Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Natur und Kultur.

das letzte erreichbare Ideal der Sittlichkeit zu betrachten. Gerade aber diese
Umwälzung der Ideen, die Fülle von Konflikten und Rätseln, welche der antiken
Welt erspart blieb, die Vertiefung unsers Ichs zu einem weltumspannenden
Makrokosmos und andrerseits die Anerkennung unerschütterlicher kosmischer Ge¬
setze (ein Gedanke wesentlich modernen Inhalts) bildet den spezifischen Charakter
unsrer nicht mehr völlig einfachen, nicht von Zweifeln unberührten, sondern vielfach
skeptisch durchlöcherten, dennoch aber sittlich erhabnen Weltanschauung. Liegen
nun diese Gründe rein objektiver Natur vor, so versteht es sich fast von selbst,
daß alle die Geister niedern Ranges, die an und in sich selbst den Halt ver¬
loren haben, mit einer gewissen Schwärmerei sich den Eindrücken der großen
elementaren Erscheinungen rücksichtslos überlassen, sei es um so einen gewissen
Ausgleich für ihre eigue Zerfahrenheit zu finden, sei es (was nicht minder häufig)
um in jene Vorgänge mit peinlicher Genauigkeit alle ihre eignen Erregungen
""d Spannungen hincinzndichten. Wie gesagt, gerade diese kränkliche Stimmung
der Mondscheinlandschaft, diese ungesunde Verzärtelung der Gefühle, die schließlich
auf e^,n ziemlich öden Kultus des lieben Ich hinauslief, florirte besonders
üppig in der Mitte und am Ende des vorigen Jahrhunderts; es ist daher be¬
greiflich, daß Schiller der Sentimentalität xar x^o^ den Krieg erklärte.

Mittlerweile sind wiederum zwei volle Menschenalter vergangen. Der gei¬
stige Horizont hat sich unendlich erweitert und damit auch im einzelnen ver¬
dichtet; namentlich die Naturwissenschaft hat mit ihren Hilfsdisziplinen die Auf¬
fassung der Natur berichtigt und geklärt, Kräfte entdeckt, von denen die frühern
Zeiten nichts wußten, und Wege gezeigt, auf denen sie sich dem Geheimnis des
Lebens zu nähern hofft. Mit ihr im Bunde ist es der vergleichenden Mytho¬
logie gelungen, die scheinbar regellose und phantastische Welt der mythischen
Gestalten, früherer Betrachtung höchstens anmutige Initialen einer beginnenden
Kultur, als gesetzmüßige Produkte eines großartigen Naturkultus nachzuweisen,
der, vielfach unsrer Empfindung anstößig und roh, dennoch die ungebrochene
Einheit des plastischen Naturmenschen mit lapidaren Zügen uns veranschaulicht.
Immer mehr wird das Gebiet der Natur eingeschränkt und umgestaltet durch
die alles nivellirende Kultur; jeder moderne Mensch durchfliegt in seinen Kinder¬
jahren die Jahrhunderte niederer Gesittung, welche vor ihm die Menschheit
bot zwar durchaus nicht immer in ununterbrochenem Fortschritt) durchmaß, er
wird widerstandslos in das ganze weitverzweigte Gewebe der Zivilisation hinein¬
geboren, die ihn trügt und nährt wie die Physische Atmosphäre, und jeder,
ausnahmslos, nimmt bewußt oder unbewußt an dieser Vernichtung der Natur
einen abgestuften Anteil; alle Fortschritte, seien sie intellektuell oder moralisch,
bezeugen den unaufhaltsamen Sieg dieser wundersamen Macht über den in der
Urzeit allmächtigen Gegner, ja selbst physiologisch ist der Mensch im Laufe
dieses Prozesses ein andrer geworden. Welche Perspektive eröffnet sich dem er¬
schreckten Blick? Wir verzichten gern darauf, diese Schilderung in düstern


GrenMm I. t884. 49
Natur und Kultur.

