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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

der Geliebten oben in den Trümmern der alten Burg, denkt sich als Knappen
des Schloßherrn, sie als Kellnerin:


Und als sich gegen den Abend
Im stillen alles verlor,
Da blickte die glühende Sonne
Zum schroffen Gipfel empor.
Und Knapp und Kellnerin glänzen
Als Herren weit und breit.

Die eigentlich klassische Stelle aber für die Abendcmpfindung bleibt für immer
Fausts Nachruf an die scheidende Sonne:


Betrachte, wie in Abendsonueglut
Die grünnmgcbnen Hütten schimmern u. s. w.

Er möchte schwebend die Sonne begleiten und so eines immerwährenden Abends
genießen, sähe ewig die Höhen entzündet, die Thäler beruhigt, die Silberbande
in den goldnen Strom sich ergießend; flöge über das rauhe Gebirge weg, das
Meer mit erwärmten Buchten thäte sich vor seine" Blicken auf; so eilt er der
Sonne nach, vor sich den Tag und hinter sich die Nacht. Doch da wir an
die Erde, den Boden, auf dem wir stehen, gebunden sind, so senkt sich die
Nacht, die Finsternis auf uns herab und wir können uns ihrer nicht erwehren.

Die Nacht ist dem Naturmenschen, wie dem Kinde, die Mutter der
Schrecken, in ihrem Dunkel streifen die bösen Geister umher, und sie leiht ihnen
ihren Schutz zu schadenfrohem Thun. Da werden die Nebelstreifen an den
grauen Weiden zu Gestalten und der in dürren Blättern raschelnde Wind zu
verderblicher Rede. Dem Kinde in des heimeilenden Vaters Arme flüstert der
Elfenkönig verlockende Worte zu und erstickt es, da es nicht folgen will. Wenn
"der Abend die Erde wiegt" und "an den Bergen schon die Nacht hängt"
(Willkommen und Abschied), dann reitet der Dichter über Land, hinaus zu der
Geliebte": die Winde sausen schauerlich, die Nacht schafft tausend Ungeheuer,
wie ein aufgetürmter Riese steht im Nebelkleide der Eichbaum da. und aus
dem Gesträuche blickt die Finsternis mit hundert schwarzen Augen. "Wenn ich
abends auf dem Altan, der zwischen den Giebeln des Hauses angebracht ist,
spazierte, über die Gegend hinsah und von der herabgewichenen Sonne ein
zitternder Schein herausdämmerte, die Sterne hervortraten, aus allen Winkeln
und Tiefen die Nacht hervordrang" u. s. w. (Wilhelm Meister 1, 7). In den
Zigeunerszenen des "Götz" (erster Bearbeitung) fehlt nichts, was die Winter¬
nacht fürchterlich macht: die Wcrwölfe, der wilde Jäger, die krächzenden Ge¬
spenster, das Geheul der Hunde und der Wölfe, die Irrlichter im Sumpfgebüsch,
der Schnecstrom in der Schlucht, der dem kletternden Buben um die Beine
schießt u. s. w. Unthaten jeder Art verbergen sich im Schoße der Nacht
(Iphigenie 1, 3):


Gedanken über Goethe.

der Geliebten oben in den Trümmern der alten Burg, denkt sich als Knappen
des Schloßherrn, sie als Kellnerin:


Und als sich gegen den Abend
Im stillen alles verlor,
Da blickte die glühende Sonne
Zum schroffen Gipfel empor.
Und Knapp und Kellnerin glänzen
Als Herren weit und breit.

Die eigentlich klassische Stelle aber für die Abendcmpfindung bleibt für immer
Fausts Nachruf an die scheidende Sonne:


Betrachte, wie in Abendsonueglut
Die grünnmgcbnen Hütten schimmern u. s. w.

Er möchte schwebend die Sonne begleiten und so eines immerwährenden Abends
genießen, sähe ewig die Höhen entzündet, die Thäler beruhigt, die Silberbande
in den goldnen Strom sich ergießend; flöge über das rauhe Gebirge weg, das
Meer mit erwärmten Buchten thäte sich vor seine» Blicken auf; so eilt er der
Sonne nach, vor sich den Tag und hinter sich die Nacht. Doch da wir an
die Erde, den Boden, auf dem wir stehen, gebunden sind, so senkt sich die
Nacht, die Finsternis auf uns herab und wir können uns ihrer nicht erwehren.

