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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Natur und Kultur.

Farben weiter auszuführen, und gestehen lieber ein, daß, wie schon früher, so
auch in der Zukunft schwerlich wcltcrschüttcrude Krise" ausbleiben werden, welche
den Bau und den Zusammenhang der Gesellschaft zu zersprengen drohen, daß
schwächliche Gemüter, mit sich und ihrer Umgebung zerfallen, gleichsam aus Ekel
vor sich selbst die ganze Kultur, die sie gehöre", zu verfluchen und sich einem
wilden Naturalismus in die Arme zu werfen bereit sind. Sollte das aber der
Weisheit letzter Schluß sein? Wir glauben nicht, und zwar möchte" wir uns
erkühne", diese Verneinung ans einem einfache" Rückblick auf unsre Betrachtung
zu rechtfertigen. Schlossen wir uns zuerst der gewöhnlichen Kontrastiruug von
Natur und Kultur an, so zeigte sich bald, wie mit wachsender Entwicklung diese
scheinbar polaren Gegensätze sich näherten, wie also die Deutung der Natur
und ihrer Erscheinungen genau bedingt war durch das geistige Niveau des
Mensche" selbst, und andrerseits stellte sich die Kultur als der konkrete Nieder-
schlag dieser Naturauffassung dar. Dem kundigen Auge wurden die verborgenen
Beziehungen klar, welche beide Welten miteinander vereinigen, und der Wissen
schaft gelang es bald, aus unscheinbaren, häufig misMrstandcnc>i'>.NMneu
früherer Entwicklungsstudien die ganze Kette der Zwischenglieder aufzufinden,
welche die tiefe Kluft zwischen den beide" Endpunkten dieses Prozesses ausfüllten.
Ist nun dieser Vorgang, wie doch unleugbar, ein aufwärtssteigender, so enthält
diese Vergeistigung des Materielle" eine unendliche Tragweite in kosmischer Be¬
ziehung; denn in dieser Genesis ist die Entwicklung des sich selbst findenden
und das Universum in sich umspannenden Bewußtseins im Menschen gegeben.
Die Morphologie und Struktur des menschlichen Geistes ist empirisch i" dieser
seiner eigenen Geschichte dargelegt, und es kommt nur auf den Wissenden an,
ob er die vielfach noch dunkeln Hieroglyphen zu deute" versteht. Daß aber
endlich diese Idealisirung des Seiende", diese psychische Dnrchdring""g des
Körperlichen, und sei es selbst dnrch Red"zirung der Erscheinungen ans mathe¬
matische Formeln, die Schwingen der Phantasie nicht lahmt und Sinn und
Wert des Geschehenen nur in einer sogenannte" Mechanik der Atome suche"
läßt, dafür können wir unbekümmerten Herzens die Dichter sorge" lasse".




Natur und Kultur.

