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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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kennen "ut sich in einen Rausch des Naturknltlls stürzen, dem das unangenehme
Erwache" nicht erspart wurde,

Schul mitunter waren wir genötigt, wenn wir die allgemeine Weltanschauung
in ihrer Beziehung zu den Urzuständen der Menschheit zu schildern versuchten,
diejenigen verschwiegenen Stimmungen zu erwähnen, welche im geheimen oder
auch bisweilen unverblümt die angeblich objektive Haltung der Wissenschaft
beeinflußten. Diese Ingredienzien des Gefühls- und Gemütslebens treten selbst¬
verständlich ganz offen zu Tage, sobald sie sich in den Kanon einer wvhl-
fundirteu ästhetischen Lehrmeinung hiueinfügcn, Wie für unsre vorige Be¬
trachtung, so bietet auch für diese" Punkt das an Gegensätze" so reiche
18, Jahrhundert und im besondern Schiller die naheliegende Anknüpfung, Ohne
uns in das Detail seiner kunsthistorischen Untersuchungen zu vertiefe", möge es
uns erlaubt sein, den Hauptsatz seiner Doktrin hier voranzustellen. Die Alten
empfanden natürlich, wir empfinden das Natürliche; unser Gefühl für die
Natur gleicht der Empfindung des Kranken für die Gesundheit; nicht unsre
größere Naturmäßigkeit, ganz im Gegenteil die Naturwidrigkeit unsrer Verhält¬
nisse, Zustände nud Sitten treibt uns an, dem erwachenden Triebe nach Wahrheit
und Simplizität in der Physischen Welt eine Befriedigung zu verschaffen, die
in der moralischen nicht zu hoffen ist. Deswegen ist das Gefühl, womit wir
an der Natur hangen, dem Gefühle so nahe verwandt, womit wir das ent¬
flohene Alter der Kindheit und der kindischen Unschuld beklage", (Über naive
und sentimentale Dichtung,) Es ist bekannt, wie Schiller geschickt dies Dilemma
auch nach andern Seiten zu behandeln wußte; war ihm die Welt auch voll¬
kommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual, so nahm er
doch keinen Anstand, die Befreiung aus dem paradiesischen Schlummer, die
Trennung von dem Gängelbande des bloß tierischen Instinktes für die "glück¬
lichste und größte Begebenheit in der Weltgeschichte" zu erklären, weil hier zu
seiner Moralität der erste entfernte Grundstein gelegt wurde. Uns interessirt
zunächst mir die Haltbarkeit seines dichterischen Standpunktes; unzweifelhaft
richtig und durch keine auch uoch so ausgedehnte Stellensammlung aus dem
hellenischen Altertum (und auf dies zielt Schiller) zu widerlegen ist die Be-
hauptung, daß die moderne Dichtung sich mit ungleich heftigerer Leidenschaft
in die Natur versenkt hat, und ebenso unanfechtbar (was unser Philosoph Über¬
gängen), daß die Alten die Naturdichtung nicht als abgesonderten Litcratnrzweig
behandelten, sondern immer nur als unmittelbaren Resonanzboden für die
Schilderung psychischer Affekte. Aber es möchte sehr diskutabel sein, wenn
hierfür als Grund die größere Harmonie ihrer Verhältnisse mit der Natur
angegeben wird, oder die Begründung "ihres gesellschaftlichen Lebens auf
Empfindungen, nicht ans einem Machwerk der Kunst," Schon Humboldt sucht
eine andre Erklcirnng: "Was wir im Gefühl unsrer modernen Sinnesart in
jenen Regionen der antiken Welt nur zu sparsam auffinden, bezeugt in seiner


kennen »ut sich in einen Rausch des Naturknltlls stürzen, dem das unangenehme
Erwache» nicht erspart wurde,

Schul mitunter waren wir genötigt, wenn wir die allgemeine Weltanschauung
in ihrer Beziehung zu den Urzuständen der Menschheit zu schildern versuchten,
diejenigen verschwiegenen Stimmungen zu erwähnen, welche im geheimen oder
auch bisweilen unverblümt die angeblich objektive Haltung der Wissenschaft
beeinflußten. Diese Ingredienzien des Gefühls- und Gemütslebens treten selbst¬
verständlich ganz offen zu Tage, sobald sie sich in den Kanon einer wvhl-
fundirteu ästhetischen Lehrmeinung hiueinfügcn, Wie für unsre vorige Be¬
trachtung, so bietet auch für diese» Punkt das an Gegensätze» so reiche
18, Jahrhundert und im besondern Schiller die naheliegende Anknüpfung, Ohne
uns in das Detail seiner kunsthistorischen Untersuchungen zu vertiefe», möge es
uns erlaubt sein, den Hauptsatz seiner Doktrin hier voranzustellen. Die Alten
empfanden natürlich, wir empfinden das Natürliche; unser Gefühl für die
Natur gleicht der Empfindung des Kranken für die Gesundheit; nicht unsre
größere Naturmäßigkeit, ganz im Gegenteil die Naturwidrigkeit unsrer Verhält¬
nisse, Zustände nud Sitten treibt uns an, dem erwachenden Triebe nach Wahrheit
und Simplizität in der Physischen Welt eine Befriedigung zu verschaffen, die
in der moralischen nicht zu hoffen ist. Deswegen ist das Gefühl, womit wir
an der Natur hangen, dem Gefühle so nahe verwandt, womit wir das ent¬
flohene Alter der Kindheit und der kindischen Unschuld beklage», (Über naive
und sentimentale Dichtung,) Es ist bekannt, wie Schiller geschickt dies Dilemma
auch nach andern Seiten zu behandeln wußte; war ihm die Welt auch voll¬
kommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual, so nahm er
doch keinen Anstand, die Befreiung aus dem paradiesischen Schlummer, die
Trennung von dem Gängelbande des bloß tierischen Instinktes für die „glück¬
lichste und größte Begebenheit in der Weltgeschichte" zu erklären, weil hier zu
seiner Moralität der erste entfernte Grundstein gelegt wurde. Uns interessirt
zunächst mir die Haltbarkeit seines dichterischen Standpunktes; unzweifelhaft
richtig und durch keine auch uoch so ausgedehnte Stellensammlung aus dem
hellenischen Altertum (und auf dies zielt Schiller) zu widerlegen ist die Be-
hauptung, daß die moderne Dichtung sich mit ungleich heftigerer Leidenschaft
in die Natur versenkt hat, und ebenso unanfechtbar (was unser Philosoph Über¬
gängen), daß die Alten die Naturdichtung nicht als abgesonderten Litcratnrzweig
behandelten, sondern immer nur als unmittelbaren Resonanzboden für die
Schilderung psychischer Affekte. Aber es möchte sehr diskutabel sein, wenn
hierfür als Grund die größere Harmonie ihrer Verhältnisse mit der Natur
angegeben wird, oder die Begründung „ihres gesellschaftlichen Lebens auf
Empfindungen, nicht ans einem Machwerk der Kunst," Schon Humboldt sucht
eine andre Erklcirnng: „Was wir im Gefühl unsrer modernen Sinnesart in
jenen Regionen der antiken Welt nur zu sparsam auffinden, bezeugt in seiner


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/392>, abgerufen am 23.07.2024.