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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Aus dieser genetische" Perspektive ergiebt sich wu selbst die Zurückweisung
der sittlichen Ideen in dem Rousseauschen Sinne, als ans bestimmter Verab¬
redung, A-<?6t, wie Aristoteles sagen würde, hervorgegangen; diese rationalistische
Verflachung eines jeglicher berechnenden Willkür entzogenen universalhistorischen
Prozesses kann ebenso wenig auf wissenschaftliche Anerkennung heutzutage mehr
Anspruch machen, wie die umgekehrte idealistische Hypothese, die, mich hierin
antiken Vorbildern folgend, die Fülle der Wirklichkeit in Religion. Kunst, Sitte
"> s, f, aus apriorischen Ideen ableitete, als ob sie häufig nur durch eine vorüber¬
gehende Störung verdunkelt, durch sorgfältige Pflege ihre alte Frische und Kraft
wieder erhalten könnte", (Offenbar ist hier, wie gesagt, die platonische Ansicht von
der wirksam.) Der Mensch lebt sich vielmehr nur voll "ut ganz aus
als Aov ?r"^t7/t/vo. wie Aristoteles sagt, und das gilt von den Primitivsien
Anfängen sowohl wie von den leuchtenden Höhen der Kultur; nur in dem
Sinne ist der Mensch nach Leibnitzens Wort ein Spiegel der Menschheit, als
er alle Phasen der Gattnngsentwicklung in seine," eigne" beschränkte" Ich re-
kopit"lire. sodaß wir, wie Bastion sich ausspricht, unser eignes Geistesleben und
sein organisches Wachstum in den Reflexen ethnologischer Spiegelung erschaue",
"in in einem klar zurückgeworfenen Bilde das zu erkennen, was unmöglich sein
würde, an sich selbst abzusehn", (Beitr, z. vgl. Psych., Vorrede S. XI.). Ursprüng¬
lich existirt uicht, wie eine glaubeusselige Meinung uns gern berede" möchte,
n"c unbewegte Welt stiller Seligkeit und erhabenen Friedens, die erst durch
el"c ganz unerklärliche Bosheit oder Thorheit in eine Stätte der Sünde und
des Todes verwandelt ist, sonder" am Anfange der Dinge (um diesen in¬
korrekten Ausdruck zu gebrauchen) sah es auf Erden nach alle" zuverlässigen
Zeugnissen uicht besser, sonder" ""eiidlich viel schlechter aus als jetzt; that¬
sächlich herrschte der schon den alten Dichtern bekannte Krieg aller gegen alle
(wenn mich in der durch jede Organisation bedingten Grenzen), anfänglich war
Gut und Nützlich, wie Spinoza es ehrlich nusspricht, durchaus ununterscheidbar,
und alle frommen und sittlich schönen Regungen, die wir heute als nnvcrcmßcr-
liches Erbgut des Genus uomo "MM" ansehen, existirten nicht. Der roheste
Sir", eine Bestialität in der Auffassung und im Handeln sind vielmehr die
Kennzeichen jeuer primitiven Epoche, wohl verträglich mit allerlei sozial liebens¬
würdigen Zügen des äußern Betragens, die uns vielfach nur als ein Produkt
höherer Bildung möglich erscheinen. Die Aufopferung des eignen Selbst für
M'dre, die nachgebende Liebe und alles ertragende Geduld, die Bereitwilligkeit
der Versöhnung mit den Feinden, kurz die Überwindung des Egoismus durch
rein ideale Prinzipien suchen wir in der Natur und in dem Leben der Wilden
vergebens; erst die Kultur, d. h. i" diesem Sinne die ä'vnenlange soziale und
Politische Züchtung und Veredelung der naturalistischen Triebe und Instinkte,
schuf die höher" Ziele einer geläuterten Humanität; nur eine krankhafte Ver¬
stimmung, mit moralischer Schlaffheit verbunden, konnte diese Wahrheit ver-


