Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Gedanken über Goethe.

Und viel unseliges Geschick der Männer,
Viel Thaten des verworrnen Sinnes deckt
Die Nacht mit schweren Fittigen und läßt
Uns nur die grauenvolle Dämmrung sehn.

Die Nacht ist endlos, denn der Blick durchdringt sie nicht: "Den der Fluch wie
eine breite Nacht verfolgt und deckt" (Iphigenie 2,1). -- "Nicht die Nacht, diebreit
sich bedeckt mit sinkenden Wolken" (Hermann und Dorothea). Wenn Erwin
unter Elmircns Fenster sang und seine Zither rührte, dann "wölbte die Nacht
sich hoch und höher über seinen Klagen"; in der Nacht, mitten im Hochgebirge,
erscheint dem Dichter der Schatten Euphrosyneus und redet zu ihm: nachdem
die Lichterscheinung zergangen, ist das Dunkel nur noch tiefer, das Herz nur
noch trostloser:


Tiefer liegt die Nacht um mich her, die stürzenden Wasser
Brause" gewaltiger nnn neben dem schlüpfrigen Pfad. --
Wehmut reißt durch die Saite" der Brust; die nächtlichen Thränen
Fließen, und über dem Wald kündet der Morgen sich an.

Aber die Nacht ist vielgestaltig, sie ist nicht immer schauervoll und düster, sondern
auch heinilich und den Liebenden günstig. Philine widmet ihr ein Lied und
Scapine singt:


Nacht, v holde, halbes Leben,
Jedes Tages schöne Freundin!*)
Laß deu Schleier mich umgeben,
Der von deinen Schultern fällt.

Stella spricht mit sich: "Fülle der Nacht, umgieb mich, fasse mich, leite mich!"
Wilhelm schreibt an seine Mariane "unter der lieben Hülle der Nacht, die ihn
sonst in ihren Armen bedeckte"; der Liebende, auf dem Lager liegend und die
Geliebte erwartend, segnet die nächtlichen Finsternisse, "die so ruhig alles über¬
deckten" (Morgcnklagen). Und auch helle, durchsichtige, krystallene, ambrosische
Nächte giebt es, in denen der Mond leuchtet und die Sterne schimmern.



*) Ein Vers in "Hermann und Dorothea," der dem Dichter oft übelgenommen worden,
wiederholt nur denselben Gedanken. Der Tag gehört dem Kampfe, der Arbeit, dem Ve"
druß und jeder Art Anstrengung; das gemeinsame Lager bei Nacht bringt Austausch des
Erlebten, das Gefühl unauflöslichen Bundes, Mitteilung und Sammlung und süße Ruhe
(Rom. Eleg. 5): , Wird doch nicht immer geküßt, es wird vernünftig gesprochen,
Überfälle sie der Schlaf, lieg ich und denke mir viel.
Zu dem trauernden Achilleus in der Ilias spricht seine Mutter Thetis (also gleichfalls die
Mutter): Wie lange willst du der Nahrung dich enthalten, wie lange des Lagers? Ist es
doch schön, des Weibes in Liebe zu genießen!
Gedanken über Goethe.

Und viel unseliges Geschick der Männer,
Viel Thaten des verworrnen Sinnes deckt
Die Nacht mit schweren Fittigen und läßt
Uns nur die grauenvolle Dämmrung sehn.

Die Nacht ist endlos, denn der Blick durchdringt sie nicht: „Den der Fluch wie
eine breite Nacht verfolgt und deckt" (Iphigenie 2,1). — „Nicht die Nacht, diebreit
sich bedeckt mit sinkenden Wolken" (Hermann und Dorothea). Wenn Erwin
unter Elmircns Fenster sang und seine Zither rührte, dann „wölbte die Nacht
sich hoch und höher über seinen Klagen"; in der Nacht, mitten im Hochgebirge,
erscheint dem Dichter der Schatten Euphrosyneus und redet zu ihm: nachdem
die Lichterscheinung zergangen, ist das Dunkel nur noch tiefer, das Herz nur
noch trostloser:


Tiefer liegt die Nacht um mich her, die stürzenden Wasser
Brause» gewaltiger nnn neben dem schlüpfrigen Pfad. —
Wehmut reißt durch die Saite» der Brust; die nächtlichen Thränen
Fließen, und über dem Wald kündet der Morgen sich an.