das letzte erreichbare Ideal der Sittlichkeit zu betrachten. Gerade aber diese
Umwälzung der Ideen, die Fülle von Konflikten und Rätseln, welche der antiken
Welt erspart blieb, die Vertiefung unsers Ichs zu einem weltumspannenden
Makrokosmos und andrerseits die Anerkennung unerschütterlicher kosmischer Ge¬
setze (ein Gedanke wesentlich modernen Inhalts) bildet den spezifischen Charakter
unsrer nicht mehr völlig einfachen, nicht von Zweifeln unberührten, sondern vielfach
skeptisch durchlöcherten, dennoch aber sittlich erhabnen Weltanschauung. Liegen
nun diese Gründe rein objektiver Natur vor, so versteht es sich fast von selbst,
daß alle die Geister niedern Ranges, die an und in sich selbst den Halt ver¬
loren haben, mit einer gewissen Schwärmerei sich den Eindrücken der großen
elementaren Erscheinungen rücksichtslos überlassen, sei es um so einen gewissen
Ausgleich für ihre eigue Zerfahrenheit zu finden, sei es (was nicht minder häufig)
um in jene Vorgänge mit peinlicher Genauigkeit alle ihre eignen Erregungen
"»d Spannungen hincinzndichten. Wie gesagt, gerade diese kränkliche Stimmung
der Mondscheinlandschaft, diese ungesunde Verzärtelung der Gefühle, die schließlich
auf e^,n ziemlich öden Kultus des lieben Ich hinauslief, florirte besonders
üppig in der Mitte und am Ende des vorigen Jahrhunderts; es ist daher be¬
greiflich, daß Schiller der Sentimentalität xar x^o^ den Krieg erklärte.

Mittlerweile sind wiederum zwei volle Menschenalter vergangen. Der gei¬
stige Horizont hat sich unendlich erweitert und damit auch im einzelnen ver¬
dichtet; namentlich die Naturwissenschaft hat mit ihren Hilfsdisziplinen die Auf¬
fassung der Natur berichtigt und geklärt, Kräfte entdeckt, von denen die frühern
Zeiten nichts wußten, und Wege gezeigt, auf denen sie sich dem Geheimnis des
Lebens zu nähern hofft. Mit ihr im Bunde ist es der vergleichenden Mytho¬
logie gelungen, die scheinbar regellose und phantastische Welt der mythischen
Gestalten, früherer Betrachtung höchstens anmutige Initialen einer beginnenden
Kultur, als gesetzmüßige Produkte eines großartigen Naturkultus nachzuweisen,
der, vielfach unsrer Empfindung anstößig und roh, dennoch die ungebrochene
Einheit des plastischen Naturmenschen mit lapidaren Zügen uns veranschaulicht.
Immer mehr wird das Gebiet der Natur eingeschränkt und umgestaltet durch
die alles nivellirende Kultur; jeder moderne Mensch durchfliegt in seinen Kinder¬
jahren die Jahrhunderte niederer Gesittung, welche vor ihm die Menschheit
bot zwar durchaus nicht immer in ununterbrochenem Fortschritt) durchmaß, er
wird widerstandslos in das ganze weitverzweigte Gewebe der Zivilisation hinein¬
geboren, die ihn trügt und nährt wie die Physische Atmosphäre, und jeder,
ausnahmslos, nimmt bewußt oder unbewußt an dieser Vernichtung der Natur
einen abgestuften Anteil; alle Fortschritte, seien sie intellektuell oder moralisch,
bezeugen den unaufhaltsamen Sieg dieser wundersamen Macht über den in der
Urzeit allmächtigen Gegner, ja selbst physiologisch ist der Mensch im Laufe
dieses Prozesses ein andrer geworden. Welche Perspektive eröffnet sich dem er¬
schreckten Blick? Wir verzichten gern darauf, diese Schilderung in düstern


