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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Musikalische Phrasirung.

Was der Herausgeber mit der Bezeichnung "Phrasirungsausgabe" meint
und bietet, werden alle diejenigen ahnen, welche so glücklich gewesen sind, ihren
Klavierunterricht durch einen gründlich gebildeten Musiker zu erhalten. Unter
"Phrasiruug" versteht mau die Kunst des Vortrags in Rücksicht auf die gram¬
matischen und formellen Verhältnisse eines Tonwerth. Die Phrasirnng ist das¬
selbe in der Musik, was die richtige Deklamation in der Rhetorik, Ein Musik¬
stück einfach richtig zu deklamiren ist aber deshalb ungleich schwieriger, weil
der Apparat der Interpunktionen in der Tonschrift sich in einem sehr unent¬
wickelten und mangelhaften Zustande befindet. Wir lesen aus deu Noten ganz
sicher die Höhe und Tiefe der Töne, auch das Wesentlichste über ihre Kürze
und Länge, aber äußerst wenig über ihre Sahstellung, In einem englischen,
französischen, italienischen Vnche kann jeder, auch wer der betreffenden Sprache
unkundig ist, sehen, wo ein Gedanke anfängt und wo er schließt. Die Punkte
zeige" es ihm, und auch über die Grenzen untergeordneter Redeteile erhält er
durch Kommata und andre Schriftzeichen Auskunft, Anders in der Musik,
Die bescheidne Fähigkeit, einen Tonsatz richtig ableiten zu können, setzt eine
weitgedieheue allgemeine Fachbildung, in vielen Fällen sogar Vertrautheit mit
dem speziellen Stücke voraus, und das Malheur, daß ein Tongcdanke verdreht
und ganz falsch verstanden wird, passirt ziemlich häufig, und nicht bloß Schülern,
Ja anch die Fälle, wo selbst fertige Meister über die formelle Interpretation
einer Reihe von Noten uneinig find, gehören nicht zu den Seltenheiten, und
als höchste Stufe der Verwirrung steht die Thatsache vor uns, daß zuweilen
auch gründlich gebildete und bedeutende Komponisten ihre eignen Gedanken
falsch aufgeschrieben haben. Außerdem giebt es noch eine vollständige und
zahlreiche Klasse bernfsmüßiger Musiker: Orchesterspieler und Klavierlehrer, in
keiner oder nur schlechter Schule gebildet, denen Begriff, Wesen und Notwendig¬
keit der Phrasiruug überhaupt gänzlich fremd ist.

Man könnte versucht sein, das Bild dieses Notstandes drastisch auszuführen.
Indes sind mildernde Umstände von Belang vorhanden. Sie liegen eben in
dem Mangel ausreichender musikalischer Interpunktionszeichen.

Zur Abteilung und Gruppirung von Tonreihen haben wir in der Haupt¬
sache nur zwei schriftliche Mittel: die Taktstriche und die sogenannten Binde¬
bogen. Was die Taktstriche betrifft, so sind diese von Hans aus mir Organe
einer arithmetischen Ordnung der Töne. Sie zerlegen eine längere Tvnkctte in
kleinere Abschnitte von gleicher Quantität, Aber die Taktgrnppen entsprechen
durchaus nicht immer, nicht einmal in der Mehrzahl der Fälle den logischen
Abschnitten. Die Glieder ein und desselben Taktes gehören sehr oft zwei, ja mehr
verschiednen Ideen an, und andrerseits bildet zuweilen der Inhalt eines voll¬
ständigen Taktes nur einen unselbständigen, für sich allein nnverstündlichen Teil
eines Satzgliedes. Man hat darnach allen Grund, die Bedeutung der Tcckt-
einteilnng nicht zu überschätzen. Ist es auch zuviel gesagt, wenn man dem


Grenzboten I. 1884. W
Musikalische Phrasirung.

Was der Herausgeber mit der Bezeichnung „Phrasirungsausgabe" meint
und bietet, werden alle diejenigen ahnen, welche so glücklich gewesen sind, ihren
Klavierunterricht durch einen gründlich gebildeten Musiker zu erhalten. Unter
„Phrasiruug" versteht mau die Kunst des Vortrags in Rücksicht auf die gram¬
matischen und formellen Verhältnisse eines Tonwerth. Die Phrasirnng ist das¬
selbe in der Musik, was die richtige Deklamation in der Rhetorik, Ein Musik¬
stück einfach richtig zu deklamiren ist aber deshalb ungleich schwieriger, weil
der Apparat der Interpunktionen in der Tonschrift sich in einem sehr unent¬
wickelten und mangelhaften Zustande befindet. Wir lesen aus deu Noten ganz
sicher die Höhe und Tiefe der Töne, auch das Wesentlichste über ihre Kürze
und Länge, aber äußerst wenig über ihre Sahstellung, In einem englischen,
französischen, italienischen Vnche kann jeder, auch wer der betreffenden Sprache
unkundig ist, sehen, wo ein Gedanke anfängt und wo er schließt. Die Punkte
zeige» es ihm, und auch über die Grenzen untergeordneter Redeteile erhält er
durch Kommata und andre Schriftzeichen Auskunft, Anders in der Musik,
Die bescheidne Fähigkeit, einen Tonsatz richtig ableiten zu können, setzt eine
weitgedieheue allgemeine Fachbildung, in vielen Fällen sogar Vertrautheit mit
dem speziellen Stücke voraus, und das Malheur, daß ein Tongcdanke verdreht
und ganz falsch verstanden wird, passirt ziemlich häufig, und nicht bloß Schülern,
Ja anch die Fälle, wo selbst fertige Meister über die formelle Interpretation
einer Reihe von Noten uneinig find, gehören nicht zu den Seltenheiten, und
als höchste Stufe der Verwirrung steht die Thatsache vor uns, daß zuweilen
auch gründlich gebildete und bedeutende Komponisten ihre eignen Gedanken
falsch aufgeschrieben haben. Außerdem giebt es noch eine vollständige und
zahlreiche Klasse bernfsmüßiger Musiker: Orchesterspieler und Klavierlehrer, in
keiner oder nur schlechter Schule gebildet, denen Begriff, Wesen und Notwendig¬
keit der Phrasiruug überhaupt gänzlich fremd ist.

