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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Natur und Kultur.

ist unsers Erachtens unbestreitbar, die Vollendung der antiken Humanität im
Staate und Staatsleben und damit so ipso die kommunistische Absorbirung der
einzelnen sittlichen Persönlichkeit dnrch diese politische Organisation. Damit
fallen alle beunruhigenden Zweifel weg, welche die moderne Welt über die
Kollision dieser beiden Welten hegt, umsomehr da eine eventuelle Fortsetzung
einer transmundaneu Existenz aus denselben einleuchtenden Gründen eine
ziemlich indifferente Frage für die Antike bildete. Dieselbe gründliche Ver-
kennung des wahren Wertes tritt offen zu Tage, sobald es galt, den (freilich
politisch sehr farblosen) Charakter der Frau zu erfassen. So widerfährt denn
Schiller das seltsame Mißgeschick, daß er zufolge der deu Alten eingerünmten
größern Naivetät die ganze Epigonenzeit als eine schwächliche, durch Sentimen¬
talität angekränkelte Treibhauspflanze auffaßt, daß ihm aber andrerseits die
paradoxe Zusammenstellung von Homer und Shakespeare als naiver Dichter
nicht auffällt. Offenbar ist die letztere Bestimmung eine unbewußte Reaktion
gegen den aus seiner Beweisführung sich ergebenden Machtspruch über die
Nichtigkeit der modernen Literatur; aber gleichwohl kann doch niemand daran
zweifeln, daß der große Britte, was die gesamte Weltanschauung anlangt, Ver¬
treter der sentimentalen Richtung ist. Freilich muß man nicht, wie Lotze sich
ausdrückt, die Stimmung der Phantasie, welche der Weltbetrachtung zu Grunde
liegt, mit dem künstlerischen Vortrage ihrer Erlebnisse verwechseln. Was die
formelle Darstellung rein als solche anlangt, hat ganz nnfraglich Schiller Recht,
wenn er Shakespeare mit folgenden Worten als naiven Dichter zeichnet: "Als
ich in einem sehr frühen Alter den letztern Dichter zuerst kennen lernte, empörte
mich seine Kälte, seine Unempfindlichkeit, die ihm erlaubte, im höchsten Pathos
zu scherzen, die herzzerschneidenden Auftritte im Hamlet, im König Lear, im
Macbeth u. s. f. durch einen Narren zu stören, die ihn bald da festhielt, wo
meine Empfindung forteilte, bald da kaltherzig fortriß, wo das Herz so gern
stillgestanden wäre." Und dieses anfängliche Mißbehagen war umso erklär¬
licher, als die damalige Zeit gerade in der Schilderung der Gefühle und sehn¬
süchtigen Empfindungen ihre Hauptaufgabe fand. Aber hinsichtlich des Charakters
der entwickelten Weltanschauung, bezüglich der Auffassung des Tragischen oder
des Dramatischen, überhaupt desjenigen, was mit dem Aufbau und der Lösung
der Konflikte zusammenhängt, gehört Shakespeare der modernen, sentimentalen
Betrachtung an, allerdings mit der schon angedeuteten Beschränkung und der
weiter" Bestimmung, nicht von vornherein und absolut dieser modernen Per
spettive jegliche dichterische Berechtigung abzusprechen. Dann freilich füllt auch
die ganze neuere Kultur und Poesie zusammen, dann thut man gut, zu den Au-
schauungen der Antike auch praktisch zurückzukehren und die Errungenschaften
unsrer Bildung abzuschwören, statt des persönlich zurechnungsfähigen und deshalb
seinen Untergang sich selbst bereitenden Helden wieder das Gespenst des Schick¬
sals aus der wohlverdienten Vergessenheit heraufzuholen und den Bürger als


Natur und Kultur.

