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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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negativ" weniger den Mangel der Empfänglichkeit als den eines regen Be¬
dürfnisses, das Gefühl des Naturschönen durch Worte zu offenbaren. Minder
der unbelebten Erscheinungswelt als dein handelnden Leben und der innern,
spontanen Anregung der Gefühle zugewandt, waren die frühesten und auch
edelsten Richtungen des dichterischen Geistes episch und lyrisch. Ju diesen
Knnsifonncn aber können Naturschilderungen sich nur wie zufällig beigemischt
finden." (Kosmos II, 9.) Unter vielen Belegen zitirt er anch Pindars Frühiings-
dithyrambvs, der nach der allgemeinen Schilderung der wieder auflebenden Natur
sich bald einem höhern Ziele zuwendet, nämlich "Hieron von Shrakns zu
feiern und die siegreichen Kämpfe der Hellenen gegen das mächtige Volk der
Perser." Schärfer noch hat dies Moment Lotze betont, der von dem Ideal
der griechischen Ethik als einer Zusammenfassung der politischen Pflichten des
Individuums ausgeht. Hat je ein Volk, sagt er mit Recht, nicht naturwüchsig
hingelebt, sonder" seine persönliche, gesellige und staatliche Ausbildung mit Be¬
wußtsein nud Absichtlichkeit nicht nach naturlänfigen Empfindungen, vielmehr
uach Grundsätzen gelenkt, die nnr gebildetes Nachsinnen lehren konnte, so waren
dies eben die Griechen; fast nichts ist Natur in ihnen, fast alles Erziehung.
Zucht, Disziplin oder Machwerk der Kunst, wie Schiller es tadelnd, wir im
Gegenteil lobend nennen. Hätten die Griechen nun auf diesem Wege der Selbst-
erziehung das Glück gehabt, immer in Übereinstimmung mit der Natur zu bleiben,
fo würde doch schon diese Gewohnheit, natürliche Verhältnisse mit selbstbewußter
Absicht wieder zu erzeugen, ihnen Grund genng gegeben haben, der außer" Natur
eine größere Aufmerksamkeit zu schenken. Aber sie hatten sogar allen Grund
zu sentimentaler und leidenschaftlicher Teilnahme für sie: denn die beständige
Ruhelosigkeit ihrer geselligen und politischen Zustünde zeigt, daß ihre künstliche
Bildung jene feste Ordnung und Harmonie allgemeiner Befriedigung nicht schaffe"
konnte, deren Bild ihnen die äußere Natur ebenso wie uns jetzt darbot. steigerte
sich "u" dennoch ihre Empfänglichkeit für Naturschönheit bis zu dieser Leiden¬
schaftlichkeit nicht, so lag der Grund "ur darin, daß ihr ganzes Streben sich im
öffentlichen Lebe" ""d in der Erziehung des Mannes zum Bürger erschöpfte.
Deswegen hatten sie, wenig Sinn für die Natur, die kein politisches Lebe"
keimt, deswegen ruhte der Blick nicht, wie Schiller von unsrer Zeit sagen kann,
mit Ehrfurcht a"f dem Kinde, daS noch eine Unendlichkeit ahnungsvoll ver¬
spricht; es kam vielmehr in ihren Gesichtskreis fast erst dann, wenn es zur
öffentlichen Gemeinschaft in Beziehung trat; deswegen beklagen ihre Dichter
zwar die vergangnen Jahre der Kraft, die sich geltend machen kann, aber nicht
den entschwundenen unvergleichliche" Zauber der phantasiewarmen Jugend, deshalb
endlich reizte anch das Naive des Benehmens ihre Aufmerksamkeit fast nur zum
Spott; denn wie natürlich es auch immer war, so lag in ihren Augen darin
nur ein Fehler: es war mnnsisch, ungebildet, nur Natur, nicht Erziehung."
