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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Natur und Kultur,

Weiberkommnnismus, so auch keine individuelle Schuld und kein individuelles
Recht. Jedes individuelle Recht, sagt mit Recht Post, ist vom vergleichend
ethnologischen Standpunkte ans erst ein Produkt einer unendlich langen Ent¬
wicklung, während die Urzeit lediglich Kolleltivrechte und Kollektivpflichten kennt.
Es giebt auf primitiven Stufen leine Verwandtschaft zwischen Individuum und
Individuum, kein eheliches Verhältnis zwischen zwei Individuen, leine individuelle
Vater- und Mutterschaft, kein individuelles Eigentum, keine individuelle For¬
derung, keine individuelle Schuld, (Bausteine f, e, allg, Rechtswiss. II, 232,)
Erst ganz allmählich rang sich ans diesen Elementen, je mehr die allgemeinen
Organisationsformen ans die Bedeutung des Einzelnen hinarbeiteten, der uns
jetzt geläufige Begriff einer freien, wenn auch durch bestimmte Verpflichtungen
eingeschränkten Persönlichkeit hervor, bis dann in dem (von Spencer so ge¬
nannten) Kampfe des Egoismus mit dem Altruismus dem letzteren Prinzip ein
immer steigendes Übergewicht zu teil wurde.

Welches Resultat gewinnen wir nun aus dieser Skizze für unsre Frage?
Dasselbe, welches wir schon oben andeuteten, nämlich daß trotz aller scheinbar
unversöhnlichen Gegensätze dieser gesamte Prozeß nur verständlich wird nnter der
Perspektive einer historisch-genetischen Entwicklung der Kultur aus dem Natur-
leben. Auch hier erweist sich unsre Gesittung nicht als ein plötzlich aus dem
Nichts hervortauchcndcs Wunder, sondern bis in das kleinste Detail hinein als
eine Frucht früherer Bildungen; auch hier setzt nicht ox M-uxtv ein sogenanntes
höheres Prinzip ein, "in so den organischen Fortgang des Werdens zu unter¬
brechen, sondern ohne feste Grenzbczcichnungcn verfließen die Epochen, bisweilen
selbst dem geschärften Blick nicht erkennbar, ineinander. Nur die willkürliche
Auslassung der verbindenden und stützenden Mittelglieder läßt die Pole dieser
Reihe als völlig unvereinbare Größen erscheinen. Eben lediglich deshalb, weil
die spekulative Philosophie in der Ethik und Rechtslehre von der als kalt
".ovowxli hingenommenen und nicht weiter psychologisch genetisch untersuchten
Höhe ihres Bewußtseins ausging, mußte sich die unendlich reiche Fülle der
ethnologischen Thatsachen als seltsame Geburten einer ausgelassenen Phantasie
aufnehmen, vielleicht wie alle Wunder von einigem psychologischen Interesse,
jedenfalls aber nicht wissenschaftlich verwendbar. Nur durch den immensen
Aufschwung, welchen alle modernen Disziplinen wesentlich unter Veranlassung
der Naturwissenschaft in der Gegenwart genommen haben, gelang es den sonst
überall schon maßgebenden entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkt auch auf die
Forschungen zu übertragen, welche gestützt auf ein umfassendes Material und
eine dem entsprechende Synthese es versuchten, die bisherigen Fragmente der¬
jenigen, was man als Weltgeschichte gläubig verehrte, in ihrem gegenseitigen
Zusammenhange zu erfassen, mit einem Worte eine Entwicklungsgeschichte des
menschlichen Bewußtseins auf streng empirischer Basis anzubahnen.


Natur und Kultur,

Weiberkommnnismus, so auch keine individuelle Schuld und kein individuelles
Recht. Jedes individuelle Recht, sagt mit Recht Post, ist vom vergleichend
ethnologischen Standpunkte ans erst ein Produkt einer unendlich langen Ent¬
wicklung, während die Urzeit lediglich Kolleltivrechte und Kollektivpflichten kennt.
Es giebt auf primitiven Stufen leine Verwandtschaft zwischen Individuum und
Individuum, kein eheliches Verhältnis zwischen zwei Individuen, leine individuelle
Vater- und Mutterschaft, kein individuelles Eigentum, keine individuelle For¬
derung, keine individuelle Schuld, (Bausteine f, e, allg, Rechtswiss. II, 232,)
Erst ganz allmählich rang sich ans diesen Elementen, je mehr die allgemeinen
Organisationsformen ans die Bedeutung des Einzelnen hinarbeiteten, der uns
jetzt geläufige Begriff einer freien, wenn auch durch bestimmte Verpflichtungen
eingeschränkten Persönlichkeit hervor, bis dann in dem (von Spencer so ge¬
nannten) Kampfe des Egoismus mit dem Altruismus dem letzteren Prinzip ein
immer steigendes Übergewicht zu teil wurde.