GrenMm I. t884. 49
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0395" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/155278"/>
          <fw type="header" place="top"> Natur und Kultur.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1639" prev="#ID_1638"> das letzte erreichbare Ideal der Sittlichkeit zu betrachten. Gerade aber diese<lb/>
Umwälzung der Ideen, die Fülle von Konflikten und Rätseln, welche der antiken<lb/>
Welt erspart blieb, die Vertiefung unsers Ichs zu einem weltumspannenden<lb/>
Makrokosmos und andrerseits die Anerkennung unerschütterlicher kosmischer Ge¬<lb/>
setze (ein Gedanke wesentlich modernen Inhalts) bildet den spezifischen Charakter<lb/>
unsrer nicht mehr völlig einfachen, nicht von Zweifeln unberührten, sondern vielfach<lb/>
skeptisch durchlöcherten, dennoch aber sittlich erhabnen Weltanschauung. Liegen<lb/>
nun diese Gründe rein objektiver Natur vor, so versteht es sich fast von selbst,<lb/>
daß alle die Geister niedern Ranges, die an und in sich selbst den Halt ver¬<lb/>
loren haben, mit einer gewissen Schwärmerei sich den Eindrücken der großen<lb/>
elementaren Erscheinungen rücksichtslos überlassen, sei es um so einen gewissen<lb/>
Ausgleich für ihre eigue Zerfahrenheit zu finden, sei es (was nicht minder häufig)<lb/>
um in jene Vorgänge mit peinlicher Genauigkeit alle ihre eignen Erregungen<lb/>
"»d Spannungen hincinzndichten. Wie gesagt, gerade diese kränkliche Stimmung<lb/>
der Mondscheinlandschaft, diese ungesunde Verzärtelung der Gefühle, die schließlich<lb/>
auf e^,n ziemlich öden Kultus des lieben Ich hinauslief, florirte besonders<lb/>
üppig in der Mitte und am Ende des vorigen Jahrhunderts; es ist daher be¬<lb/>
greiflich, daß Schiller der Sentimentalität xar x^o^ den Krieg erklärte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1640" next="#ID_1641"> Mittlerweile sind wiederum zwei volle Menschenalter vergangen. Der gei¬<lb/>
stige Horizont hat sich unendlich erweitert und damit auch im einzelnen ver¬<lb/>
dichtet; namentlich die Naturwissenschaft hat mit ihren Hilfsdisziplinen die Auf¬<lb/>
fassung der Natur berichtigt und geklärt, Kräfte entdeckt, von denen die frühern<lb/>
Zeiten nichts wußten, und Wege gezeigt, auf denen sie sich dem Geheimnis des<lb/>
Lebens zu nähern hofft. Mit ihr im Bunde ist es der vergleichenden Mytho¬<lb/>
logie gelungen, die scheinbar regellose und phantastische Welt der mythischen<lb/>
Gestalten, früherer Betrachtung höchstens anmutige Initialen einer beginnenden<lb/>
Kultur, als gesetzmüßige Produkte eines großartigen Naturkultus nachzuweisen,<lb/>
der, vielfach unsrer Empfindung anstößig und roh, dennoch die ungebrochene<lb/>
Einheit des plastischen Naturmenschen mit lapidaren Zügen uns veranschaulicht.<lb/>
Immer mehr wird das Gebiet der Natur eingeschränkt und umgestaltet durch<lb/>
die alles nivellirende Kultur; jeder moderne Mensch durchfliegt in seinen Kinder¬<lb/>
jahren die Jahrhunderte niederer Gesittung, welche vor ihm die Menschheit<lb/>
bot zwar durchaus nicht immer in ununterbrochenem Fortschritt) durchmaß, er<lb/>
wird widerstandslos in das ganze weitverzweigte Gewebe der Zivilisation hinein¬<lb/>
geboren, die ihn trügt und nährt wie die Physische Atmosphäre, und jeder,<lb/>
ausnahmslos, nimmt bewußt oder unbewußt an dieser Vernichtung der Natur<lb/>
einen abgestuften Anteil; alle Fortschritte, seien sie intellektuell oder moralisch,<lb/>
bezeugen den unaufhaltsamen Sieg dieser wundersamen Macht über den in der<lb/>
Urzeit allmächtigen Gegner, ja selbst physiologisch ist der Mensch im Laufe<lb/>
dieses Prozesses ein andrer geworden. Welche Perspektive eröffnet sich dem er¬<lb/>
