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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Der Notstand in Paris.

billiger Arbeitskräfte, die ans der Normandie und dem Jura käme". Dagegen
hat ein Pariser Fabrikant es fertig gebracht, in der Herstellung wohlfeiler
Spielsachen selbst Deutschland zu übertreffen, gewiß eine bemerkenswerte Lei¬
stung, wenn man bedenkt, was Nürnberg und das sächsische Erzgebirge auf
diesem Gebiete für ein paar Groschen dem Markte zu liefern vermögen. Die
Not unter den Maurern nud Zimmerleuten ist, wie der Minister weiter be¬
hauptete, der Bauwut der letzten sechs Jahre zuzuschreiben: man hat in dieser
Zeit zuviel kostspielige Hänser gebaut. Die Regierung war bereit, die Her¬
stellung wohlfeiler Wohnungen für Arbeiter zu sanktioniren, aber der Gemeinde-
rat wollte nicht. Um die Lage der Dinge zu mildern, wird man die Zahl der
an Landstraßen beschäftigten Arbeiter vermehren und überhaupt mit öffentlichen
Arbeiten energischer als bisher vorgehen.

Wir fürchten, daß weder Herr Ferry noch die Redner von der Farbe
Tory Revillons sich die Wirkung der von ihnen ins Auge gefaßten wirtschaft¬
lichen Maßregeln recht klar gemacht haben. Gewiß ist es eine ganz berechtigte
Verwendung der Staatskraft, wenn man ungesunde Häuser, die Herde ansteckender
Krankheiten, abreißt und durch gesunde ersetzt, aber die Herstellung billiger
Wohnungen für die Pariser Arbeiterbevölkerung könnte die Lage nur ver¬
schlimmern. Wenn hier Tausende ohne Arbeit sind, so liegt es doch aus der
Hand, daß die einzige Abhilfe darin besteht, daß dieselben Paris verlassen und
sich anderwärts Beschäftigung suchen. Statt dessen mischt sich die Regierung
ein und veranlaßt sie zu bleiben, indem sie ihnen billigere Mieter verschafft.
Die Arbeiter in der Provinz hören ferner, daß in Paris für Leute ihrer Klasse
mis Staatskosten wohlfeile Wohnungen hergestellt werden sollen, und natürlich
drängen sie sich auf diese Kunde nach dem Paradiese, das ihnen i" Aussicht
gestellt wird. Aber das Lebe" verlangt mehr als Wohnung, und selbst eine
umsonst zu habende Stube für den Arbeiter löst das Problem uoch keineswegs,
sie macht die Not nur ärger, da sie deu Blutandrang nach dem Gehirn, das
Zuströmen der Bevölkerung nach der Großstadt, vermehrt, und mehr Angebot
von Arbeit den Preis derselben, die Löhne, herabdrückt. Ein Arbeiter, der mit
einem Unternehmer unterhandelte, konnte sagen: "Ich kann mit dem oder jenem
Lohne nicht auskommen; denn ich muß so und so viel Franks wöchentlich für
eine Stube bezahle"." Thut aber jetzt der Staat Schritte, ihm für die Hälfte
der früheren Miete Unterkunft zu verschaffen, so fällt die Berechtigung des
Arbeiters zu höheren Lohne weg, und der Unternehmer kann den Lohn daraufhin
getrost herabsetzen, da die Veränderung der Mietpreise einen Andrang aus¬
wärtiger Arbeitskräfte zur Wettbewerbung um Beschäftigung veranlaßt hat, der
ihm doppelt so viel Hände zur Verfügung stellt, als sich ihm vorher boten.
Statt billiger Wohnungen im Zentrum der Großstädte sollte der Arbeiterfrcuud
vielmehr wünschen, daß sie teuer wären. Denn was würde die Folge sein?
Die Löhne in Berlin, Wien, London, Paris u. s. w. würden fortwährend in


Der Notstand in Paris.

billiger Arbeitskräfte, die ans der Normandie und dem Jura käme». Dagegen
hat ein Pariser Fabrikant es fertig gebracht, in der Herstellung wohlfeiler
Spielsachen selbst Deutschland zu übertreffen, gewiß eine bemerkenswerte Lei¬
stung, wenn man bedenkt, was Nürnberg und das sächsische Erzgebirge auf
diesem Gebiete für ein paar Groschen dem Markte zu liefern vermögen. Die
Not unter den Maurern nud Zimmerleuten ist, wie der Minister weiter be¬
hauptete, der Bauwut der letzten sechs Jahre zuzuschreiben: man hat in dieser
Zeit zuviel kostspielige Hänser gebaut. Die Regierung war bereit, die Her¬
stellung wohlfeiler Wohnungen für Arbeiter zu sanktioniren, aber der Gemeinde-
rat wollte nicht. Um die Lage der Dinge zu mildern, wird man die Zahl der
an Landstraßen beschäftigten Arbeiter vermehren und überhaupt mit öffentlichen
Arbeiten energischer als bisher vorgehen.

