Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Gedanken über Goethe.

auch diesem Herzen! Nein, es ist Her Born, der nie versiegt, das Feuer, das
nie verlischt, keine Ewigkeit nicht! Beste Frau, auch in dir nicht, die du manch¬
mal wähnst, der heilige Geist des Lebens habe dich verlassen." Ähnlich an
den Herzog tags darauf: "Ich habe die Nacht durch manches Kranichen Ge¬
dankenzwirn auf- und abgewickelt; diesen Morgen ging mir die göttliche Sonne
hinter Naumburg auf." Der Morgen im Frühling, vom Berge, wenn der
Nebel noch im Thale liegt und die Nachtigall noch nicht verstummt ist, leuchtet
und blüht im "Ganymed":


Wie im Morgenglanze
Du rings mich anglühst,
Frühling, Geliebter!
Du kühlst den brennenden
Durst meines Busens,
Lieblicher Morgenwind --

"Mir wars frei in der Seele, rein wie ein Frühlingsmorgen" (Stella), "Süßer
Morgenkühle Kinderstammeln" (Elpenor) --


Mit dem tauscndfarbigen Morgen
Lachse du ins Herz ihm. (Harzreisc im Winter)

Früh am Novembertage rollen am Steine der Geliebten die Thautropfen nieder,
"die schönen Thränen des Himmels" (an Frau von Stein, 17. November 1782*).
Wie die aufgehende Sonne uns mit der Kraft und Freude des Lebens erfüllt,
so ist die untergehende ein Bild jähen Abschiedes, frühen Todes:


Trunkncn vom letzten Strahl
Reiß mich, ein Feuermeer
Mir im schäumenden Aug,
Mich geblendeten Taumelnden,
In der Holle nächtliches Thor. (An Schwager Kronos)

Auch wenn die Dunkelheit eingebrochen, brennt das Licht der Sonne noch in
der Seele, und bald kündigt sich der neue Tag im Osten wieder an.


Wie der süße Dllmmerschein
Der weggcschiedncn Sonne
Dort hinaufschwimmt
Vom finstern Kaukasus
Und meine Seel umgiebt mit Wonncruh,
Abwesend auch mir immer gegenwärtig. (Prometheus)

Anders ist die Stimmung in dem Liede "Bergschloß": der Dichter steht mit



*) Noch in "Wahrheit und Dichtung" (Buch 7) derselbe poetische Ausdruck: "die un¬
schuldigen Pflanzenthränen"; sie benetzen dort den in die Rinde des Baumes geschnittenen
Namen der Geliebten. So ist auch der Fels am Sipylusgcbirge, in den die Niobe ver¬
wandelt worden, feucht von den Thränen der Unglücklichen, die ewig ihre Kinder beweint.
Gedanken über Goethe.

auch diesem Herzen! Nein, es ist Her Born, der nie versiegt, das Feuer, das
nie verlischt, keine Ewigkeit nicht! Beste Frau, auch in dir nicht, die du manch¬
mal wähnst, der heilige Geist des Lebens habe dich verlassen." Ähnlich an
den Herzog tags darauf: „Ich habe die Nacht durch manches Kranichen Ge¬
dankenzwirn auf- und abgewickelt; diesen Morgen ging mir die göttliche Sonne
hinter Naumburg auf." Der Morgen im Frühling, vom Berge, wenn der
Nebel noch im Thale liegt und die Nachtigall noch nicht verstummt ist, leuchtet
und blüht im „Ganymed":


Wie im Morgenglanze
Du rings mich anglühst,
Frühling, Geliebter!
Du kühlst den brennenden
Durst meines Busens,
Lieblicher Morgenwind —

„Mir wars frei in der Seele, rein wie ein Frühlingsmorgen" (Stella), „Süßer
Morgenkühle Kinderstammeln" (Elpenor) —


Mit dem tauscndfarbigen Morgen
Lachse du ins Herz ihm. (Harzreisc im Winter)

