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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Sie niederländische Genre- und kandschafts Malerei.

Mit diesem Namen verliert sich bald nach der Mitte des 16. Jahrhunderts
die Geschichte der niederländischen Landschaftsmalerei wieder in das Dunkel. Sie
nahm erst, wie wir später sehen werden, einen neuen Aufschwung dnrch den Einfluß
Italiens. Neben den ersten Landschaftsmalern Patinir nud Herri met de Vieh
stehen am Anfange des Jahrhunderts aber auch die ersten Meister, von welchen
uns wirkliche Genrebilder im modernen Sinne erhalten sind, Quinten Massijs
und Lukas von Leyden. Der Name des erstern als Genremaler ist an jene
schon erwähnten Goldwüger- oder Wechslerbilder geknüpft, von denen sich ein
mit seinem Namen und der Jahreszahl 1518 oder 1519 bezeichnetes im Louvre
befindet, während andre Museen Wiederholungen und Variationen dieses Themas
besitzen, welche auf seinen Sohn, Jan Massijs (1510--1575), zurückgeführt
werden. Das Bild im Louvre führt uns in die schon geschilderte Stube des
Wechslers, welcher hinter seinem Ladentische sitzt und Dukaten abzählt und
wiegt. Seine Frau, welche in einem Gebetbuchs gelesen hat, unterbricht diese
Beschäftigung, weil die Handlung des Mannes sie mehr interessirt. Ihre Augen
leuchten vor Vergnügen, während der Mann beim Zählen seine Lippen zu be¬
wegen scheint und keinen Blick von seinen Schätzen abwendet. Alles ist auf
diesem Bilde im Sinne des Realismus bereits zu höchster Virtuosität aus¬
gebildet: neben dem ausdrucksvollen Mienenspiel die im wesentlichen richtigen
Körperverhältnisse, die perspektivische Vertiefung des Raums, die sorgsame
Wiedergabe der Tracht, der Kopfbedeckung, Pelzkragen und Tuchgewäuder, wil¬
des Geräth, die leuchtenden, emailartig vertriebenen Farben, daß man keinen
Strich des Pinsels bemerken kann, die gleichmäßige Verteilung des Lichts. Das
Helldunkel und alle feineren koloristischen Experimente waren diesem Maler noch
unbekannt, weil er die Natur noch mit völlig naiven Augen ansah. Seite Ver¬
hältnis zu derselbe" war ein so außerordentlich inniges, daß er kaum einen
Gegenstand malte, welchen er nicht im Modell vor sich hatte. Das interessanteste,
in der Kunstgeschichte vielleicht einzig dastehende Beispiel dafür bietet der Flügel
eines im Brüsseler Museum befindlichen Altarbildes, auf welchem die heilige
Anna dargestellt ist, welche dem Hohenpriester im Tempel ihre Opfergaben dar¬
bringt. Neben dem Hohenpriester steht ein Mann, welcher aus einem Perga¬
mente etwas vorliest. Die ersten Zeilen dieser Urkunde sind noch lesbar, und sie
kommen wörtlich überein mit einem noch erhaltenen Dokumente, in welchem die
Vormünder der Kinder des Meisters -- seine Frau war gestorben und hatte
ihm nur den Nießbrauch ihres Vermögens gelassen -- erklären, daß Quintin
Massijs thuen Rechenschaft über das den Kindern zustehende Vermögen der
Verstorbenen abgelegt habe. Dieses Dokument hat der Maler also auf dem
Flügel des Altarbildes zum Teil getreulich reprvduzirt.

Von einem zweiten Genrebilde des Antwerpener Meisters sind uus nur
spätere Nachbildungen in verschiedenen Sammlungen, in Windsorcastle, in
Berlin, in München, in Petersburg, in Antwerpen, erhalten. Auch dieses


Sie niederländische Genre- und kandschafts Malerei.

Mit diesem Namen verliert sich bald nach der Mitte des 16. Jahrhunderts
die Geschichte der niederländischen Landschaftsmalerei wieder in das Dunkel. Sie
nahm erst, wie wir später sehen werden, einen neuen Aufschwung dnrch den Einfluß
Italiens. Neben den ersten Landschaftsmalern Patinir nud Herri met de Vieh
stehen am Anfange des Jahrhunderts aber auch die ersten Meister, von welchen
uns wirkliche Genrebilder im modernen Sinne erhalten sind, Quinten Massijs
und Lukas von Leyden. Der Name des erstern als Genremaler ist an jene
schon erwähnten Goldwüger- oder Wechslerbilder geknüpft, von denen sich ein
mit seinem Namen und der Jahreszahl 1518 oder 1519 bezeichnetes im Louvre
befindet, während andre Museen Wiederholungen und Variationen dieses Themas
besitzen, welche auf seinen Sohn, Jan Massijs (1510—1575), zurückgeführt
werden. Das Bild im Louvre führt uns in die schon geschilderte Stube des
Wechslers, welcher hinter seinem Ladentische sitzt und Dukaten abzählt und
wiegt. Seine Frau, welche in einem Gebetbuchs gelesen hat, unterbricht diese
Beschäftigung, weil die Handlung des Mannes sie mehr interessirt. Ihre Augen
leuchten vor Vergnügen, während der Mann beim Zählen seine Lippen zu be¬
wegen scheint und keinen Blick von seinen Schätzen abwendet. Alles ist auf
diesem Bilde im Sinne des Realismus bereits zu höchster Virtuosität aus¬
gebildet: neben dem ausdrucksvollen Mienenspiel die im wesentlichen richtigen
Körperverhältnisse, die perspektivische Vertiefung des Raums, die sorgsame
Wiedergabe der Tracht, der Kopfbedeckung, Pelzkragen und Tuchgewäuder, wil¬
des Geräth, die leuchtenden, emailartig vertriebenen Farben, daß man keinen
Strich des Pinsels bemerken kann, die gleichmäßige Verteilung des Lichts. Das
Helldunkel und alle feineren koloristischen Experimente waren diesem Maler noch
unbekannt, weil er die Natur noch mit völlig naiven Augen ansah. Seite Ver¬
hältnis zu derselbe» war ein so außerordentlich inniges, daß er kaum einen
Gegenstand malte, welchen er nicht im Modell vor sich hatte. Das interessanteste,
in der Kunstgeschichte vielleicht einzig dastehende Beispiel dafür bietet der Flügel
eines im Brüsseler Museum befindlichen Altarbildes, auf welchem die heilige
Anna dargestellt ist, welche dem Hohenpriester im Tempel ihre Opfergaben dar¬
bringt. Neben dem Hohenpriester steht ein Mann, welcher aus einem Perga¬
mente etwas vorliest. Die ersten Zeilen dieser Urkunde sind noch lesbar, und sie
kommen wörtlich überein mit einem noch erhaltenen Dokumente, in welchem die
Vormünder der Kinder des Meisters — seine Frau war gestorben und hatte
ihm nur den Nießbrauch ihres Vermögens gelassen — erklären, daß Quintin
Massijs thuen Rechenschaft über das den Kindern zustehende Vermögen der
Verstorbenen abgelegt habe. Dieses Dokument hat der Maler also auf dem
Flügel des Altarbildes zum Teil getreulich reprvduzirt.