Aus dieser genetische» Perspektive ergiebt sich wu selbst die Zurückweisung
der sittlichen Ideen in dem Rousseauschen Sinne, als ans bestimmter Verab¬
redung, A-<?6t, wie Aristoteles sagen würde, hervorgegangen; diese rationalistische
Verflachung eines jeglicher berechnenden Willkür entzogenen universalhistorischen
Prozesses kann ebenso wenig auf wissenschaftliche Anerkennung heutzutage mehr
Anspruch machen, wie die umgekehrte idealistische Hypothese, die, mich hierin
antiken Vorbildern folgend, die Fülle der Wirklichkeit in Religion. Kunst, Sitte
»> s, f, aus apriorischen Ideen ableitete, als ob sie häufig nur durch eine vorüber¬
gehende Störung verdunkelt, durch sorgfältige Pflege ihre alte Frische und Kraft
wieder erhalten könnte», (Offenbar ist hier, wie gesagt, die platonische Ansicht von
der wirksam.) Der Mensch lebt sich vielmehr nur voll »ut ganz aus
als Aov ?r»^t7/t/vo. wie Aristoteles sagt, und das gilt von den Primitivsien
Anfängen sowohl wie von den leuchtenden Höhen der Kultur; nur in dem
Sinne ist der Mensch nach Leibnitzens Wort ein Spiegel der Menschheit, als
er alle Phasen der Gattnngsentwicklung in seine,» eigne» beschränkte» Ich re-
kopit»lire. sodaß wir, wie Bastion sich ausspricht, unser eignes Geistesleben und
sein organisches Wachstum in den Reflexen ethnologischer Spiegelung erschaue»,
"in in einem klar zurückgeworfenen Bilde das zu erkennen, was unmöglich sein
würde, an sich selbst abzusehn», (Beitr, z. vgl. Psych., Vorrede S. XI.). Ursprüng¬
lich existirt uicht, wie eine glaubeusselige Meinung uns gern berede» möchte,
n»c unbewegte Welt stiller Seligkeit und erhabenen Friedens, die erst durch
el"c ganz unerklärliche Bosheit oder Thorheit in eine Stätte der Sünde und
des Todes verwandelt ist, sonder» am Anfange der Dinge (um diesen in¬
korrekten Ausdruck zu gebrauchen) sah es auf Erden nach alle» zuverlässigen
Zeugnissen uicht besser, sonder» »»eiidlich viel schlechter aus als jetzt; that¬
sächlich herrschte der schon den alten Dichtern bekannte Krieg aller gegen alle
(wenn mich in der durch jede Organisation bedingten Grenzen), anfänglich war
Gut und Nützlich, wie Spinoza es ehrlich nusspricht, durchaus ununterscheidbar,
und alle frommen und sittlich schönen Regungen, die wir heute als nnvcrcmßcr-
liches Erbgut des Genus uomo «MM« ansehen, existirten nicht. Der roheste
Sir», eine Bestialität in der Auffassung und im Handeln sind vielmehr die
Kennzeichen jeuer primitiven Epoche, wohl verträglich mit allerlei sozial liebens¬
würdigen Zügen des äußern Betragens, die uns vielfach nur als ein Produkt
höherer Bildung möglich erscheinen. Die Aufopferung des eignen Selbst für
M'dre, die nachgebende Liebe und alles ertragende Geduld, die Bereitwilligkeit
der Versöhnung mit den Feinden, kurz die Überwindung des Egoismus durch
rein ideale Prinzipien suchen wir in der Natur und in dem Leben der Wilden
vergebens; erst die Kultur, d. h. i» diesem Sinne die ä'vnenlange soziale und
Politische Züchtung und Veredelung der naturalistischen Triebe und Instinkte,
schuf die höher» Ziele einer geläuterten Humanität; nur eine krankhafte Ver¬
stimmung, mit moralischer Schlaffheit verbunden, konnte diese Wahrheit ver-


