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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Takt nur den Wert des Ellenmaßes zugesteht, so bedeutet es auf der ander"
Seite den Anfang der Barbarei, wenn man den freien, lebendigen Fvrmen-
orgauismus eines Tonsatzes an allen Stellen mit dem starren Taltmnß decken
zu können meint. Dieser Verfall des musikalischen Formengefühls stand wirklich
bevor. Als ein starkes Symptom davon führen wir das Faktum um, daß in
einem vielgebrauchten theoretischen Lehrbuche vier Auflagen hindurch die heil¬
lose Definition zu lesen war: "Motiv ist der Fignreninhalt eines Taktes/'
Derartigem Verirrungen gegenüber zeigen neuere Theoretiker unter Führung
und Auregung des genialen und vielseitigen Metrikers N, Westphal eine
Verstimmung gegen die Taktantvrität, welcher man ein gesundes Element nicht
absprechen kann.

Die Bindebogen <>--die wir an zweiter Stelle als Mittel zur Ein¬
teilung von Tonrcihen angeführt haben, sind an sich zu dieser Aufgabe wohl
geeignet. Es liegt aber auch bei ihnen der Übelstand vor, daß sie nach lange
feststehender Tradition noch einem andern Zwecke dienen: der Bezeichnung eines
rein klavicrtechnischen Momentes, nämlich der sogenannten gebnndnen Spielart,
Ähnlich wie bei den Taktstrichen begegnen wir hier sehr hünfig der Erscheinung,
daß ein Legatobogen entweder eine Mehrzahl selbständiger Gednnleneinheiten
umfaßt oder aber, daß er sich nur über einen Teil einer solchen Gedanken-
einheit erstreckt.

Was unsre Touschrift außer Taktstrichen und Legatobogen noch an Mitteln
zur Bezeichnung des Satzbaues und des formalen Organismus enthält, ist
äußerst wenig. Neben der in ihrer Verwendung sehr beschränkten Fermate ist
hauptsächlich noch der Brauch anzuführen, im schnellen Figurenwerk (Achtel
und bewegteren Rhythmen) die Schlnßnvten selbständiger Motive aus dem ge¬
meinsamen Balken abzulösen und mit einem eignen zu versehen. Er erscheint
bei den Alten, namentlich bei Bach, sorgfältiger durchgeführt als bei de" Neuern,

Sobald man die Alten erwähnt hat, läßt sich der Frage nicht mehr aus¬
weichen : Wie kommt es, daß die hier nachgewiesene Lücke in der Tonschrift so
lange offen bleiben konnte?

Zum nicht geringen Teile kommt das daher, daß die Komponisten der
früheren Zeit, die des 18, Jahrhunderts und der zweiten Hälfte des 17,, ein
-- wie wir uns heute ausdrücken - musikalisch distinguirtes Publikum vor
Augen hatten. Die Kreise, für welche Händel und Bach ihre Suiten, Haydn
und Mozart ihre Sonaten schrieben, brauchten keine Angaben für die Phra-
sirung und kannten die Gesetze, nach welche" sich diese richtet, ans Grund einer ^
tieferen musikalischen Bildung, gerade wie sie noch heute jeder gute Musiker
von selber weiß. Indes muß aber doch auf den Zuwachs von Unmündigen,
welchen die klavierspielende Welt im 19. Jahrhundert erfahren hat. Rücksicht
genommen werden. Auch darf mau nicht übersehen, daß bei einigen neueren
Komponisten, Beethoven z, B, die Phrasiruug zuweilen doch nicht so einfach


Takt nur den Wert des Ellenmaßes zugesteht, so bedeutet es auf der ander»
Seite den Anfang der Barbarei, wenn man den freien, lebendigen Fvrmen-
orgauismus eines Tonsatzes an allen Stellen mit dem starren Taltmnß decken
zu können meint. Dieser Verfall des musikalischen Formengefühls stand wirklich
bevor. Als ein starkes Symptom davon führen wir das Faktum um, daß in
einem vielgebrauchten theoretischen Lehrbuche vier Auflagen hindurch die heil¬
lose Definition zu lesen war: „Motiv ist der Fignreninhalt eines Taktes/'
Derartigem Verirrungen gegenüber zeigen neuere Theoretiker unter Führung
und Auregung des genialen und vielseitigen Metrikers N, Westphal eine
Verstimmung gegen die Taktantvrität, welcher man ein gesundes Element nicht
absprechen kann.

Die Bindebogen <>—die wir an zweiter Stelle als Mittel zur Ein¬
teilung von Tonrcihen angeführt haben, sind an sich zu dieser Aufgabe wohl
geeignet. Es liegt aber auch bei ihnen der Übelstand vor, daß sie nach lange
feststehender Tradition noch einem andern Zwecke dienen: der Bezeichnung eines
rein klavicrtechnischen Momentes, nämlich der sogenannten gebnndnen Spielart,
Ähnlich wie bei den Taktstrichen begegnen wir hier sehr hünfig der Erscheinung,
daß ein Legatobogen entweder eine Mehrzahl selbständiger Gednnleneinheiten
umfaßt oder aber, daß er sich nur über einen Teil einer solchen Gedanken-
einheit erstreckt.