Früh am Novembertage rollen am Steine der Geliebten die Thautropfen nieder,
„die schönen Thränen des Himmels" (an Frau von Stein, 17. November 1782*).
Wie die aufgehende Sonne uns mit der Kraft und Freude des Lebens erfüllt,
so ist die untergehende ein Bild jähen Abschiedes, frühen Todes:


Trunkncn vom letzten Strahl
Reiß mich, ein Feuermeer
Mir im schäumenden Aug,
Mich geblendeten Taumelnden,
In der Holle nächtliches Thor. (An Schwager Kronos)

Auch wenn die Dunkelheit eingebrochen, brennt das Licht der Sonne noch in
der Seele, und bald kündigt sich der neue Tag im Osten wieder an.


Wie der süße Dllmmerschein
Der weggcschiedncn Sonne
Dort hinaufschwimmt
Vom finstern Kaukasus
Und meine Seel umgiebt mit Wonncruh,
Abwesend auch mir immer gegenwärtig. (Prometheus)

Anders ist die Stimmung in dem Liede „Bergschloß": der Dichter steht mit



*) Noch in „Wahrheit und Dichtung" (Buch 7) derselbe poetische Ausdruck: „die un¬
schuldigen Pflanzenthränen"; sie benetzen dort den in die Rinde des Baumes geschnittenen
Namen der Geliebten. So ist auch der Fels am Sipylusgcbirge, in den die Niobe ver¬
wandelt worden, feucht von den Thränen der Unglücklichen, die ewig ihre Kinder beweint.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0348" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/155231"/>
            <fw type="header" place="top"> Gedanken über Goethe.</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1439"> auch diesem Herzen! Nein, es ist Her Born, der nie versiegt, das Feuer, das<lb/>
nie verlischt, keine Ewigkeit nicht! Beste Frau, auch in dir nicht, die du manch¬<lb/>
mal wähnst, der heilige Geist des Lebens habe dich verlassen." Ähnlich an<lb/>
den Herzog tags darauf: &#x201E;Ich habe die Nacht durch manches Kranichen Ge¬<lb/>
dankenzwirn auf- und abgewickelt; diesen Morgen ging mir die göttliche Sonne<lb/>
hinter Naumburg auf." Der Morgen im Frühling, vom Berge, wenn der<lb/>
Nebel noch im Thale liegt und die Nachtigall noch nicht verstummt ist, leuchtet<lb/>
und blüht im &#x201E;Ganymed":</p><lb/>
            <quote> Wie im Morgenglanze<lb/>
Du rings mich anglühst,<lb/>
Frühling, Geliebter!<lb/>
Du kühlst den brennenden<lb/>
Durst meines Busens,<lb/>
Lieblicher Morgenwind &#x2014;</quote><lb/>
            <p xml:id="ID_1440"> &#x201E;Mir wars frei in der Seele, rein wie ein Frühlingsmorgen" (Stella), &#x201E;Süßer<lb/>
Morgenkühle Kinderstammeln" (Elpenor) &#x2014;</p><lb/>
            <quote> Mit dem tauscndfarbigen Morgen<lb/>
Lachse du ins Herz ihm. (Harzreisc im Winter)</quote><lb/>
            <p xml:id="ID_1441"> Früh am Novembertage rollen am Steine der Geliebten die Thautropfen nieder,<lb/>
&#x201E;die schönen Thränen des Himmels" (an Frau von Stein, 17. November 1782*).<lb/>
Wie die aufgehende Sonne uns mit der Kraft und Freude des Lebens erfüllt,<lb/>
so ist die untergehende ein Bild jähen Abschiedes, frühen Todes:</p><lb/>
            <quote> Trunkncn vom letzten Strahl<lb/>
Reiß mich, ein Feuermeer<lb/>
Mir im schäumenden Aug,<lb/>
Mich geblendeten Taumelnden,<lb/>
In der Holle nächtliches Thor. (An Schwager Kronos)</quote><lb/>
            <p xml:id="ID_1442"> Auch wenn die Dunkelheit eingebrochen, brennt das Licht der Sonne noch in<lb/>