Die Nacht ist dem Naturmenschen, wie dem Kinde, die Mutter der
Schrecken, in ihrem Dunkel streifen die bösen Geister umher, und sie leiht ihnen
ihren Schutz zu schadenfrohem Thun. Da werden die Nebelstreifen an den
grauen Weiden zu Gestalten und der in dürren Blättern raschelnde Wind zu
verderblicher Rede. Dem Kinde in des heimeilenden Vaters Arme flüstert der
Elfenkönig verlockende Worte zu und erstickt es, da es nicht folgen will. Wenn
„der Abend die Erde wiegt" und „an den Bergen schon die Nacht hängt"
(Willkommen und Abschied), dann reitet der Dichter über Land, hinaus zu der
Geliebte«: die Winde sausen schauerlich, die Nacht schafft tausend Ungeheuer,
wie ein aufgetürmter Riese steht im Nebelkleide der Eichbaum da. und aus
dem Gesträuche blickt die Finsternis mit hundert schwarzen Augen. „Wenn ich
abends auf dem Altan, der zwischen den Giebeln des Hauses angebracht ist,
spazierte, über die Gegend hinsah und von der herabgewichenen Sonne ein
zitternder Schein herausdämmerte, die Sterne hervortraten, aus allen Winkeln
und Tiefen die Nacht hervordrang" u. s. w. (Wilhelm Meister 1, 7). In den
Zigeunerszenen des „Götz" (erster Bearbeitung) fehlt nichts, was die Winter¬
nacht fürchterlich macht: die Wcrwölfe, der wilde Jäger, die krächzenden Ge¬
spenster, das Geheul der Hunde und der Wölfe, die Irrlichter im Sumpfgebüsch,
der Schnecstrom in der Schlucht, der dem kletternden Buben um die Beine
schießt u. s. w. Unthaten jeder Art verbergen sich im Schoße der Nacht
(Iphigenie 1, 3):


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[0349] Gedanken über Goethe. der Geliebten oben in den Trümmern der alten Burg, denkt sich als Knappen des Schloßherrn, sie als Kellnerin: Und als sich gegen den Abend Im stillen alles verlor, Da blickte die glühende Sonne Zum schroffen Gipfel empor. Und Knapp und Kellnerin glänzen Als Herren weit und breit. Die eigentlich klassische Stelle aber für die Abendcmpfindung bleibt für immer Fausts Nachruf an die scheidende Sonne: Betrachte, wie in Abendsonueglut Die grünnmgcbnen Hütten schimmern u. s. w. Er möchte schwebend die Sonne begleiten und so eines immerwährenden Abends genießen, sähe ewig die Höhen entzündet, die Thäler beruhigt, die Silberbande in den goldnen Strom sich ergießend; flöge über das rauhe Gebirge weg, das Meer mit erwärmten Buchten thäte sich vor seine» Blicken auf; so eilt er der Sonne nach, vor sich den Tag und hinter sich die Nacht. Doch da wir an die Erde, den Boden, auf dem wir stehen, gebunden sind, so senkt sich die Nacht, die Finsternis auf uns herab und wir können uns ihrer nicht erwehren. Die Nacht ist dem Naturmenschen, wie dem Kinde, die Mutter der Schrecken, in ihrem Dunkel streifen die bösen Geister umher, und sie leiht ihnen ihren Schutz zu schadenfrohem Thun. Da werden die Nebelstreifen an den grauen Weiden zu Gestalten und der in dürren Blättern raschelnde Wind zu verderblicher Rede. Dem Kinde in des heimeilenden Vaters Arme flüstert der Elfenkönig verlockende Worte zu und erstickt es, da es nicht folgen will. Wenn „der Abend die Erde wiegt" und „an den Bergen schon die Nacht hängt" (Willkommen und Abschied), dann reitet der Dichter über Land, hinaus zu der Geliebte«: die Winde sausen schauerlich, die Nacht schafft tausend Ungeheuer, wie ein aufgetürmter Riese steht im Nebelkleide der Eichbaum da. und aus dem Gesträuche blickt die Finsternis mit hundert schwarzen Augen. „Wenn ich abends auf dem Altan, der zwischen den Giebeln des Hauses angebracht ist, spazierte, über die Gegend hinsah und von der herabgewichenen Sonne ein zitternder Schein herausdämmerte, die Sterne hervortraten, aus allen Winkeln und Tiefen die Nacht hervordrang" u. s. w. (Wilhelm Meister 1, 7). In den Zigeunerszenen des „Götz" (erster Bearbeitung) fehlt nichts, was die Winter¬ nacht fürchterlich macht: die Wcrwölfe, der wilde Jäger, die krächzenden Ge¬ spenster, das Geheul der Hunde und der Wölfe, die Irrlichter im Sumpfgebüsch, der Schnecstrom in der Schlucht, der dem kletternden Buben um die Beine schießt u. s. w. Unthaten jeder Art verbergen sich im Schoße der Nacht (Iphigenie 1, 3):

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/349>, abgerufen am 28.09.2024.