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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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ver Notstand in Paris.

obermeister zu Diktatoren über sich wähle". Die wahre Gefahr liegt darin,
daß die äußerste Linke eines schönen Tages den Einfall haben kann, die Krisis
zu Parteizwecken zu benutzen und den Arbeitern die Flinte in die Hand zu
geben. Es hat etwas Komisches, zu sehen, wie Ferry den Blick von Tonkin
weg und den Straßen von Paris zuwendet, wo es jeden Tag eine Revolution
geben kann. Auch die Ausdehnung des französischen Kolonialgebietes verheißt
dem französischen Gewerbe keine Hilfe in der Not. Der Handel mit Algerien,
einer alten Kolonie, hat sich in den letzten zehn Jahren thatsächlich um
25 Prozent vermindert, ein deutlicher Beweis für den Umstand, daß bei unser"
Nachbarn nicht wie bei den Engländern der Handel der Fahne folge" muß.
Wen" das mit einer Besitzung der Fall ist, die Frankreich seit länger als einem
halben Jahrhundert gehört, so ist von der neuen Eroberung in Hinterindien
gewiß noch weniger zu hoffen. Im Hinblick auf jedwede Zunahme der Un¬
zufriedenheit in Paris werden alle Beobachter der französischen Politik sich
erinnern müssen, daß eine Revolte dort jetzt mehr Aussicht auf Erfolg hätte
als 1871. Alle Mittelpunkte der staatlichen Autorität liegen jetzt innerhalb
des Griffes des Pöbels, und Frankreich hätte jetzt, wenn die bösen Geister
von der roten Fahne sich gegen die besitzende Klasse erhöben, keine Regierung
und Gesetzgebung in Versailles, um die es sich sammeln könnte. Andererseits
freilich existirt in Paris auch keine Nationalgarde mehr, welche dem Volke der
Straße Mut einflößte und die Soldaten verführte. Die Revolution steht
sicher noch nicht vor der Thür, aber immerhin am Gesichtskreise, und schon
eines der nächsten Jahre kann sie bringen, und wer sich entsinne, was für
grimmige Leidenschaften vor dreizehn Jahren plötzlich erwachten, und wie bitter
die Überlebenden von den Kommunarden die Erschießungen und Deportationen
ihrer Genosse" empfanden, dem wird schon das erste Murren der Pariser
Unzufriedenheit unheimlich und Unheil bedeutend genug vorkommen.




ver Notstand in Paris.

obermeister zu Diktatoren über sich wähle». Die wahre Gefahr liegt darin,
daß die äußerste Linke eines schönen Tages den Einfall haben kann, die Krisis
zu Parteizwecken zu benutzen und den Arbeitern die Flinte in die Hand zu
geben. Es hat etwas Komisches, zu sehen, wie Ferry den Blick von Tonkin
weg und den Straßen von Paris zuwendet, wo es jeden Tag eine Revolution
geben kann. Auch die Ausdehnung des französischen Kolonialgebietes verheißt
dem französischen Gewerbe keine Hilfe in der Not. Der Handel mit Algerien,
einer alten Kolonie, hat sich in den letzten zehn Jahren thatsächlich um
25 Prozent vermindert, ein deutlicher Beweis für den Umstand, daß bei unser»
Nachbarn nicht wie bei den Engländern der Handel der Fahne folge» muß.
Wen» das mit einer Besitzung der Fall ist, die Frankreich seit länger als einem
halben Jahrhundert gehört, so ist von der neuen Eroberung in Hinterindien
gewiß noch weniger zu hoffen. Im Hinblick auf jedwede Zunahme der Un¬
zufriedenheit in Paris werden alle Beobachter der französischen Politik sich
erinnern müssen, daß eine Revolte dort jetzt mehr Aussicht auf Erfolg hätte
als 1871. Alle Mittelpunkte der staatlichen Autorität liegen jetzt innerhalb
des Griffes des Pöbels, und Frankreich hätte jetzt, wenn die bösen Geister
von der roten Fahne sich gegen die besitzende Klasse erhöben, keine Regierung
und Gesetzgebung in Versailles, um die es sich sammeln könnte. Andererseits
freilich existirt in Paris auch keine Nationalgarde mehr, welche dem Volke der
Straße Mut einflößte und die Soldaten verführte. Die Revolution steht
sicher noch nicht vor der Thür, aber immerhin am Gesichtskreise, und schon
eines der nächsten Jahre kann sie bringen, und wer sich entsinne, was für
grimmige Leidenschaften vor dreizehn Jahren plötzlich erwachten, und wie bitter
die Überlebenden von den Kommunarden die Erschießungen und Deportationen
ihrer Genosse» empfanden, dem wird schon das erste Murren der Pariser
Unzufriedenheit unheimlich und Unheil bedeutend genug vorkommen.




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[0367] ver Notstand in Paris. obermeister zu Diktatoren über sich wähle». Die wahre Gefahr liegt darin, daß die äußerste Linke eines schönen Tages den Einfall haben kann, die Krisis zu Parteizwecken zu benutzen und den Arbeitern die Flinte in die Hand zu geben. Es hat etwas Komisches, zu sehen, wie Ferry den Blick von Tonkin weg und den Straßen von Paris zuwendet, wo es jeden Tag eine Revolution geben kann. Auch die Ausdehnung des französischen Kolonialgebietes verheißt dem französischen Gewerbe keine Hilfe in der Not. Der Handel mit Algerien, einer alten Kolonie, hat sich in den letzten zehn Jahren thatsächlich um 25 Prozent vermindert, ein deutlicher Beweis für den Umstand, daß bei unser» Nachbarn nicht wie bei den Engländern der Handel der Fahne folge» muß. Wen» das mit einer Besitzung der Fall ist, die Frankreich seit länger als einem halben Jahrhundert gehört, so ist von der neuen Eroberung in Hinterindien gewiß noch weniger zu hoffen. Im Hinblick auf jedwede Zunahme der Un¬ zufriedenheit in Paris werden alle Beobachter der französischen Politik sich erinnern müssen, daß eine Revolte dort jetzt mehr Aussicht auf Erfolg hätte als 1871. Alle Mittelpunkte der staatlichen Autorität liegen jetzt innerhalb des Griffes des Pöbels, und Frankreich hätte jetzt, wenn die bösen Geister von der roten Fahne sich gegen die besitzende Klasse erhöben, keine Regierung und Gesetzgebung in Versailles, um die es sich sammeln könnte. Andererseits freilich existirt in Paris auch keine Nationalgarde mehr, welche dem Volke der Straße Mut einflößte und die Soldaten verführte. Die Revolution steht sicher noch nicht vor der Thür, aber immerhin am Gesichtskreise, und schon eines der nächsten Jahre kann sie bringen, und wer sich entsinne, was für grimmige Leidenschaften vor dreizehn Jahren plötzlich erwachten, und wie bitter die Überlebenden von den Kommunarden die Erschießungen und Deportationen ihrer Genosse» empfanden, dem wird schon das erste Murren der Pariser Unzufriedenheit unheimlich und Unheil bedeutend genug vorkommen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/367>, abgerufen am 30.06.2024.