der Seele, und bald kündigt sich der neue Tag im Osten wieder an.</p><lb/>
            <quote> Wie der süße Dllmmerschein<lb/>
Der weggcschiedncn Sonne<lb/>
Dort hinaufschwimmt<lb/>
Vom finstern Kaukasus<lb/>
Und meine Seel umgiebt mit Wonncruh,<lb/>
Abwesend auch mir immer gegenwärtig. (Prometheus)</quote><lb/>
            <p xml:id="ID_1443" next="#ID_1444"> Anders ist die Stimmung in dem Liede &#x201E;Bergschloß": der Dichter steht mit</p><lb/>
            <note xml:id="FID_31" place="foot"> *) Noch in &#x201E;Wahrheit und Dichtung" (Buch 7) derselbe poetische Ausdruck: &#x201E;die un¬<lb/>
schuldigen Pflanzenthränen"; sie benetzen dort den in die Rinde des Baumes geschnittenen<lb/>
Namen der Geliebten. So ist auch der Fels am Sipylusgcbirge, in den die Niobe ver¬<lb/>
wandelt worden, feucht von den Thränen der Unglücklichen, die ewig ihre Kinder beweint.</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0348] Gedanken über Goethe. auch diesem Herzen! Nein, es ist Her Born, der nie versiegt, das Feuer, das nie verlischt, keine Ewigkeit nicht! Beste Frau, auch in dir nicht, die du manch¬ mal wähnst, der heilige Geist des Lebens habe dich verlassen." Ähnlich an den Herzog tags darauf: „Ich habe die Nacht durch manches Kranichen Ge¬ dankenzwirn auf- und abgewickelt; diesen Morgen ging mir die göttliche Sonne hinter Naumburg auf." Der Morgen im Frühling, vom Berge, wenn der Nebel noch im Thale liegt und die Nachtigall noch nicht verstummt ist, leuchtet und blüht im „Ganymed": Wie im Morgenglanze Du rings mich anglühst, Frühling, Geliebter! Du kühlst den brennenden Durst meines Busens, Lieblicher Morgenwind — „Mir wars frei in der Seele, rein wie ein Frühlingsmorgen" (Stella), „Süßer Morgenkühle Kinderstammeln" (Elpenor) — Mit dem tauscndfarbigen Morgen Lachse du ins Herz ihm. (Harzreisc im Winter) Früh am Novembertage rollen am Steine der Geliebten die Thautropfen nieder, „die schönen Thränen des Himmels" (an Frau von Stein, 17. November 1782*). Wie die aufgehende Sonne uns mit der Kraft und Freude des Lebens erfüllt, so ist die untergehende ein Bild jähen Abschiedes, frühen Todes: Trunkncn vom letzten Strahl Reiß mich, ein Feuermeer Mir im schäumenden Aug, Mich geblendeten Taumelnden, In der Holle nächtliches Thor. (An Schwager Kronos) Auch wenn die Dunkelheit eingebrochen, brennt das Licht der Sonne noch in der Seele, und bald kündigt sich der neue Tag im Osten wieder an. Wie der süße Dllmmerschein Der weggcschiedncn Sonne Dort hinaufschwimmt Vom finstern Kaukasus Und meine Seel umgiebt mit Wonncruh, Abwesend auch mir immer gegenwärtig. (Prometheus) Anders ist die Stimmung in dem Liede „Bergschloß": der Dichter steht mit *) Noch in „Wahrheit und Dichtung" (Buch 7) derselbe poetische Ausdruck: „die un¬ schuldigen Pflanzenthränen"; sie benetzen dort den in die Rinde des Baumes geschnittenen Namen der Geliebten. So ist auch der Fels am Sipylusgcbirge, in den die Niobe ver¬ wandelt worden, feucht von den Thränen der Unglücklichen, die ewig ihre Kinder beweint.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/348
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/348>, abgerufen am 28.09.2024.