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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Wilhelm Scherers Deutsche titeraturgeschichte.

Gleich ist dagegen bei beide" Männern die ästhetische Wertschätzung, Nicht
im Mittelalter, wie Vilmar dies überall durchblicken läßt, liegt ihnen der Höhe¬
punkt unsrer nationalen Literaturentwicklung, sondern in der Zeit unsrer Klas¬
siker, bei Goethe und Schiller, die ihnen als wahrhaft harmonische, in sich fer-
tige Idealgestalten erscheinen, deren Verhältnis zum Christentum in keiner Weise
als störender Schatten in demi lichten Bilde ihres Wesens zu empfinden ist.
Das Wort, welches die Engel verkünden, die Faustens Seele emportragen:
"Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen," gereicht ihnen zum
Troste ini Kampfe des Lebens, nnr daß Scherer mit vollstem Rechte dieses
Wort auch für diejenigen in Anspruch nimmt, "die nach Goethes Beispiel leben
und Poesie für eine heilige Angelegenheit unsers Volkes halten,"

Gleich wird auch das Publikum sein, das Geschmack an dem Werke von
Gervinus wie an dem Scherers findet. Populär ist Gervinus trotz der fünf
Auflagen seines Werkes auch heute "och nicht geworden. Dazu stellt er viel
zu große Anforderungen an das Denkvermögen seiner Leser, dazu bietet er im
allgemeinen viel zu wenig Wiedererzählnng, mit einem Worte, dazu setzt er
viel zu viel beim Leser voraus. Umso wertvoller ist die Lektüre seines Werkes
für den mit dem Gegenstande Vertranten, der, bereits gefeit gegen seine para¬
doxe" Ansichten, mit wachsenden: Genusse seine" glänzenden Ausführungen folgen
und, mag er durch den Widerspruch, der sich in ihm regt, zum Nachdenken
genötigt, oder mag er durch seine Beweisführung überzeugt werden, sicherlich
"le ohne Nutzen das Buch von Gervinus aus der Hand lege" wird. Ganz
dasselbe gilt vo" Scherers "Geschichte der deutschen Literatur," Ohne literar-
geschichtliche Vorkenntnisse sollte niemand an dieses Werk gehen, wer sie aber
mitbringt, wird aus ihm in reichen: Maße Genuß und Förderung und Klä¬
rung seiner eignen Anschauungen schöpfen.

Scherer gebührt als Literarhistoriker ein Ehrenplatz we"" nicht in einer
Linie mit, so doch dicht hinter Gervinus, das ist unsre Meinung. Indem wir
diese aber abgeben, glauben wir damit ein so hohes Lob auszusprechen, daß
die Ausstellungen, die wir im einzelne" an Scherers Werk zu machen hätten,
selbst solche, die gegen Grnndgedaiiken desselben wie gegen die von ihm nn-
genommcncn sechshundertjährigen Perioden in der deutschen Literatur, gegen
seine übertriebene Neigung, Erscheinungen der alten Zeit mit moderne"
Erscheinungen zu vergleichen, gegen zahlreiche journalistische Wendungen und
gegen das Haschen nach Pointen sich richten müßten, nicht viel zu bedeuten habe".
Wir hoffen und wünschen vielmehr, daß Scherer auch darin mit Gervinus möge
verglichen werden können, daß von Jahr zu Jahr die Zahl der Verehrer seiner
Literaturgeschichte wachse, wie Gervinus, einst heftig bekämpft, sich doch
schließlich die höchste Anerkennung errungen hat.




Wilhelm Scherers Deutsche titeraturgeschichte.

Gleich ist dagegen bei beide» Männern die ästhetische Wertschätzung, Nicht
im Mittelalter, wie Vilmar dies überall durchblicken läßt, liegt ihnen der Höhe¬
punkt unsrer nationalen Literaturentwicklung, sondern in der Zeit unsrer Klas¬
siker, bei Goethe und Schiller, die ihnen als wahrhaft harmonische, in sich fer-
tige Idealgestalten erscheinen, deren Verhältnis zum Christentum in keiner Weise
als störender Schatten in demi lichten Bilde ihres Wesens zu empfinden ist.
Das Wort, welches die Engel verkünden, die Faustens Seele emportragen:
„Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen," gereicht ihnen zum
Troste ini Kampfe des Lebens, nnr daß Scherer mit vollstem Rechte dieses
Wort auch für diejenigen in Anspruch nimmt, „die nach Goethes Beispiel leben
und Poesie für eine heilige Angelegenheit unsers Volkes halten,"

Gleich wird auch das Publikum sein, das Geschmack an dem Werke von
Gervinus wie an dem Scherers findet. Populär ist Gervinus trotz der fünf
Auflagen seines Werkes auch heute »och nicht geworden. Dazu stellt er viel
zu große Anforderungen an das Denkvermögen seiner Leser, dazu bietet er im
allgemeinen viel zu wenig Wiedererzählnng, mit einem Worte, dazu setzt er
viel zu viel beim Leser voraus. Umso wertvoller ist die Lektüre seines Werkes
für den mit dem Gegenstande Vertranten, der, bereits gefeit gegen seine para¬
doxe» Ansichten, mit wachsenden: Genusse seine» glänzenden Ausführungen folgen
und, mag er durch den Widerspruch, der sich in ihm regt, zum Nachdenken
genötigt, oder mag er durch seine Beweisführung überzeugt werden, sicherlich
»le ohne Nutzen das Buch von Gervinus aus der Hand lege» wird. Ganz
dasselbe gilt vo» Scherers „Geschichte der deutschen Literatur," Ohne literar-
geschichtliche Vorkenntnisse sollte niemand an dieses Werk gehen, wer sie aber
mitbringt, wird aus ihm in reichen: Maße Genuß und Förderung und Klä¬
rung seiner eignen Anschauungen schöpfen.

Scherer gebührt als Literarhistoriker ein Ehrenplatz we»» nicht in einer
Linie mit, so doch dicht hinter Gervinus, das ist unsre Meinung. Indem wir
diese aber abgeben, glauben wir damit ein so hohes Lob auszusprechen, daß
die Ausstellungen, die wir im einzelne» an Scherers Werk zu machen hätten,
selbst solche, die gegen Grnndgedaiiken desselben wie gegen die von ihm nn-
genommcncn sechshundertjährigen Perioden in der deutschen Literatur, gegen
seine übertriebene Neigung, Erscheinungen der alten Zeit mit moderne»
Erscheinungen zu vergleichen, gegen zahlreiche journalistische Wendungen und
gegen das Haschen nach Pointen sich richten müßten, nicht viel zu bedeuten habe».
Wir hoffen und wünschen vielmehr, daß Scherer auch darin mit Gervinus möge
verglichen werden können, daß von Jahr zu Jahr die Zahl der Verehrer seiner
Literaturgeschichte wachse, wie Gervinus, einst heftig bekämpft, sich doch
schließlich die höchste Anerkennung errungen hat.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/306>, abgerufen am 30.06.2024.