Farben weiter auszuführen, und gestehen lieber ein, daß, wie schon früher, so
auch in der Zukunft schwerlich wcltcrschüttcrude Krise» ausbleiben werden, welche
den Bau und den Zusammenhang der Gesellschaft zu zersprengen drohen, daß
schwächliche Gemüter, mit sich und ihrer Umgebung zerfallen, gleichsam aus Ekel
vor sich selbst die ganze Kultur, die sie gehöre», zu verfluchen und sich einem
wilden Naturalismus in die Arme zu werfen bereit sind. Sollte das aber der
Weisheit letzter Schluß sein? Wir glauben nicht, und zwar möchte» wir uns
erkühne», diese Verneinung ans einem einfache» Rückblick auf unsre Betrachtung
zu rechtfertigen. Schlossen wir uns zuerst der gewöhnlichen Kontrastiruug von
Natur und Kultur an, so zeigte sich bald, wie mit wachsender Entwicklung diese
scheinbar polaren Gegensätze sich näherten, wie also die Deutung der Natur
und ihrer Erscheinungen genau bedingt war durch das geistige Niveau des
Mensche» selbst, und andrerseits stellte sich die Kultur als der konkrete Nieder-
schlag dieser Naturauffassung dar. Dem kundigen Auge wurden die verborgenen
Beziehungen klar, welche beide Welten miteinander vereinigen, und der Wissen
schaft gelang es bald, aus unscheinbaren, häufig misMrstandcnc>i'>.NMneu
früherer Entwicklungsstudien die ganze Kette der Zwischenglieder aufzufinden,
welche die tiefe Kluft zwischen den beide» Endpunkten dieses Prozesses ausfüllten.
Ist nun dieser Vorgang, wie doch unleugbar, ein aufwärtssteigender, so enthält
diese Vergeistigung des Materielle» eine unendliche Tragweite in kosmischer Be¬
ziehung; denn in dieser Genesis ist die Entwicklung des sich selbst findenden
und das Universum in sich umspannenden Bewußtseins im Menschen gegeben.
Die Morphologie und Struktur des menschlichen Geistes ist empirisch i» dieser
seiner eigenen Geschichte dargelegt, und es kommt nur auf den Wissenden an,
ob er die vielfach noch dunkeln Hieroglyphen zu deute» versteht. Daß aber
endlich diese Idealisirung des Seiende», diese psychische Dnrchdring»»g des
Körperlichen, und sei es selbst dnrch Red»zirung der Erscheinungen ans mathe¬
matische Formeln, die Schwingen der Phantasie nicht lahmt und Sinn und
Wert des Geschehenen nur in einer sogenannte» Mechanik der Atome suche»
läßt, dafür können wir unbekümmerten Herzens die Dichter sorge» lasse».




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[0396] Natur und Kultur. Farben weiter auszuführen, und gestehen lieber ein, daß, wie schon früher, so auch in der Zukunft schwerlich wcltcrschüttcrude Krise» ausbleiben werden, welche den Bau und den Zusammenhang der Gesellschaft zu zersprengen drohen, daß schwächliche Gemüter, mit sich und ihrer Umgebung zerfallen, gleichsam aus Ekel vor sich selbst die ganze Kultur, die sie gehöre», zu verfluchen und sich einem wilden Naturalismus in die Arme zu werfen bereit sind. Sollte das aber der Weisheit letzter Schluß sein? Wir glauben nicht, und zwar möchte» wir uns erkühne», diese Verneinung ans einem einfache» Rückblick auf unsre Betrachtung zu rechtfertigen. Schlossen wir uns zuerst der gewöhnlichen Kontrastiruug von Natur und Kultur an, so zeigte sich bald, wie mit wachsender Entwicklung diese scheinbar polaren Gegensätze sich näherten, wie also die Deutung der Natur und ihrer Erscheinungen genau bedingt war durch das geistige Niveau des Mensche» selbst, und andrerseits stellte sich die Kultur als der konkrete Nieder- schlag dieser Naturauffassung dar. Dem kundigen Auge wurden die verborgenen Beziehungen klar, welche beide Welten miteinander vereinigen, und der Wissen schaft gelang es bald, aus unscheinbaren, häufig misMrstandcnc>i'>.NMneu früherer Entwicklungsstudien die ganze Kette der Zwischenglieder aufzufinden, welche die tiefe Kluft zwischen den beide» Endpunkten dieses Prozesses ausfüllten. Ist nun dieser Vorgang, wie doch unleugbar, ein aufwärtssteigender, so enthält diese Vergeistigung des Materielle» eine unendliche Tragweite in kosmischer Be¬ ziehung; denn in dieser Genesis ist die Entwicklung des sich selbst findenden und das Universum in sich umspannenden Bewußtseins im Menschen gegeben. Die Morphologie und Struktur des menschlichen Geistes ist empirisch i» dieser seiner eigenen Geschichte dargelegt, und es kommt nur auf den Wissenden an, ob er die vielfach noch dunkeln Hieroglyphen zu deute» versteht. Daß aber endlich diese Idealisirung des Seiende», diese psychische Dnrchdring»»g des Körperlichen, und sei es selbst dnrch Red»zirung der Erscheinungen ans mathe¬ matische Formeln, die Schwingen der Phantasie nicht lahmt und Sinn und Wert des Geschehenen nur in einer sogenannte» Mechanik der Atome suche» läßt, dafür können wir unbekümmerten Herzens die Dichter sorge» lasse».

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/396>, abgerufen am 23.07.2024.