Was unsre Touschrift außer Taktstrichen und Legatobogen noch an Mitteln
zur Bezeichnung des Satzbaues und des formalen Organismus enthält, ist
äußerst wenig. Neben der in ihrer Verwendung sehr beschränkten Fermate ist
hauptsächlich noch der Brauch anzuführen, im schnellen Figurenwerk (Achtel
und bewegteren Rhythmen) die Schlnßnvten selbständiger Motive aus dem ge¬
meinsamen Balken abzulösen und mit einem eignen zu versehen. Er erscheint
bei den Alten, namentlich bei Bach, sorgfältiger durchgeführt als bei de» Neuern,

Sobald man die Alten erwähnt hat, läßt sich der Frage nicht mehr aus¬
weichen : Wie kommt es, daß die hier nachgewiesene Lücke in der Tonschrift so
lange offen bleiben konnte?

Zum nicht geringen Teile kommt das daher, daß die Komponisten der
früheren Zeit, die des 18, Jahrhunderts und der zweiten Hälfte des 17,, ein
— wie wir uns heute ausdrücken - musikalisch distinguirtes Publikum vor
Augen hatten. Die Kreise, für welche Händel und Bach ihre Suiten, Haydn
und Mozart ihre Sonaten schrieben, brauchten keine Angaben für die Phra-
sirung und kannten die Gesetze, nach welche» sich diese richtet, ans Grund einer ^
tieferen musikalischen Bildung, gerade wie sie noch heute jeder gute Musiker
von selber weiß. Indes muß aber doch auf den Zuwachs von Unmündigen,
welchen die klavierspielende Welt im 19. Jahrhundert erfahren hat. Rücksicht
genommen werden. Auch darf mau nicht übersehen, daß bei einigen neueren
Komponisten, Beethoven z, B, die Phrasiruug zuweilen doch nicht so einfach


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[0420] Takt nur den Wert des Ellenmaßes zugesteht, so bedeutet es auf der ander» Seite den Anfang der Barbarei, wenn man den freien, lebendigen Fvrmen- orgauismus eines Tonsatzes an allen Stellen mit dem starren Taltmnß decken zu können meint. Dieser Verfall des musikalischen Formengefühls stand wirklich bevor. Als ein starkes Symptom davon führen wir das Faktum um, daß in einem vielgebrauchten theoretischen Lehrbuche vier Auflagen hindurch die heil¬ lose Definition zu lesen war: „Motiv ist der Fignreninhalt eines Taktes/' Derartigem Verirrungen gegenüber zeigen neuere Theoretiker unter Führung und Auregung des genialen und vielseitigen Metrikers N, Westphal eine Verstimmung gegen die Taktantvrität, welcher man ein gesundes Element nicht absprechen kann. Die Bindebogen <>—die wir an zweiter Stelle als Mittel zur Ein¬ teilung von Tonrcihen angeführt haben, sind an sich zu dieser Aufgabe wohl geeignet. Es liegt aber auch bei ihnen der Übelstand vor, daß sie nach lange feststehender Tradition noch einem andern Zwecke dienen: der Bezeichnung eines rein klavicrtechnischen Momentes, nämlich der sogenannten gebnndnen Spielart, Ähnlich wie bei den Taktstrichen begegnen wir hier sehr hünfig der Erscheinung, daß ein Legatobogen entweder eine Mehrzahl selbständiger Gednnleneinheiten umfaßt oder aber, daß er sich nur über einen Teil einer solchen Gedanken- einheit erstreckt. Was unsre Touschrift außer Taktstrichen und Legatobogen noch an Mitteln zur Bezeichnung des Satzbaues und des formalen Organismus enthält, ist äußerst wenig. Neben der in ihrer Verwendung sehr beschränkten Fermate ist hauptsächlich noch der Brauch anzuführen, im schnellen Figurenwerk (Achtel und bewegteren Rhythmen) die Schlnßnvten selbständiger Motive aus dem ge¬ meinsamen Balken abzulösen und mit einem eignen zu versehen. Er erscheint bei den Alten, namentlich bei Bach, sorgfältiger durchgeführt als bei de» Neuern, Sobald man die Alten erwähnt hat, läßt sich der Frage nicht mehr aus¬ weichen : Wie kommt es, daß die hier nachgewiesene Lücke in der Tonschrift so lange offen bleiben konnte? Zum nicht geringen Teile kommt das daher, daß die Komponisten der früheren Zeit, die des 18, Jahrhunderts und der zweiten Hälfte des 17,, ein — wie wir uns heute ausdrücken - musikalisch distinguirtes Publikum vor Augen hatten. Die Kreise, für welche Händel und Bach ihre Suiten, Haydn und Mozart ihre Sonaten schrieben, brauchten keine Angaben für die Phra- sirung und kannten die Gesetze, nach welche» sich diese richtet, ans Grund einer ^ tieferen musikalischen Bildung, gerade wie sie noch heute jeder gute Musiker von selber weiß. Indes muß aber doch auf den Zuwachs von Unmündigen, welchen die klavierspielende Welt im 19. Jahrhundert erfahren hat. Rücksicht genommen werden. Auch darf mau nicht übersehen, daß bei einigen neueren Komponisten, Beethoven z, B, die Phrasiruug zuweilen doch nicht so einfach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/420>, abgerufen am 02.07.2024.