Aber die Nacht ist vielgestaltig, sie ist nicht immer schauervoll und düster, sondern
auch heinilich und den Liebenden günstig. Philine widmet ihr ein Lied und
Scapine singt:


Nacht, v holde, halbes Leben,
Jedes Tages schöne Freundin!*)
Laß deu Schleier mich umgeben,
Der von deinen Schultern fällt.

Stella spricht mit sich: „Fülle der Nacht, umgieb mich, fasse mich, leite mich!"
Wilhelm schreibt an seine Mariane „unter der lieben Hülle der Nacht, die ihn
sonst in ihren Armen bedeckte"; der Liebende, auf dem Lager liegend und die
Geliebte erwartend, segnet die nächtlichen Finsternisse, „die so ruhig alles über¬
deckten" (Morgcnklagen). Und auch helle, durchsichtige, krystallene, ambrosische
Nächte giebt es, in denen der Mond leuchtet und die Sterne schimmern.



*) Ein Vers in „Hermann und Dorothea," der dem Dichter oft übelgenommen worden,
wiederholt nur denselben Gedanken. Der Tag gehört dem Kampfe, der Arbeit, dem Ve»
druß und jeder Art Anstrengung; das gemeinsame Lager bei Nacht bringt Austausch des
Erlebten, das Gefühl unauflöslichen Bundes, Mitteilung und Sammlung und süße Ruhe
(Rom. Eleg. 5): , Wird doch nicht immer geküßt, es wird vernünftig gesprochen,
Überfälle sie der Schlaf, lieg ich und denke mir viel.
Zu dem trauernden Achilleus in der Ilias spricht seine Mutter Thetis (also gleichfalls die
Mutter): Wie lange willst du der Nahrung dich enthalten, wie lange des Lagers? Ist es
doch schön, des Weibes in Liebe zu genießen!
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0350" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/155233"/>
            <fw type="header" place="top"> Gedanken über Goethe.</fw><lb/>
            <quote> Und viel unseliges Geschick der Männer,<lb/>
Viel Thaten des verworrnen Sinnes deckt<lb/>
Die Nacht mit schweren Fittigen und läßt<lb/>
Uns nur die grauenvolle Dämmrung sehn.</quote><lb/>
            <p xml:id="ID_1448"> Die Nacht ist endlos, denn der Blick durchdringt sie nicht: &#x201E;Den der Fluch wie<lb/>
eine breite Nacht verfolgt und deckt" (Iphigenie 2,1). &#x2014; &#x201E;Nicht die Nacht, diebreit<lb/>
sich bedeckt mit sinkenden Wolken" (Hermann und Dorothea). Wenn Erwin<lb/>
unter Elmircns Fenster sang und seine Zither rührte, dann &#x201E;wölbte die Nacht<lb/>
sich hoch und höher über seinen Klagen"; in der Nacht, mitten im Hochgebirge,<lb/>
erscheint dem Dichter der Schatten Euphrosyneus und redet zu ihm: nachdem<lb/>
die Lichterscheinung zergangen, ist das Dunkel nur noch tiefer, das Herz nur<lb/>
noch trostloser:</p><lb/>
            <quote> Tiefer liegt die Nacht um mich her, die stürzenden Wasser<lb/>
Brause» gewaltiger nnn neben dem schlüpfrigen Pfad. &#x2014;<lb/>
Wehmut reißt durch die Saite» der Brust; die nächtlichen Thränen<lb/>
Fließen, und über dem Wald kündet der Morgen sich an.</quote><lb/>
            <p xml:id="ID_1449"> Aber die Nacht ist vielgestaltig, sie ist nicht immer schauervoll und düster, sondern<lb/>
auch heinilich und den Liebenden günstig. Philine widmet ihr ein Lied und<lb/>
Scapine singt:</p><lb/>
            <quote> Nacht, v holde, halbes Leben,<lb/>
Jedes Tages schöne Freundin!*)<lb/>
Laß deu Schleier mich umgeben,<lb/>
Der von deinen Schultern fällt.</quote><lb/>
            <p xml:id="ID_1450"> Stella spricht mit sich: &#x201E;Fülle der Nacht, umgieb mich, fasse mich, leite mich!"<lb/>
Wilhelm schreibt an seine Mariane &#x201E;unter der lieben Hülle der Nacht, die ihn<lb/>
sonst in ihren Armen bedeckte"; der Liebende, auf dem Lager liegend und die<lb/>
Geliebte erwartend, segnet die nächtlichen Finsternisse, &#x201E;die so ruhig alles über¬<lb/>
deckten" (Morgcnklagen). Und auch helle, durchsichtige, krystallene, ambrosische<lb/>
