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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Gedanken über Goethe,

Die Unsterblichen lieben der Menschen
Weitverbreitete gute Geschlechter
Und sie fristen das flüchtige Leben
Gerne dem Sterblichen, wollen ihm gerne
Ihres eigenen ewigen Himmels
Mitgenicßcndes fröhliches Anschaun
Eine Weile gönnen und lassen.

So fragt Wilhelm Meister hoffnungslos und entmutigt (8, 7): "Werde ich
künftig der Sonne und der Welt, der Gesellschaft oder irgend eines Glücks-
gntes genießen?" und Orest spricht zu Iphigenien:


und laß dir raten, habe
Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne,
Komm, folge mir ins dunkle Reich hinab --

und Antiope zu Elpenor:


So lang ich weiß, du wandelst auf der Erde,
Dein Auge schaut der Sonne teures Licht,
--bist du
Mir gleich entfernt, so fehlt mir nichts zum Glück,

Iphigenie:


nach seines Vaters Hallen, wo die Sonne
Zuerst den Himmel vor ihm ausschloß --

d, h. wo er sich zuerst seines Lebens bewußt wurde. Nausikaa, da sie am
Meeresgestade ihre Gewänder getrocknet sieht, preist "die hohe Sonne, die allen
hilft." Den Schiffer ruft die Sonne zur Fahrt ins Meer hinaus (Seefahrt):


Und die Segel blühen in dem Hauche,
Und die Sonne lockt mit Feuerlicbc --

und dieselbe Liebe hat Prometheus erfahren:


Was der Sonne Liebe jemals Frühlingswonne,
Des Meeres laue Welle
Jemals Zärtlichkeit an meinen Busen angeschmiegt.

Die Sonne, wenn sie aufgeht und untergeht oder am Himmel glüht, bringt
die Tageszeiten, den Morgen und den Abend und den Mittag. Der Morgen
erfüllt mit Hoffnung. Kraft, Lebensmut; die Mutter in "Hermann und Doro¬
thea":


Da war beklemmt mein Herz, allem die Sonne ging wieder
Herrlicher auf als je und flößte mir Mut in die Seele.

An Frau von Stein (24. März 1776): "Hinter Naumburg ging mir
die Sonne entgegen auf! Liebe Frau, ein Blick voll Hoffnung, Erfüllung
und Verheißung -- die Morgenluft so erquickend, der Duft zwischen den Felsen
so schauerlich, die Sonne so golden blickend als je! Nicht diesen Augen nur,


Grenzboten I, 1884. ^
Gedanken über Goethe,

Die Unsterblichen lieben der Menschen
Weitverbreitete gute Geschlechter
Und sie fristen das flüchtige Leben
Gerne dem Sterblichen, wollen ihm gerne
Ihres eigenen ewigen Himmels
Mitgenicßcndes fröhliches Anschaun
Eine Weile gönnen und lassen.

So fragt Wilhelm Meister hoffnungslos und entmutigt (8, 7): „Werde ich
künftig der Sonne und der Welt, der Gesellschaft oder irgend eines Glücks-
gntes genießen?" und Orest spricht zu Iphigenien:


und laß dir raten, habe
Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne,
Komm, folge mir ins dunkle Reich hinab —

und Antiope zu Elpenor:


So lang ich weiß, du wandelst auf der Erde,
Dein Auge schaut der Sonne teures Licht,
--bist du
Mir gleich entfernt, so fehlt mir nichts zum Glück,

Iphigenie:


nach seines Vaters Hallen, wo die Sonne
Zuerst den Himmel vor ihm ausschloß —

d, h. wo er sich zuerst seines Lebens bewußt wurde. Nausikaa, da sie am
Meeresgestade ihre Gewänder getrocknet sieht, preist „die hohe Sonne, die allen
hilft." Den Schiffer ruft die Sonne zur Fahrt ins Meer hinaus (Seefahrt):


Und die Segel blühen in dem Hauche,
Und die Sonne lockt mit Feuerlicbc —

und dieselbe Liebe hat Prometheus erfahren:


Was der Sonne Liebe jemals Frühlingswonne,
Des Meeres laue Welle
Jemals Zärtlichkeit an meinen Busen angeschmiegt.

Die Sonne, wenn sie aufgeht und untergeht oder am Himmel glüht, bringt
die Tageszeiten, den Morgen und den Abend und den Mittag. Der Morgen
erfüllt mit Hoffnung. Kraft, Lebensmut; die Mutter in „Hermann und Doro¬
thea":


Da war beklemmt mein Herz, allem die Sonne ging wieder
Herrlicher auf als je und flößte mir Mut in die Seele.

An Frau von Stein (24. März 1776): „Hinter Naumburg ging mir
die Sonne entgegen auf! Liebe Frau, ein Blick voll Hoffnung, Erfüllung
und Verheißung — die Morgenluft so erquickend, der Duft zwischen den Felsen
so schauerlich, die Sonne so golden blickend als je! Nicht diesen Augen nur,


Grenzboten I, 1884. ^
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[0347] Gedanken über Goethe, Die Unsterblichen lieben der Menschen Weitverbreitete gute Geschlechter Und sie fristen das flüchtige Leben Gerne dem Sterblichen, wollen ihm gerne Ihres eigenen ewigen Himmels Mitgenicßcndes fröhliches Anschaun Eine Weile gönnen und lassen. So fragt Wilhelm Meister hoffnungslos und entmutigt (8, 7): „Werde ich künftig der Sonne und der Welt, der Gesellschaft oder irgend eines Glücks- gntes genießen?" und Orest spricht zu Iphigenien: und laß dir raten, habe Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne, Komm, folge mir ins dunkle Reich hinab — und Antiope zu Elpenor: So lang ich weiß, du wandelst auf der Erde, Dein Auge schaut der Sonne teures Licht, --bist du Mir gleich entfernt, so fehlt mir nichts zum Glück, Iphigenie: nach seines Vaters Hallen, wo die Sonne Zuerst den Himmel vor ihm ausschloß — d, h. wo er sich zuerst seines Lebens bewußt wurde. Nausikaa, da sie am Meeresgestade ihre Gewänder getrocknet sieht, preist „die hohe Sonne, die allen hilft." Den Schiffer ruft die Sonne zur Fahrt ins Meer hinaus (Seefahrt): Und die Segel blühen in dem Hauche, Und die Sonne lockt mit Feuerlicbc — und dieselbe Liebe hat Prometheus erfahren: Was der Sonne Liebe jemals Frühlingswonne, Des Meeres laue Welle Jemals Zärtlichkeit an meinen Busen angeschmiegt. Die Sonne, wenn sie aufgeht und untergeht oder am Himmel glüht, bringt die Tageszeiten, den Morgen und den Abend und den Mittag. Der Morgen erfüllt mit Hoffnung. Kraft, Lebensmut; die Mutter in „Hermann und Doro¬ thea": Da war beklemmt mein Herz, allem die Sonne ging wieder Herrlicher auf als je und flößte mir Mut in die Seele. An Frau von Stein (24. März 1776): „Hinter Naumburg ging mir die Sonne entgegen auf! Liebe Frau, ein Blick voll Hoffnung, Erfüllung und Verheißung — die Morgenluft so erquickend, der Duft zwischen den Felsen so schauerlich, die Sonne so golden blickend als je! Nicht diesen Augen nur, Grenzboten I, 1884. ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/347>, abgerufen am 28.09.2024.