(Gesch. d. Ästhetik, S. 358.) Das wesentliche Argument dieser ganzen Deduktion


negativ» weniger den Mangel der Empfänglichkeit als den eines regen Be¬
dürfnisses, das Gefühl des Naturschönen durch Worte zu offenbaren. Minder
der unbelebten Erscheinungswelt als dein handelnden Leben und der innern,
spontanen Anregung der Gefühle zugewandt, waren die frühesten und auch
edelsten Richtungen des dichterischen Geistes episch und lyrisch. Ju diesen
Knnsifonncn aber können Naturschilderungen sich nur wie zufällig beigemischt
finden." (Kosmos II, 9.) Unter vielen Belegen zitirt er anch Pindars Frühiings-
dithyrambvs, der nach der allgemeinen Schilderung der wieder auflebenden Natur
sich bald einem höhern Ziele zuwendet, nämlich „Hieron von Shrakns zu
feiern und die siegreichen Kämpfe der Hellenen gegen das mächtige Volk der
Perser." Schärfer noch hat dies Moment Lotze betont, der von dem Ideal
der griechischen Ethik als einer Zusammenfassung der politischen Pflichten des
Individuums ausgeht. Hat je ein Volk, sagt er mit Recht, nicht naturwüchsig
hingelebt, sonder» seine persönliche, gesellige und staatliche Ausbildung mit Be¬
wußtsein nud Absichtlichkeit nicht nach naturlänfigen Empfindungen, vielmehr
uach Grundsätzen gelenkt, die nnr gebildetes Nachsinnen lehren konnte, so waren
dies eben die Griechen; fast nichts ist Natur in ihnen, fast alles Erziehung.
Zucht, Disziplin oder Machwerk der Kunst, wie Schiller es tadelnd, wir im
Gegenteil lobend nennen. Hätten die Griechen nun auf diesem Wege der Selbst-
erziehung das Glück gehabt, immer in Übereinstimmung mit der Natur zu bleiben,
fo würde doch schon diese Gewohnheit, natürliche Verhältnisse mit selbstbewußter
Absicht wieder zu erzeugen, ihnen Grund genng gegeben haben, der außer» Natur
eine größere Aufmerksamkeit zu schenken. Aber sie hatten sogar allen Grund
zu sentimentaler und leidenschaftlicher Teilnahme für sie: denn die beständige
Ruhelosigkeit ihrer geselligen und politischen Zustünde zeigt, daß ihre künstliche
Bildung jene feste Ordnung und Harmonie allgemeiner Befriedigung nicht schaffe»
konnte, deren Bild ihnen die äußere Natur ebenso wie uns jetzt darbot. steigerte
sich »u» dennoch ihre Empfänglichkeit für Naturschönheit bis zu dieser Leiden¬
schaftlichkeit nicht, so lag der Grund »ur darin, daß ihr ganzes Streben sich im
öffentlichen Lebe» »»d in der Erziehung des Mannes zum Bürger erschöpfte.
Deswegen hatten sie, wenig Sinn für die Natur, die kein politisches Lebe»
keimt, deswegen ruhte der Blick nicht, wie Schiller von unsrer Zeit sagen kann,
mit Ehrfurcht a»f dem Kinde, daS noch eine Unendlichkeit ahnungsvoll ver¬
spricht; es kam vielmehr in ihren Gesichtskreis fast erst dann, wenn es zur
öffentlichen Gemeinschaft in Beziehung trat; deswegen beklagen ihre Dichter
zwar die vergangnen Jahre der Kraft, die sich geltend machen kann, aber nicht
den entschwundenen unvergleichliche» Zauber der phantasiewarmen Jugend, deshalb
endlich reizte anch das Naive des Benehmens ihre Aufmerksamkeit fast nur zum
Spott; denn wie natürlich es auch immer war, so lag in ihren Augen darin
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(Gesch. d. Ästhetik, S. 358.) Das wesentliche Argument dieser ganzen Deduktion


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/393>, abgerufen am 23.07.2024.