schreckten Blick? Wir verzichten gern darauf, diese Schilderung in düstern</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> GrenMm I. t884. 49</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0395] Natur und Kultur. das letzte erreichbare Ideal der Sittlichkeit zu betrachten. Gerade aber diese Umwälzung der Ideen, die Fülle von Konflikten und Rätseln, welche der antiken Welt erspart blieb, die Vertiefung unsers Ichs zu einem weltumspannenden Makrokosmos und andrerseits die Anerkennung unerschütterlicher kosmischer Ge¬ setze (ein Gedanke wesentlich modernen Inhalts) bildet den spezifischen Charakter unsrer nicht mehr völlig einfachen, nicht von Zweifeln unberührten, sondern vielfach skeptisch durchlöcherten, dennoch aber sittlich erhabnen Weltanschauung. Liegen nun diese Gründe rein objektiver Natur vor, so versteht es sich fast von selbst, daß alle die Geister niedern Ranges, die an und in sich selbst den Halt ver¬ loren haben, mit einer gewissen Schwärmerei sich den Eindrücken der großen elementaren Erscheinungen rücksichtslos überlassen, sei es um so einen gewissen Ausgleich für ihre eigue Zerfahrenheit zu finden, sei es (was nicht minder häufig) um in jene Vorgänge mit peinlicher Genauigkeit alle ihre eignen Erregungen "»d Spannungen hincinzndichten. Wie gesagt, gerade diese kränkliche Stimmung der Mondscheinlandschaft, diese ungesunde Verzärtelung der Gefühle, die schließlich auf e^,n ziemlich öden Kultus des lieben Ich hinauslief, florirte besonders üppig in der Mitte und am Ende des vorigen Jahrhunderts; es ist daher be¬ greiflich, daß Schiller der Sentimentalität xar x^o^ den Krieg erklärte. Mittlerweile sind wiederum zwei volle Menschenalter vergangen. Der gei¬ stige Horizont hat sich unendlich erweitert und damit auch im einzelnen ver¬ dichtet; namentlich die Naturwissenschaft hat mit ihren Hilfsdisziplinen die Auf¬ fassung der Natur berichtigt und geklärt, Kräfte entdeckt, von denen die frühern Zeiten nichts wußten, und Wege gezeigt, auf denen sie sich dem Geheimnis des Lebens zu nähern hofft. Mit ihr im Bunde ist es der vergleichenden Mytho¬ logie gelungen, die scheinbar regellose und phantastische Welt der mythischen Gestalten, früherer Betrachtung höchstens anmutige Initialen einer beginnenden Kultur, als gesetzmüßige Produkte eines großartigen Naturkultus nachzuweisen, der, vielfach unsrer Empfindung anstößig und roh, dennoch die ungebrochene Einheit des plastischen Naturmenschen mit lapidaren Zügen uns veranschaulicht. Immer mehr wird das Gebiet der Natur eingeschränkt und umgestaltet durch die alles nivellirende Kultur; jeder moderne Mensch durchfliegt in seinen Kinder¬ jahren die Jahrhunderte niederer Gesittung, welche vor ihm die Menschheit bot zwar durchaus nicht immer in ununterbrochenem Fortschritt) durchmaß, er wird widerstandslos in das ganze weitverzweigte Gewebe der Zivilisation hinein¬ geboren, die ihn trügt und nährt wie die Physische Atmosphäre, und jeder, ausnahmslos, nimmt bewußt oder unbewußt an dieser Vernichtung der Natur einen abgestuften Anteil; alle Fortschritte, seien sie intellektuell oder moralisch, bezeugen den unaufhaltsamen Sieg dieser wundersamen Macht über den in der Urzeit allmächtigen Gegner, ja selbst physiologisch ist der Mensch im Laufe dieses Prozesses ein andrer geworden. Welche Perspektive eröffnet sich dem er¬ schreckten Blick? Wir verzichten gern darauf, diese Schilderung in düstern GrenMm I. t884. 49

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/395
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/395>, abgerufen am 23.07.2024.