Nächte giebt es, in denen der Mond leuchtet und die Sterne schimmern.</p><lb/>
            <note xml:id="FID_32" place="foot">
              <p xml:id="ID_1451"> *) Ein Vers in &#x201E;Hermann und Dorothea," der dem Dichter oft übelgenommen worden,<lb/>
wiederholt nur denselben Gedanken. Der Tag gehört dem Kampfe, der Arbeit, dem Ve»<lb/>
druß und jeder Art Anstrengung; das gemeinsame Lager bei Nacht bringt Austausch des<lb/>
Erlebten, das Gefühl unauflöslichen Bundes, Mitteilung und Sammlung und süße Ruhe<lb/>
(Rom. Eleg. 5):</p>
              <quote> , Wird doch nicht immer geküßt, es wird vernünftig gesprochen,<lb/>
Überfälle sie der Schlaf, lieg ich und denke mir viel.</quote>
              <p xml:id="ID_1452"> Zu dem trauernden Achilleus in der Ilias spricht seine Mutter Thetis (also gleichfalls die<lb/>
Mutter): Wie lange willst du der Nahrung dich enthalten, wie lange des Lagers? Ist es<lb/>
doch schön, des Weibes in Liebe zu genießen!</p>
            </note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0350] Gedanken über Goethe. Und viel unseliges Geschick der Männer, Viel Thaten des verworrnen Sinnes deckt Die Nacht mit schweren Fittigen und läßt Uns nur die grauenvolle Dämmrung sehn. Die Nacht ist endlos, denn der Blick durchdringt sie nicht: „Den der Fluch wie eine breite Nacht verfolgt und deckt" (Iphigenie 2,1). — „Nicht die Nacht, diebreit sich bedeckt mit sinkenden Wolken" (Hermann und Dorothea). Wenn Erwin unter Elmircns Fenster sang und seine Zither rührte, dann „wölbte die Nacht sich hoch und höher über seinen Klagen"; in der Nacht, mitten im Hochgebirge, erscheint dem Dichter der Schatten Euphrosyneus und redet zu ihm: nachdem die Lichterscheinung zergangen, ist das Dunkel nur noch tiefer, das Herz nur noch trostloser: Tiefer liegt die Nacht um mich her, die stürzenden Wasser Brause» gewaltiger nnn neben dem schlüpfrigen Pfad. — Wehmut reißt durch die Saite» der Brust; die nächtlichen Thränen Fließen, und über dem Wald kündet der Morgen sich an. Aber die Nacht ist vielgestaltig, sie ist nicht immer schauervoll und düster, sondern auch heinilich und den Liebenden günstig. Philine widmet ihr ein Lied und Scapine singt: Nacht, v holde, halbes Leben, Jedes Tages schöne Freundin!*) Laß deu Schleier mich umgeben, Der von deinen Schultern fällt. Stella spricht mit sich: „Fülle der Nacht, umgieb mich, fasse mich, leite mich!" Wilhelm schreibt an seine Mariane „unter der lieben Hülle der Nacht, die ihn sonst in ihren Armen bedeckte"; der Liebende, auf dem Lager liegend und die Geliebte erwartend, segnet die nächtlichen Finsternisse, „die so ruhig alles über¬ deckten" (Morgcnklagen). Und auch helle, durchsichtige, krystallene, ambrosische Nächte giebt es, in denen der Mond leuchtet und die Sterne schimmern. *) Ein Vers in „Hermann und Dorothea," der dem Dichter oft übelgenommen worden, wiederholt nur denselben Gedanken. Der Tag gehört dem Kampfe, der Arbeit, dem Ve» druß und jeder Art Anstrengung; das gemeinsame Lager bei Nacht bringt Austausch des Erlebten, das Gefühl unauflöslichen Bundes, Mitteilung und Sammlung und süße Ruhe (Rom. Eleg. 5): , Wird doch nicht immer geküßt, es wird vernünftig gesprochen, Überfälle sie der Schlaf, lieg ich und denke mir viel. Zu dem trauernden Achilleus in der Ilias spricht seine Mutter Thetis (also gleichfalls die Mutter): Wie lange willst du der Nahrung dich enthalten, wie lange des Lagers? Ist es doch schön, des Weibes in Liebe zu genießen!

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/350
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/350>, abgerufen am 28.09.2024.