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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Wilhelm Scherers Deutsche Literaturgeschichte.

"ut Kulturgeschichte der germanischen Völker" erscheinen (Straßburg, Trübner),
hat er selbst de" Wunsch ausgesprochen, seine Arbeit an dem dieselbe Zeit be¬
handelnden Abschnitt von Gervinus' Geschichte der deutscheu Dichtung gemessen
zu sehen,*) Scherer, der wiederholt die hohe Bedeutung von Gewinns' Werk
hervorgehoben hat und auch in dem hier behandelten Werke bekennt, gar viel
von Gervinus gelernt zu haben, war sich wohl bewußt, welchen hohen Maßstab
er durch diese Aufforderung an seine Arbeit gelegt zu sehen wünscht. Ist doch
die "Geschichte der poetischen Natioualliteratur der Deutschen," trotz ihrer
große" Mängel, an denen vor allem der politische Standpunkt des Verfassers
die Schuld trägt, immer noch das erste und beste unsrer literaturgeschichtlichen
Werke, eine wirkliche Geschichte der Literatur von eminent wissenschaftlichem
Werte und zugleich ein Kunstwerk ersten Ranges, dem unter den Darstellungen
der politischen Geschichte Deutschlands, welche das ganze Gebiet derselben um¬
fassen, nichts auch "ur annähernd Wertvolles an die Seite zu stellen ist.
Nun, mit Recht darf Scherer verlangen, daß sein Werk mit diesem hohen Ma߬
stabe gemessen werde; daß er Gervinus gleichkomme, sagt er ja selber keineswegs.

Schon darin besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen ihm und Gervinus,
daß, als dieser sich an die Arbeit machte, das ganze große Feld noch spärlich
angebaut war und er an nicht wenigen Stelle" überhaupt zum erstenmale Hand
anlegen mußte, während Scherer über eine solche Fülle von Vorarbeiten zu ver¬
fügen hatte, daß eher die Gefahr nahe lag, etwas zu übersehe", als die Not¬
wendigkeit, ganz unberücksichtigt gelassene Strecken gleichsam als erster Pfadfinder
zu durchmessen. Gleichwohl gab es auch noch für Scherer Perioden, die in,
gewissen Sinne als jungfräulicher Boden anzusehen sind: die Zeit des 16, und
17. Jahrhunderts, namentlich das letztere, in denen es immer noch sehr an
der nötigen Vorarbeit fehlt, und hier hat er auf kleinerem Gebiete für unsre
Zeit auch im Erforschen unbekannterer Regionen ähnliches geleistet wie Gervinus
für die seine.

Ein andrer Unterschied ergiebt einen wesentlichen Vorzug Scherers vor
Gervinus. Wenn dieser als die Quintessenz seines Werkes die Lehre aufstellte,
daß es für uns Deutsche vorbei sei mit der Zeit großer Leistungen auf poetischen,
Gebiete, und daß die Zeit politischen Handelns angebrochen sei, welche unsre
besten Kräfte beanspruchen müsse, so kann Scherer heute, wo die Wünsche, die
einst Gervinus im Herzen hegte, freilich ganz anders als er meinte in Erfüllung
gegangen sind, ohne allen Rückhalt zum Genuß unsrer Dichter auffordern und
auf ihre Schöpfungen als auf die Quelle hinweisen, ans der uns nach der
Mühe und Arbeit des politischen und geschäftlichen Lebens sicher Erquickung
und Erhebung eutgegeuströmen wird.



*) Daraus weist auch der Verfasser des oben angeführten Grenzbotcnartikels hin. S. ö61.
Wilhelm Scherers Deutsche Literaturgeschichte.

»ut Kulturgeschichte der germanischen Völker" erscheinen (Straßburg, Trübner),
hat er selbst de» Wunsch ausgesprochen, seine Arbeit an dem dieselbe Zeit be¬
handelnden Abschnitt von Gervinus' Geschichte der deutscheu Dichtung gemessen
zu sehen,*) Scherer, der wiederholt die hohe Bedeutung von Gewinns' Werk
hervorgehoben hat und auch in dem hier behandelten Werke bekennt, gar viel
von Gervinus gelernt zu haben, war sich wohl bewußt, welchen hohen Maßstab
er durch diese Aufforderung an seine Arbeit gelegt zu sehen wünscht. Ist doch
die „Geschichte der poetischen Natioualliteratur der Deutschen," trotz ihrer
große» Mängel, an denen vor allem der politische Standpunkt des Verfassers
die Schuld trägt, immer noch das erste und beste unsrer literaturgeschichtlichen
Werke, eine wirkliche Geschichte der Literatur von eminent wissenschaftlichem
Werte und zugleich ein Kunstwerk ersten Ranges, dem unter den Darstellungen
der politischen Geschichte Deutschlands, welche das ganze Gebiet derselben um¬
fassen, nichts auch «ur annähernd Wertvolles an die Seite zu stellen ist.
Nun, mit Recht darf Scherer verlangen, daß sein Werk mit diesem hohen Ma߬
stabe gemessen werde; daß er Gervinus gleichkomme, sagt er ja selber keineswegs.

