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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Der Notstand in Paris.

die Höhe gehen, und die Arbeitgeber wurden genötigt sein, sie zu zahlen oder
ihre Fabriken anderswohin zu verlegen. Die Zustünde in London sind fast
mit jedcni Jahre unerfreulicher geworden, weil der Staat der städtischen Be¬
völkerung erlaubt hat, großenteils in elenden, ungesunden Häusern und Hinter¬
höfen zu wohnen, für die man verhältnismäßig geringe Mieter zahlte. Trotz
allem, was die Regierung thun mag, werden Großstädte wie London, Paris
und Berlin immer zu viele Einwohner von auswärts an sich ziehen, aber es
ist entschieden unklug, wenn man die unvermeidliche Vermehrung der Bevölkerung
solcher Städte noch dadurch beschleunigt, daß man den Zuzug durch die Lock¬
speise billiger Mietpreise verstärkt. In diesem Punkte sollte sich die Aktion des
Staates auf folgendes beschränken: die Behörde sollte den Besitzern ungesunder
Wohnungen nicht gestatten, sie zu vermieten, sie sollte die Hauswirte zwingen,
solche Wohnungen nach den Anordnungen der Gesundheitspolizei umzubauen
oder zu beseitigen, und sie sollte alle Hausbesitzer bestrafen, welche sich weigern,
dieser Pflicht nachzukommen, und welche darüber betroffen werden, daß sie un¬
gesunde Stuben, Kammern oder sonstige Räume dieser Art vermietet haben.
Mischt dagegen die Regierung sich in den Gang der Dinge in der Weise, daß
sie im Mittelpunkte großer Städte billige Wohnungen für Arbeiter herstellen
läßt, so wird sie die vorhandene" Übel nur schlimmer und die Aufgabe einer
Beseitigung derselben unlösbar machen. In den Landbezirken, in Städten von
Mittelgröße, selbst in den Vororten und Vorstädten der großen Metropolen
läßt sich die Unterbringung der Armen ohne erhebliche Schwierigkeit bewerk¬
stelligen. In Paris ist dies jetzt schon eine fast unmögliche Sache, und die
Unmöglichkeit muß eine absolute werden, wenn man dnrch Darbietung billiger
Unterkunft unter Dach und Fach noch mehr Arme, noch mehr Proletarier
dahin lockt, als die Stadt bereits in ihren Mauern beherbergt. Man sollte
sich deshalb dort lieber bemühen, zu zerstreuen, statt zu sammeln, Abzug zu
schaffen, statt das Zentrum des Landes weiter mit Elementen zu füllen, die
unter Umständen sehr gefährlich werden können.

Natürlich würde Frankreich nicht Frankreich sein, wenn die wirtschaftliche
Krisis nicht politische Quacksalber erzeugte. "Man bedecke das Marsfeld mit
Häusern und vermiete sie an unsre Proletarier" riet, wie erwähnt, der Ver¬
treter Bellevilles. "Man setze die Religion wieder in ihre Rechte ein und
stelle die alten Zünfte wieder her," perorirte de Mur, der klerikale Kreuz¬
fahrer. "Der Individualismus richtet uns zu Grunde, der christliche Kom¬
munismus wird uns retten." Das letztere ist eine alte Behauptung, die wir
auch bei uns, z. B. von Bischof Ketteler, gehört haben, und die man kurz
mit den Worten ausdrücken kann: Klöster sind besser als Armenhäuser. Indes
steht dem Glauben der Klerikalen an gute Werke der Fanatismus des Parisers
gegen alle Religion und allen Zwang gegenüber. Leute, welche die "Bourgeois"
nicht als Herren über sich anerkennen, werden schwerlich Mönche oder Zunft-


Der Notstand in Paris.

die Höhe gehen, und die Arbeitgeber wurden genötigt sein, sie zu zahlen oder
ihre Fabriken anderswohin zu verlegen. Die Zustünde in London sind fast
mit jedcni Jahre unerfreulicher geworden, weil der Staat der städtischen Be¬
völkerung erlaubt hat, großenteils in elenden, ungesunden Häusern und Hinter¬
höfen zu wohnen, für die man verhältnismäßig geringe Mieter zahlte. Trotz
allem, was die Regierung thun mag, werden Großstädte wie London, Paris
und Berlin immer zu viele Einwohner von auswärts an sich ziehen, aber es
ist entschieden unklug, wenn man die unvermeidliche Vermehrung der Bevölkerung
solcher Städte noch dadurch beschleunigt, daß man den Zuzug durch die Lock¬
speise billiger Mietpreise verstärkt. In diesem Punkte sollte sich die Aktion des
Staates auf folgendes beschränken: die Behörde sollte den Besitzern ungesunder
Wohnungen nicht gestatten, sie zu vermieten, sie sollte die Hauswirte zwingen,
solche Wohnungen nach den Anordnungen der Gesundheitspolizei umzubauen
oder zu beseitigen, und sie sollte alle Hausbesitzer bestrafen, welche sich weigern,
dieser Pflicht nachzukommen, und welche darüber betroffen werden, daß sie un¬
gesunde Stuben, Kammern oder sonstige Räume dieser Art vermietet haben.
Mischt dagegen die Regierung sich in den Gang der Dinge in der Weise, daß
sie im Mittelpunkte großer Städte billige Wohnungen für Arbeiter herstellen
läßt, so wird sie die vorhandene» Übel nur schlimmer und die Aufgabe einer
Beseitigung derselben unlösbar machen. In den Landbezirken, in Städten von
Mittelgröße, selbst in den Vororten und Vorstädten der großen Metropolen
läßt sich die Unterbringung der Armen ohne erhebliche Schwierigkeit bewerk¬
stelligen. In Paris ist dies jetzt schon eine fast unmögliche Sache, und die
Unmöglichkeit muß eine absolute werden, wenn man dnrch Darbietung billiger
Unterkunft unter Dach und Fach noch mehr Arme, noch mehr Proletarier
dahin lockt, als die Stadt bereits in ihren Mauern beherbergt. Man sollte
sich deshalb dort lieber bemühen, zu zerstreuen, statt zu sammeln, Abzug zu
schaffen, statt das Zentrum des Landes weiter mit Elementen zu füllen, die
unter Umständen sehr gefährlich werden können.