Man könnte versucht sein, das Bild dieses Notstandes drastisch auszuführen.
Indes sind mildernde Umstände von Belang vorhanden. Sie liegen eben in
dem Mangel ausreichender musikalischer Interpunktionszeichen.

Zur Abteilung und Gruppirung von Tonreihen haben wir in der Haupt¬
sache nur zwei schriftliche Mittel: die Taktstriche und die sogenannten Binde¬
bogen. Was die Taktstriche betrifft, so sind diese von Hans aus mir Organe
einer arithmetischen Ordnung der Töne. Sie zerlegen eine längere Tvnkctte in
kleinere Abschnitte von gleicher Quantität, Aber die Taktgrnppen entsprechen
durchaus nicht immer, nicht einmal in der Mehrzahl der Fälle den logischen
Abschnitten. Die Glieder ein und desselben Taktes gehören sehr oft zwei, ja mehr
verschiednen Ideen an, und andrerseits bildet zuweilen der Inhalt eines voll¬
ständigen Taktes nur einen unselbständigen, für sich allein nnverstündlichen Teil
eines Satzgliedes. Man hat darnach allen Grund, die Bedeutung der Tcckt-
einteilnng nicht zu überschätzen. Ist es auch zuviel gesagt, wenn man dem


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[0419] Musikalische Phrasirung. Was der Herausgeber mit der Bezeichnung „Phrasirungsausgabe" meint und bietet, werden alle diejenigen ahnen, welche so glücklich gewesen sind, ihren Klavierunterricht durch einen gründlich gebildeten Musiker zu erhalten. Unter „Phrasiruug" versteht mau die Kunst des Vortrags in Rücksicht auf die gram¬ matischen und formellen Verhältnisse eines Tonwerth. Die Phrasirnng ist das¬ selbe in der Musik, was die richtige Deklamation in der Rhetorik, Ein Musik¬ stück einfach richtig zu deklamiren ist aber deshalb ungleich schwieriger, weil der Apparat der Interpunktionen in der Tonschrift sich in einem sehr unent¬ wickelten und mangelhaften Zustande befindet. Wir lesen aus deu Noten ganz sicher die Höhe und Tiefe der Töne, auch das Wesentlichste über ihre Kürze und Länge, aber äußerst wenig über ihre Sahstellung, In einem englischen, französischen, italienischen Vnche kann jeder, auch wer der betreffenden Sprache unkundig ist, sehen, wo ein Gedanke anfängt und wo er schließt. Die Punkte zeige» es ihm, und auch über die Grenzen untergeordneter Redeteile erhält er durch Kommata und andre Schriftzeichen Auskunft, Anders in der Musik, Die bescheidne Fähigkeit, einen Tonsatz richtig ableiten zu können, setzt eine weitgedieheue allgemeine Fachbildung, in vielen Fällen sogar Vertrautheit mit dem speziellen Stücke voraus, und das Malheur, daß ein Tongcdanke verdreht und ganz falsch verstanden wird, passirt ziemlich häufig, und nicht bloß Schülern, Ja anch die Fälle, wo selbst fertige Meister über die formelle Interpretation einer Reihe von Noten uneinig find, gehören nicht zu den Seltenheiten, und als höchste Stufe der Verwirrung steht die Thatsache vor uns, daß zuweilen auch gründlich gebildete und bedeutende Komponisten ihre eignen Gedanken falsch aufgeschrieben haben. Außerdem giebt es noch eine vollständige und zahlreiche Klasse bernfsmüßiger Musiker: Orchesterspieler und Klavierlehrer, in keiner oder nur schlechter Schule gebildet, denen Begriff, Wesen und Notwendig¬ keit der Phrasiruug überhaupt gänzlich fremd ist. Man könnte versucht sein, das Bild dieses Notstandes drastisch auszuführen. Indes sind mildernde Umstände von Belang vorhanden. Sie liegen eben in dem Mangel ausreichender musikalischer Interpunktionszeichen. Zur Abteilung und Gruppirung von Tonreihen haben wir in der Haupt¬ sache nur zwei schriftliche Mittel: die Taktstriche und die sogenannten Binde¬ bogen. Was die Taktstriche betrifft, so sind diese von Hans aus mir Organe einer arithmetischen Ordnung der Töne. Sie zerlegen eine längere Tvnkctte in kleinere Abschnitte von gleicher Quantität, Aber die Taktgrnppen entsprechen durchaus nicht immer, nicht einmal in der Mehrzahl der Fälle den logischen Abschnitten. Die Glieder ein und desselben Taktes gehören sehr oft zwei, ja mehr verschiednen Ideen an, und andrerseits bildet zuweilen der Inhalt eines voll¬ ständigen Taktes nur einen unselbständigen, für sich allein nnverstündlichen Teil eines Satzgliedes. Man hat darnach allen Grund, die Bedeutung der Tcckt- einteilnng nicht zu überschätzen. Ist es auch zuviel gesagt, wenn man dem Grenzboten I. 1884. W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/419>, abgerufen am 30.06.2024.