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[0391] Aus dieser genetische» Perspektive ergiebt sich wu selbst die Zurückweisung der sittlichen Ideen in dem Rousseauschen Sinne, als ans bestimmter Verab¬ redung, A-<?6t, wie Aristoteles sagen würde, hervorgegangen; diese rationalistische Verflachung eines jeglicher berechnenden Willkür entzogenen universalhistorischen Prozesses kann ebenso wenig auf wissenschaftliche Anerkennung heutzutage mehr Anspruch machen, wie die umgekehrte idealistische Hypothese, die, mich hierin antiken Vorbildern folgend, die Fülle der Wirklichkeit in Religion. Kunst, Sitte »> s, f, aus apriorischen Ideen ableitete, als ob sie häufig nur durch eine vorüber¬ gehende Störung verdunkelt, durch sorgfältige Pflege ihre alte Frische und Kraft wieder erhalten könnte», (Offenbar ist hier, wie gesagt, die platonische Ansicht von der wirksam.) Der Mensch lebt sich vielmehr nur voll »ut ganz aus als Aov ?r»^t7/t/vo. wie Aristoteles sagt, und das gilt von den Primitivsien Anfängen sowohl wie von den leuchtenden Höhen der Kultur; nur in dem Sinne ist der Mensch nach Leibnitzens Wort ein Spiegel der Menschheit, als er alle Phasen der Gattnngsentwicklung in seine,» eigne» beschränkte» Ich re- kopit»lire. sodaß wir, wie Bastion sich ausspricht, unser eignes Geistesleben und sein organisches Wachstum in den Reflexen ethnologischer Spiegelung erschaue», "in in einem klar zurückgeworfenen Bilde das zu erkennen, was unmöglich sein würde, an sich selbst abzusehn», (Beitr, z. vgl. Psych., Vorrede S. XI.). Ursprüng¬ lich existirt uicht, wie eine glaubeusselige Meinung uns gern berede» möchte, n»c unbewegte Welt stiller Seligkeit und erhabenen Friedens, die erst durch el"c ganz unerklärliche Bosheit oder Thorheit in eine Stätte der Sünde und des Todes verwandelt ist, sonder» am Anfange der Dinge (um diesen in¬ korrekten Ausdruck zu gebrauchen) sah es auf Erden nach alle» zuverlässigen Zeugnissen uicht besser, sonder» »»eiidlich viel schlechter aus als jetzt; that¬ sächlich herrschte der schon den alten Dichtern bekannte Krieg aller gegen alle (wenn mich in der durch jede Organisation bedingten Grenzen), anfänglich war Gut und Nützlich, wie Spinoza es ehrlich nusspricht, durchaus ununterscheidbar, und alle frommen und sittlich schönen Regungen, die wir heute als nnvcrcmßcr- liches Erbgut des Genus uomo «MM« ansehen, existirten nicht. Der roheste Sir», eine Bestialität in der Auffassung und im Handeln sind vielmehr die Kennzeichen jeuer primitiven Epoche, wohl verträglich mit allerlei sozial liebens¬ würdigen Zügen des äußern Betragens, die uns vielfach nur als ein Produkt höherer Bildung möglich erscheinen. Die Aufopferung des eignen Selbst für M'dre, die nachgebende Liebe und alles ertragende Geduld, die Bereitwilligkeit der Versöhnung mit den Feinden, kurz die Überwindung des Egoismus durch rein ideale Prinzipien suchen wir in der Natur und in dem Leben der Wilden vergebens; erst die Kultur, d. h. i» diesem Sinne die ä'vnenlange soziale und Politische Züchtung und Veredelung der naturalistischen Triebe und Instinkte, schuf die höher» Ziele einer geläuterten Humanität; nur eine krankhafte Ver¬ stimmung, mit moralischer Schlaffheit verbunden, konnte diese Wahrheit ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/391>, abgerufen am 23.07.2024.