Schon darin besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen ihm und Gervinus,
daß, als dieser sich an die Arbeit machte, das ganze große Feld noch spärlich
angebaut war und er an nicht wenigen Stelle» überhaupt zum erstenmale Hand
anlegen mußte, während Scherer über eine solche Fülle von Vorarbeiten zu ver¬
fügen hatte, daß eher die Gefahr nahe lag, etwas zu übersehe», als die Not¬
wendigkeit, ganz unberücksichtigt gelassene Strecken gleichsam als erster Pfadfinder
zu durchmessen. Gleichwohl gab es auch noch für Scherer Perioden, die in,
gewissen Sinne als jungfräulicher Boden anzusehen sind: die Zeit des 16, und
17. Jahrhunderts, namentlich das letztere, in denen es immer noch sehr an
der nötigen Vorarbeit fehlt, und hier hat er auf kleinerem Gebiete für unsre
Zeit auch im Erforschen unbekannterer Regionen ähnliches geleistet wie Gervinus
für die seine.

Ein andrer Unterschied ergiebt einen wesentlichen Vorzug Scherers vor
Gervinus. Wenn dieser als die Quintessenz seines Werkes die Lehre aufstellte,
daß es für uns Deutsche vorbei sei mit der Zeit großer Leistungen auf poetischen,
Gebiete, und daß die Zeit politischen Handelns angebrochen sei, welche unsre
besten Kräfte beanspruchen müsse, so kann Scherer heute, wo die Wünsche, die
einst Gervinus im Herzen hegte, freilich ganz anders als er meinte in Erfüllung
gegangen sind, ohne allen Rückhalt zum Genuß unsrer Dichter auffordern und
auf ihre Schöpfungen als auf die Quelle hinweisen, ans der uns nach der
Mühe und Arbeit des politischen und geschäftlichen Lebens sicher Erquickung
und Erhebung eutgegeuströmen wird.



*) Daraus weist auch der Verfasser des oben angeführten Grenzbotcnartikels hin. S. ö61.
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[0305] Wilhelm Scherers Deutsche Literaturgeschichte. »ut Kulturgeschichte der germanischen Völker" erscheinen (Straßburg, Trübner), hat er selbst de» Wunsch ausgesprochen, seine Arbeit an dem dieselbe Zeit be¬ handelnden Abschnitt von Gervinus' Geschichte der deutscheu Dichtung gemessen zu sehen,*) Scherer, der wiederholt die hohe Bedeutung von Gewinns' Werk hervorgehoben hat und auch in dem hier behandelten Werke bekennt, gar viel von Gervinus gelernt zu haben, war sich wohl bewußt, welchen hohen Maßstab er durch diese Aufforderung an seine Arbeit gelegt zu sehen wünscht. Ist doch die „Geschichte der poetischen Natioualliteratur der Deutschen," trotz ihrer große» Mängel, an denen vor allem der politische Standpunkt des Verfassers die Schuld trägt, immer noch das erste und beste unsrer literaturgeschichtlichen Werke, eine wirkliche Geschichte der Literatur von eminent wissenschaftlichem Werte und zugleich ein Kunstwerk ersten Ranges, dem unter den Darstellungen der politischen Geschichte Deutschlands, welche das ganze Gebiet derselben um¬ fassen, nichts auch «ur annähernd Wertvolles an die Seite zu stellen ist. Nun, mit Recht darf Scherer verlangen, daß sein Werk mit diesem hohen Ma߬ stabe gemessen werde; daß er Gervinus gleichkomme, sagt er ja selber keineswegs. Schon darin besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen ihm und Gervinus, daß, als dieser sich an die Arbeit machte, das ganze große Feld noch spärlich angebaut war und er an nicht wenigen Stelle» überhaupt zum erstenmale Hand anlegen mußte, während Scherer über eine solche Fülle von Vorarbeiten zu ver¬ fügen hatte, daß eher die Gefahr nahe lag, etwas zu übersehe», als die Not¬ wendigkeit, ganz unberücksichtigt gelassene Strecken gleichsam als erster Pfadfinder zu durchmessen. Gleichwohl gab es auch noch für Scherer Perioden, die in, gewissen Sinne als jungfräulicher Boden anzusehen sind: die Zeit des 16, und 17. Jahrhunderts, namentlich das letztere, in denen es immer noch sehr an der nötigen Vorarbeit fehlt, und hier hat er auf kleinerem Gebiete für unsre Zeit auch im Erforschen unbekannterer Regionen ähnliches geleistet wie Gervinus für die seine. Ein andrer Unterschied ergiebt einen wesentlichen Vorzug Scherers vor Gervinus. Wenn dieser als die Quintessenz seines Werkes die Lehre aufstellte, daß es für uns Deutsche vorbei sei mit der Zeit großer Leistungen auf poetischen, Gebiete, und daß die Zeit politischen Handelns angebrochen sei, welche unsre besten Kräfte beanspruchen müsse, so kann Scherer heute, wo die Wünsche, die einst Gervinus im Herzen hegte, freilich ganz anders als er meinte in Erfüllung gegangen sind, ohne allen Rückhalt zum Genuß unsrer Dichter auffordern und auf ihre Schöpfungen als auf die Quelle hinweisen, ans der uns nach der Mühe und Arbeit des politischen und geschäftlichen Lebens sicher Erquickung und Erhebung eutgegeuströmen wird. *) Daraus weist auch der Verfasser des oben angeführten Grenzbotcnartikels hin. S. ö61.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/305>, abgerufen am 02.07.2024.