ist unsers Erachtens unbestreitbar, die Vollendung der antiken Humanität im
Staate und Staatsleben und damit so ipso die kommunistische Absorbirung der
einzelnen sittlichen Persönlichkeit dnrch diese politische Organisation. Damit
fallen alle beunruhigenden Zweifel weg, welche die moderne Welt über die
Kollision dieser beiden Welten hegt, umsomehr da eine eventuelle Fortsetzung
einer transmundaneu Existenz aus denselben einleuchtenden Gründen eine
ziemlich indifferente Frage für die Antike bildete. Dieselbe gründliche Ver-
kennung des wahren Wertes tritt offen zu Tage, sobald es galt, den (freilich
politisch sehr farblosen) Charakter der Frau zu erfassen. So widerfährt denn
Schiller das seltsame Mißgeschick, daß er zufolge der deu Alten eingerünmten
größern Naivetät die ganze Epigonenzeit als eine schwächliche, durch Sentimen¬
talität angekränkelte Treibhauspflanze auffaßt, daß ihm aber andrerseits die
paradoxe Zusammenstellung von Homer und Shakespeare als naiver Dichter
nicht auffällt. Offenbar ist die letztere Bestimmung eine unbewußte Reaktion
gegen den aus seiner Beweisführung sich ergebenden Machtspruch über die
Nichtigkeit der modernen Literatur; aber gleichwohl kann doch niemand daran
zweifeln, daß der große Britte, was die gesamte Weltanschauung anlangt, Ver¬
treter der sentimentalen Richtung ist. Freilich muß man nicht, wie Lotze sich
ausdrückt, die Stimmung der Phantasie, welche der Weltbetrachtung zu Grunde
liegt, mit dem künstlerischen Vortrage ihrer Erlebnisse verwechseln. Was die
formelle Darstellung rein als solche anlangt, hat ganz nnfraglich Schiller Recht,
wenn er Shakespeare mit folgenden Worten als naiven Dichter zeichnet: „Als
ich in einem sehr frühen Alter den letztern Dichter zuerst kennen lernte, empörte
mich seine Kälte, seine Unempfindlichkeit, die ihm erlaubte, im höchsten Pathos
zu scherzen, die herzzerschneidenden Auftritte im Hamlet, im König Lear, im
Macbeth u. s. f. durch einen Narren zu stören, die ihn bald da festhielt, wo
meine Empfindung forteilte, bald da kaltherzig fortriß, wo das Herz so gern
stillgestanden wäre." Und dieses anfängliche Mißbehagen war umso erklär¬
licher, als die damalige Zeit gerade in der Schilderung der Gefühle und sehn¬
süchtigen Empfindungen ihre Hauptaufgabe fand. Aber hinsichtlich des Charakters
der entwickelten Weltanschauung, bezüglich der Auffassung des Tragischen oder
des Dramatischen, überhaupt desjenigen, was mit dem Aufbau und der Lösung
der Konflikte zusammenhängt, gehört Shakespeare der modernen, sentimentalen
Betrachtung an, allerdings mit der schon angedeuteten Beschränkung und der
weiter» Bestimmung, nicht von vornherein und absolut dieser modernen Per
spettive jegliche dichterische Berechtigung abzusprechen. Dann freilich füllt auch
die ganze neuere Kultur und Poesie zusammen, dann thut man gut, zu den Au-
schauungen der Antike auch praktisch zurückzukehren und die Errungenschaften
unsrer Bildung abzuschwören, statt des persönlich zurechnungsfähigen und deshalb
seinen Untergang sich selbst bereitenden Helden wieder das Gespenst des Schick¬
sals aus der wohlverdienten Vergessenheit heraufzuholen und den Bürger als


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[0394] Natur und Kultur. ist unsers Erachtens unbestreitbar, die Vollendung der antiken Humanität im Staate und Staatsleben und damit so ipso die kommunistische Absorbirung der einzelnen sittlichen Persönlichkeit dnrch diese politische Organisation. Damit fallen alle beunruhigenden Zweifel weg, welche die moderne Welt über die Kollision dieser beiden Welten hegt, umsomehr da eine eventuelle Fortsetzung einer transmundaneu Existenz aus denselben einleuchtenden Gründen eine ziemlich indifferente Frage für die Antike bildete. Dieselbe gründliche Ver- kennung des wahren Wertes tritt offen zu Tage, sobald es galt, den (freilich politisch sehr farblosen) Charakter der Frau zu erfassen. So widerfährt denn Schiller das seltsame Mißgeschick, daß er zufolge der deu Alten eingerünmten größern Naivetät die ganze Epigonenzeit als eine schwächliche, durch Sentimen¬ talität angekränkelte Treibhauspflanze auffaßt, daß ihm aber andrerseits die paradoxe Zusammenstellung von Homer und Shakespeare als naiver Dichter nicht auffällt. Offenbar ist die letztere Bestimmung eine unbewußte Reaktion gegen den aus seiner Beweisführung sich ergebenden Machtspruch über die Nichtigkeit der modernen Literatur; aber gleichwohl kann doch niemand daran zweifeln, daß der große Britte, was die gesamte Weltanschauung anlangt, Ver¬ treter der sentimentalen Richtung ist. Freilich muß man nicht, wie Lotze sich ausdrückt, die Stimmung der Phantasie, welche der Weltbetrachtung zu Grunde liegt, mit dem künstlerischen Vortrage ihrer Erlebnisse verwechseln. Was die formelle Darstellung rein als solche anlangt, hat ganz nnfraglich Schiller Recht, wenn er Shakespeare mit folgenden Worten als naiven Dichter zeichnet: „Als ich in einem sehr frühen Alter den letztern Dichter zuerst kennen lernte, empörte mich seine Kälte, seine Unempfindlichkeit, die ihm erlaubte, im höchsten Pathos zu scherzen, die herzzerschneidenden Auftritte im Hamlet, im König Lear, im Macbeth u. s. f. durch einen Narren zu stören, die ihn bald da festhielt, wo meine Empfindung forteilte, bald da kaltherzig fortriß, wo das Herz so gern stillgestanden wäre." Und dieses anfängliche Mißbehagen war umso erklär¬ licher, als die damalige Zeit gerade in der Schilderung der Gefühle und sehn¬ süchtigen Empfindungen ihre Hauptaufgabe fand. Aber hinsichtlich des Charakters der entwickelten Weltanschauung, bezüglich der Auffassung des Tragischen oder des Dramatischen, überhaupt desjenigen, was mit dem Aufbau und der Lösung der Konflikte zusammenhängt, gehört Shakespeare der modernen, sentimentalen Betrachtung an, allerdings mit der schon angedeuteten Beschränkung und der weiter» Bestimmung, nicht von vornherein und absolut dieser modernen Per spettive jegliche dichterische Berechtigung abzusprechen. Dann freilich füllt auch die ganze neuere Kultur und Poesie zusammen, dann thut man gut, zu den Au- schauungen der Antike auch praktisch zurückzukehren und die Errungenschaften unsrer Bildung abzuschwören, statt des persönlich zurechnungsfähigen und deshalb seinen Untergang sich selbst bereitenden Helden wieder das Gespenst des Schick¬ sals aus der wohlverdienten Vergessenheit heraufzuholen und den Bürger als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/394>, abgerufen am 23.07.2024.