Natürlich würde Frankreich nicht Frankreich sein, wenn die wirtschaftliche
Krisis nicht politische Quacksalber erzeugte. „Man bedecke das Marsfeld mit
Häusern und vermiete sie an unsre Proletarier" riet, wie erwähnt, der Ver¬
treter Bellevilles. „Man setze die Religion wieder in ihre Rechte ein und
stelle die alten Zünfte wieder her," perorirte de Mur, der klerikale Kreuz¬
fahrer. „Der Individualismus richtet uns zu Grunde, der christliche Kom¬
munismus wird uns retten." Das letztere ist eine alte Behauptung, die wir
auch bei uns, z. B. von Bischof Ketteler, gehört haben, und die man kurz
mit den Worten ausdrücken kann: Klöster sind besser als Armenhäuser. Indes
steht dem Glauben der Klerikalen an gute Werke der Fanatismus des Parisers
gegen alle Religion und allen Zwang gegenüber. Leute, welche die „Bourgeois"
nicht als Herren über sich anerkennen, werden schwerlich Mönche oder Zunft-


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[0366] Der Notstand in Paris. die Höhe gehen, und die Arbeitgeber wurden genötigt sein, sie zu zahlen oder ihre Fabriken anderswohin zu verlegen. Die Zustünde in London sind fast mit jedcni Jahre unerfreulicher geworden, weil der Staat der städtischen Be¬ völkerung erlaubt hat, großenteils in elenden, ungesunden Häusern und Hinter¬ höfen zu wohnen, für die man verhältnismäßig geringe Mieter zahlte. Trotz allem, was die Regierung thun mag, werden Großstädte wie London, Paris und Berlin immer zu viele Einwohner von auswärts an sich ziehen, aber es ist entschieden unklug, wenn man die unvermeidliche Vermehrung der Bevölkerung solcher Städte noch dadurch beschleunigt, daß man den Zuzug durch die Lock¬ speise billiger Mietpreise verstärkt. In diesem Punkte sollte sich die Aktion des Staates auf folgendes beschränken: die Behörde sollte den Besitzern ungesunder Wohnungen nicht gestatten, sie zu vermieten, sie sollte die Hauswirte zwingen, solche Wohnungen nach den Anordnungen der Gesundheitspolizei umzubauen oder zu beseitigen, und sie sollte alle Hausbesitzer bestrafen, welche sich weigern, dieser Pflicht nachzukommen, und welche darüber betroffen werden, daß sie un¬ gesunde Stuben, Kammern oder sonstige Räume dieser Art vermietet haben. Mischt dagegen die Regierung sich in den Gang der Dinge in der Weise, daß sie im Mittelpunkte großer Städte billige Wohnungen für Arbeiter herstellen läßt, so wird sie die vorhandene» Übel nur schlimmer und die Aufgabe einer Beseitigung derselben unlösbar machen. In den Landbezirken, in Städten von Mittelgröße, selbst in den Vororten und Vorstädten der großen Metropolen läßt sich die Unterbringung der Armen ohne erhebliche Schwierigkeit bewerk¬ stelligen. In Paris ist dies jetzt schon eine fast unmögliche Sache, und die Unmöglichkeit muß eine absolute werden, wenn man dnrch Darbietung billiger Unterkunft unter Dach und Fach noch mehr Arme, noch mehr Proletarier dahin lockt, als die Stadt bereits in ihren Mauern beherbergt. Man sollte sich deshalb dort lieber bemühen, zu zerstreuen, statt zu sammeln, Abzug zu schaffen, statt das Zentrum des Landes weiter mit Elementen zu füllen, die unter Umständen sehr gefährlich werden können. Natürlich würde Frankreich nicht Frankreich sein, wenn die wirtschaftliche Krisis nicht politische Quacksalber erzeugte. „Man bedecke das Marsfeld mit Häusern und vermiete sie an unsre Proletarier" riet, wie erwähnt, der Ver¬ treter Bellevilles. „Man setze die Religion wieder in ihre Rechte ein und stelle die alten Zünfte wieder her," perorirte de Mur, der klerikale Kreuz¬ fahrer. „Der Individualismus richtet uns zu Grunde, der christliche Kom¬ munismus wird uns retten." Das letztere ist eine alte Behauptung, die wir auch bei uns, z. B. von Bischof Ketteler, gehört haben, und die man kurz mit den Worten ausdrücken kann: Klöster sind besser als Armenhäuser. Indes steht dem Glauben der Klerikalen an gute Werke der Fanatismus des Parisers gegen alle Religion und allen Zwang gegenüber. Leute, welche die „Bourgeois" nicht als Herren über sich anerkennen, werden schwerlich Mönche oder Zunft-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/366>, abgerufen am 02.07.2024.