. G, Türk als den ersten Vertreter der
hierauf gerichteten Bestrebungen, (Türk starb 1813 als Universitätsmusik¬
direktor in Halle, wo er sich um die Leitung der „Wöchentlichen Konzerte"
große Verdienste erworben hatte. In ganz Deutschland galt er als Autorität
in Geueralbaßsacheu, und seine zahlreichen theoretischen Werke sind noch heute
kennenswert.) Ich bin jedoch in der Lage, die Existenz eines Jnterpnnktions-
shstems lange vor Türk nachzuweisen und werde weiter unten darauf zurück-
kommen.

In neuerer Zeit haben sich die Herren Lebert und Stark um die Phrasirung
bedeutende Verdienste erworben. Ihre Klassikcrausgaben veranschaulichen den
Satzbau in seinen größeren und kleineren Verhältnissen ganz trefflich, wo nicht
durch Zeichen, so durch textliche Erklärungen.

Riemann geht aber weiter als sie, und zwar nach zwei Richtungen. Einmal
sind seine Analysen noch detcnllirter, sodann stellt er neue Schriftzeichen auf.
Der letztere Schritt wird, wie wir hoffen, von bleibender Bedeutung sein.
Werden die Riemcmnscheu Zeichen acceptirt und allgemein eingeführt, dann
wird die musikalische Deklamation eine sehr einfache Sache sein und den Nimbus
einer Geheimkundc der oberen Fachleute vollständig verlieren. An den Kom-
pmnstcn liegt es vor allem, sich derselben zu bedienen, denn das Schlimmste
sind die Fälle von Unklarheit, die durch die Autoren selbst veranlaßt
werden.

Zu einer Auseinandersetzung des Riemannschen Zeichcusystems selbst ist
der Ort eine musikalische Fachschrift. Hier sei nur angegeben, daß das Wich¬
tigste der von Riemann angewendeten schriftlichen Jntcrpunktionsmittel das
„Lesezeichen" ist. Es erscheint in der Form eines einfachen / oder //. Dieses
Lesezeichen hat Türk schon vorgeschlagen. Es kommt aber — und damit löse
ich mein oben gegebenes Versprechen ein — lange vor Türk schon vor, und
zwar bei PH. Rcimeau, dem großen französischen Zeitgenossen von Bach und
Händel. Er bedient sich desselben in den Justrumentalstücken seiner Opern
(nicht bloß gelegentlich) zur Abgrenzung der Perioden, des / für kleinere, des
// für größere. Außerdem bezeichnet Ramean die logische Hauptnote der kleinen
Melvdieabschnitte immer durch ein ein Zeichen, das in dem modernen mu¬
sikalischen Jnterpunktionsshstem wohl auch ganz gut zu verwenden wäre. Das
Lesezeichen selbst, wie Riemann es genannt hat (französisch Auicis), eignet sich
zu vielerlei Varianten durch kurze und lange, dünne und dicke Form, durch
Anbringung von Häkchen :e. Es könnte mit ihm allein der ganze Phrasirnngs-


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[0421] ist mit daß, wie wir eingangs andeuteten, Meinungsverschiedenheiten und Irr¬ tümer sogar uuter den Kundigen möglich sind, daß endlich das Dnrchschnitts- verständnis für die Phrasirnng innerhalb der musikalischen Fachkreise selbst gesunken ist. Die Versuche, die musikalische Interpunktion zu vervollkommnen, reichen daher schon weiter zurück. Riemann nennt in einem längeren Aufsätze im „Musikalischen Wochenblatt" D. G, Türk als den ersten Vertreter der hierauf gerichteten Bestrebungen, (Türk starb 1813 als Universitätsmusik¬ direktor in Halle, wo er sich um die Leitung der „Wöchentlichen Konzerte" große Verdienste erworben hatte. In ganz Deutschland galt er als Autorität in Geueralbaßsacheu, und seine zahlreichen theoretischen Werke sind noch heute kennenswert.) Ich bin jedoch in der Lage, die Existenz eines Jnterpnnktions- shstems lange vor Türk nachzuweisen und werde weiter unten darauf zurück- kommen. In neuerer Zeit haben sich die Herren Lebert und Stark um die Phrasirung bedeutende Verdienste erworben. Ihre Klassikcrausgaben veranschaulichen den Satzbau in seinen größeren und kleineren Verhältnissen ganz trefflich, wo nicht durch Zeichen, so durch textliche Erklärungen. Riemann geht aber weiter als sie, und zwar nach zwei Richtungen. Einmal sind seine Analysen noch detcnllirter, sodann stellt er neue Schriftzeichen auf. Der letztere Schritt wird, wie wir hoffen, von bleibender Bedeutung sein. Werden die Riemcmnscheu Zeichen acceptirt und allgemein eingeführt, dann wird die musikalische Deklamation eine sehr einfache Sache sein und den Nimbus einer Geheimkundc der oberen Fachleute vollständig verlieren. An den Kom- pmnstcn liegt es vor allem, sich derselben zu bedienen, denn das Schlimmste sind die Fälle von Unklarheit, die durch die Autoren selbst veranlaßt werden. Zu einer Auseinandersetzung des Riemannschen Zeichcusystems selbst ist der Ort eine musikalische Fachschrift. Hier sei nur angegeben, daß das Wich¬ tigste der von Riemann angewendeten schriftlichen Jntcrpunktionsmittel das „Lesezeichen" ist. Es erscheint in der Form eines einfachen / oder //. Dieses Lesezeichen hat Türk schon vorgeschlagen. Es kommt aber — und damit löse ich mein oben gegebenes Versprechen ein — lange vor Türk schon vor, und zwar bei PH. Rcimeau, dem großen französischen Zeitgenossen von Bach und Händel. Er bedient sich desselben in den Justrumentalstücken seiner Opern (nicht bloß gelegentlich) zur Abgrenzung der Perioden, des / für kleinere, des // für größere. Außerdem bezeichnet Ramean die logische Hauptnote der kleinen Melvdieabschnitte immer durch ein ein Zeichen, das in dem modernen mu¬ sikalischen Jnterpunktionsshstem wohl auch ganz gut zu verwenden wäre. Das Lesezeichen selbst, wie Riemann es genannt hat (französisch Auicis), eignet sich zu vielerlei Varianten durch kurze und lange, dünne und dicke Form, durch Anbringung von Häkchen :e. Es könnte mit ihm allein der ganze Phrasirnngs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/421>, abgerufen am 04.07.2024.