Von einem zweiten Genrebilde des Antwerpener Meisters sind uus nur
spätere Nachbildungen in verschiedenen Sammlungen, in Windsorcastle, in
Berlin, in München, in Petersburg, in Antwerpen, erhalten. Auch dieses


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[0414] Sie niederländische Genre- und kandschafts Malerei. Mit diesem Namen verliert sich bald nach der Mitte des 16. Jahrhunderts die Geschichte der niederländischen Landschaftsmalerei wieder in das Dunkel. Sie nahm erst, wie wir später sehen werden, einen neuen Aufschwung dnrch den Einfluß Italiens. Neben den ersten Landschaftsmalern Patinir nud Herri met de Vieh stehen am Anfange des Jahrhunderts aber auch die ersten Meister, von welchen uns wirkliche Genrebilder im modernen Sinne erhalten sind, Quinten Massijs und Lukas von Leyden. Der Name des erstern als Genremaler ist an jene schon erwähnten Goldwüger- oder Wechslerbilder geknüpft, von denen sich ein mit seinem Namen und der Jahreszahl 1518 oder 1519 bezeichnetes im Louvre befindet, während andre Museen Wiederholungen und Variationen dieses Themas besitzen, welche auf seinen Sohn, Jan Massijs (1510—1575), zurückgeführt werden. Das Bild im Louvre führt uns in die schon geschilderte Stube des Wechslers, welcher hinter seinem Ladentische sitzt und Dukaten abzählt und wiegt. Seine Frau, welche in einem Gebetbuchs gelesen hat, unterbricht diese Beschäftigung, weil die Handlung des Mannes sie mehr interessirt. Ihre Augen leuchten vor Vergnügen, während der Mann beim Zählen seine Lippen zu be¬ wegen scheint und keinen Blick von seinen Schätzen abwendet. Alles ist auf diesem Bilde im Sinne des Realismus bereits zu höchster Virtuosität aus¬ gebildet: neben dem ausdrucksvollen Mienenspiel die im wesentlichen richtigen Körperverhältnisse, die perspektivische Vertiefung des Raums, die sorgsame Wiedergabe der Tracht, der Kopfbedeckung, Pelzkragen und Tuchgewäuder, wil¬ des Geräth, die leuchtenden, emailartig vertriebenen Farben, daß man keinen Strich des Pinsels bemerken kann, die gleichmäßige Verteilung des Lichts. Das Helldunkel und alle feineren koloristischen Experimente waren diesem Maler noch unbekannt, weil er die Natur noch mit völlig naiven Augen ansah. Seite Ver¬ hältnis zu derselbe» war ein so außerordentlich inniges, daß er kaum einen Gegenstand malte, welchen er nicht im Modell vor sich hatte. Das interessanteste, in der Kunstgeschichte vielleicht einzig dastehende Beispiel dafür bietet der Flügel eines im Brüsseler Museum befindlichen Altarbildes, auf welchem die heilige Anna dargestellt ist, welche dem Hohenpriester im Tempel ihre Opfergaben dar¬ bringt. Neben dem Hohenpriester steht ein Mann, welcher aus einem Perga¬ mente etwas vorliest. Die ersten Zeilen dieser Urkunde sind noch lesbar, und sie kommen wörtlich überein mit einem noch erhaltenen Dokumente, in welchem die Vormünder der Kinder des Meisters — seine Frau war gestorben und hatte ihm nur den Nießbrauch ihres Vermögens gelassen — erklären, daß Quintin Massijs thuen Rechenschaft über das den Kindern zustehende Vermögen der Verstorbenen abgelegt habe. Dieses Dokument hat der Maler also auf dem Flügel des Altarbildes zum Teil getreulich reprvduzirt. Von einem zweiten Genrebilde des Antwerpener Meisters sind uus nur spätere Nachbildungen in verschiedenen Sammlungen, in Windsorcastle, in Berlin, in München, in Petersburg, in Antwerpen, erhalten. Auch dieses

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/414>, abgerufen am 24.07.2024.