Wir fürchten, daß weder Herr Ferry noch die Redner von der Farbe
Tory Revillons sich die Wirkung der von ihnen ins Auge gefaßten wirtschaft¬
lichen Maßregeln recht klar gemacht haben. Gewiß ist es eine ganz berechtigte
Verwendung der Staatskraft, wenn man ungesunde Häuser, die Herde ansteckender
Krankheiten, abreißt und durch gesunde ersetzt, aber die Herstellung billiger
Wohnungen für die Pariser Arbeiterbevölkerung könnte die Lage nur ver¬
schlimmern. Wenn hier Tausende ohne Arbeit sind, so liegt es doch aus der
Hand, daß die einzige Abhilfe darin besteht, daß dieselben Paris verlassen und
sich anderwärts Beschäftigung suchen. Statt dessen mischt sich die Regierung
ein und veranlaßt sie zu bleiben, indem sie ihnen billigere Mieter verschafft.
Die Arbeiter in der Provinz hören ferner, daß in Paris für Leute ihrer Klasse
mis Staatskosten wohlfeile Wohnungen hergestellt werden sollen, und natürlich
drängen sie sich auf diese Kunde nach dem Paradiese, das ihnen i» Aussicht
gestellt wird. Aber das Lebe» verlangt mehr als Wohnung, und selbst eine
umsonst zu habende Stube für den Arbeiter löst das Problem uoch keineswegs,
sie macht die Not nur ärger, da sie deu Blutandrang nach dem Gehirn, das
Zuströmen der Bevölkerung nach der Großstadt, vermehrt, und mehr Angebot
von Arbeit den Preis derselben, die Löhne, herabdrückt. Ein Arbeiter, der mit
einem Unternehmer unterhandelte, konnte sagen: „Ich kann mit dem oder jenem
Lohne nicht auskommen; denn ich muß so und so viel Franks wöchentlich für
eine Stube bezahle»." Thut aber jetzt der Staat Schritte, ihm für die Hälfte
der früheren Miete Unterkunft zu verschaffen, so fällt die Berechtigung des
Arbeiters zu höheren Lohne weg, und der Unternehmer kann den Lohn daraufhin
getrost herabsetzen, da die Veränderung der Mietpreise einen Andrang aus¬
wärtiger Arbeitskräfte zur Wettbewerbung um Beschäftigung veranlaßt hat, der
ihm doppelt so viel Hände zur Verfügung stellt, als sich ihm vorher boten.
Statt billiger Wohnungen im Zentrum der Großstädte sollte der Arbeiterfrcuud
vielmehr wünschen, daß sie teuer wären. Denn was würde die Folge sein?
Die Löhne in Berlin, Wien, London, Paris u. s. w. würden fortwährend in


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[0365] Der Notstand in Paris. billiger Arbeitskräfte, die ans der Normandie und dem Jura käme». Dagegen hat ein Pariser Fabrikant es fertig gebracht, in der Herstellung wohlfeiler Spielsachen selbst Deutschland zu übertreffen, gewiß eine bemerkenswerte Lei¬ stung, wenn man bedenkt, was Nürnberg und das sächsische Erzgebirge auf diesem Gebiete für ein paar Groschen dem Markte zu liefern vermögen. Die Not unter den Maurern nud Zimmerleuten ist, wie der Minister weiter be¬ hauptete, der Bauwut der letzten sechs Jahre zuzuschreiben: man hat in dieser Zeit zuviel kostspielige Hänser gebaut. Die Regierung war bereit, die Her¬ stellung wohlfeiler Wohnungen für Arbeiter zu sanktioniren, aber der Gemeinde- rat wollte nicht. Um die Lage der Dinge zu mildern, wird man die Zahl der an Landstraßen beschäftigten Arbeiter vermehren und überhaupt mit öffentlichen Arbeiten energischer als bisher vorgehen. Wir fürchten, daß weder Herr Ferry noch die Redner von der Farbe Tory Revillons sich die Wirkung der von ihnen ins Auge gefaßten wirtschaft¬ lichen Maßregeln recht klar gemacht haben. Gewiß ist es eine ganz berechtigte Verwendung der Staatskraft, wenn man ungesunde Häuser, die Herde ansteckender Krankheiten, abreißt und durch gesunde ersetzt, aber die Herstellung billiger Wohnungen für die Pariser Arbeiterbevölkerung könnte die Lage nur ver¬ schlimmern. Wenn hier Tausende ohne Arbeit sind, so liegt es doch aus der Hand, daß die einzige Abhilfe darin besteht, daß dieselben Paris verlassen und sich anderwärts Beschäftigung suchen. Statt dessen mischt sich die Regierung ein und veranlaßt sie zu bleiben, indem sie ihnen billigere Mieter verschafft. Die Arbeiter in der Provinz hören ferner, daß in Paris für Leute ihrer Klasse mis Staatskosten wohlfeile Wohnungen hergestellt werden sollen, und natürlich drängen sie sich auf diese Kunde nach dem Paradiese, das ihnen i» Aussicht gestellt wird. Aber das Lebe» verlangt mehr als Wohnung, und selbst eine umsonst zu habende Stube für den Arbeiter löst das Problem uoch keineswegs, sie macht die Not nur ärger, da sie deu Blutandrang nach dem Gehirn, das Zuströmen der Bevölkerung nach der Großstadt, vermehrt, und mehr Angebot von Arbeit den Preis derselben, die Löhne, herabdrückt. Ein Arbeiter, der mit einem Unternehmer unterhandelte, konnte sagen: „Ich kann mit dem oder jenem Lohne nicht auskommen; denn ich muß so und so viel Franks wöchentlich für eine Stube bezahle»." Thut aber jetzt der Staat Schritte, ihm für die Hälfte der früheren Miete Unterkunft zu verschaffen, so fällt die Berechtigung des Arbeiters zu höheren Lohne weg, und der Unternehmer kann den Lohn daraufhin getrost herabsetzen, da die Veränderung der Mietpreise einen Andrang aus¬ wärtiger Arbeitskräfte zur Wettbewerbung um Beschäftigung veranlaßt hat, der ihm doppelt so viel Hände zur Verfügung stellt, als sich ihm vorher boten. Statt billiger Wohnungen im Zentrum der Großstädte sollte der Arbeiterfrcuud vielmehr wünschen, daß sie teuer wären. Denn was würde die Folge sein? Die Löhne in Berlin, Wien, London, Paris u. s. w. würden fortwährend in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/365>, abgerufen am 02.07.2024.