Welches Resultat gewinnen wir nun aus dieser Skizze für unsre Frage?
Dasselbe, welches wir schon oben andeuteten, nämlich daß trotz aller scheinbar
unversöhnlichen Gegensätze dieser gesamte Prozeß nur verständlich wird nnter der
Perspektive einer historisch-genetischen Entwicklung der Kultur aus dem Natur-
leben. Auch hier erweist sich unsre Gesittung nicht als ein plötzlich aus dem
Nichts hervortauchcndcs Wunder, sondern bis in das kleinste Detail hinein als
eine Frucht früherer Bildungen; auch hier setzt nicht ox M-uxtv ein sogenanntes
höheres Prinzip ein, »in so den organischen Fortgang des Werdens zu unter¬
brechen, sondern ohne feste Grenzbczcichnungcn verfließen die Epochen, bisweilen
selbst dem geschärften Blick nicht erkennbar, ineinander. Nur die willkürliche
Auslassung der verbindenden und stützenden Mittelglieder läßt die Pole dieser
Reihe als völlig unvereinbare Größen erscheinen. Eben lediglich deshalb, weil
die spekulative Philosophie in der Ethik und Rechtslehre von der als kalt
«.ovowxli hingenommenen und nicht weiter psychologisch genetisch untersuchten
Höhe ihres Bewußtseins ausging, mußte sich die unendlich reiche Fülle der
ethnologischen Thatsachen als seltsame Geburten einer ausgelassenen Phantasie
aufnehmen, vielleicht wie alle Wunder von einigem psychologischen Interesse,
jedenfalls aber nicht wissenschaftlich verwendbar. Nur durch den immensen
Aufschwung, welchen alle modernen Disziplinen wesentlich unter Veranlassung
der Naturwissenschaft in der Gegenwart genommen haben, gelang es den sonst
überall schon maßgebenden entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkt auch auf die
Forschungen zu übertragen, welche gestützt auf ein umfassendes Material und
eine dem entsprechende Synthese es versuchten, die bisherigen Fragmente der¬
jenigen, was man als Weltgeschichte gläubig verehrte, in ihrem gegenseitigen
Zusammenhange zu erfassen, mit einem Worte eine Entwicklungsgeschichte des
menschlichen Bewußtseins auf streng empirischer Basis anzubahnen.


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[0390] Natur und Kultur, Weiberkommnnismus, so auch keine individuelle Schuld und kein individuelles Recht. Jedes individuelle Recht, sagt mit Recht Post, ist vom vergleichend ethnologischen Standpunkte ans erst ein Produkt einer unendlich langen Ent¬ wicklung, während die Urzeit lediglich Kolleltivrechte und Kollektivpflichten kennt. Es giebt auf primitiven Stufen leine Verwandtschaft zwischen Individuum und Individuum, kein eheliches Verhältnis zwischen zwei Individuen, leine individuelle Vater- und Mutterschaft, kein individuelles Eigentum, keine individuelle For¬ derung, keine individuelle Schuld, (Bausteine f, e, allg, Rechtswiss. II, 232,) Erst ganz allmählich rang sich ans diesen Elementen, je mehr die allgemeinen Organisationsformen ans die Bedeutung des Einzelnen hinarbeiteten, der uns jetzt geläufige Begriff einer freien, wenn auch durch bestimmte Verpflichtungen eingeschränkten Persönlichkeit hervor, bis dann in dem (von Spencer so ge¬ nannten) Kampfe des Egoismus mit dem Altruismus dem letzteren Prinzip ein immer steigendes Übergewicht zu teil wurde. Welches Resultat gewinnen wir nun aus dieser Skizze für unsre Frage? Dasselbe, welches wir schon oben andeuteten, nämlich daß trotz aller scheinbar unversöhnlichen Gegensätze dieser gesamte Prozeß nur verständlich wird nnter der Perspektive einer historisch-genetischen Entwicklung der Kultur aus dem Natur- leben. Auch hier erweist sich unsre Gesittung nicht als ein plötzlich aus dem Nichts hervortauchcndcs Wunder, sondern bis in das kleinste Detail hinein als eine Frucht früherer Bildungen; auch hier setzt nicht ox M-uxtv ein sogenanntes höheres Prinzip ein, »in so den organischen Fortgang des Werdens zu unter¬ brechen, sondern ohne feste Grenzbczcichnungcn verfließen die Epochen, bisweilen selbst dem geschärften Blick nicht erkennbar, ineinander. Nur die willkürliche Auslassung der verbindenden und stützenden Mittelglieder läßt die Pole dieser Reihe als völlig unvereinbare Größen erscheinen. Eben lediglich deshalb, weil die spekulative Philosophie in der Ethik und Rechtslehre von der als kalt «.ovowxli hingenommenen und nicht weiter psychologisch genetisch untersuchten Höhe ihres Bewußtseins ausging, mußte sich die unendlich reiche Fülle der ethnologischen Thatsachen als seltsame Geburten einer ausgelassenen Phantasie aufnehmen, vielleicht wie alle Wunder von einigem psychologischen Interesse, jedenfalls aber nicht wissenschaftlich verwendbar. Nur durch den immensen Aufschwung, welchen alle modernen Disziplinen wesentlich unter Veranlassung der Naturwissenschaft in der Gegenwart genommen haben, gelang es den sonst überall schon maßgebenden entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkt auch auf die Forschungen zu übertragen, welche gestützt auf ein umfassendes Material und eine dem entsprechende Synthese es versuchten, die bisherigen Fragmente der¬ jenigen, was man als Weltgeschichte gläubig verehrte, in ihrem gegenseitigen Zusammenhange zu erfassen, mit einem Worte eine Entwicklungsgeschichte des menschlichen Bewußtseins auf streng empirischer Basis anzubahnen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/390>, abgerufen am 23.07.2024.