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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Wilhelm Scherers Deutsche Literaturgeschichte.

allem die klare, auf den ersten Blick zu erfassende Disposition des Stoffes,
die weise Beschränkung auf das Hauptsächlichste, das liebevolle Eingehen auf
das Bedürfnis des wißbegierigen, aber nicht schon wissenden Lesers, alles Dinge,
auf die sich Vilmar vortrefflich verstand. Beweise für diese Behauptung ließen
sich leicht in großer Zahl beibringen. Wie gelungen sind bei Vilmar diejenigen
Partien, in denen er den Inhalt eines dichterischen Kunstwerkes seinen Lesern
vorführt! Seine Darstellung des Nibelungenliedes, der Gudrun, des Parzival
sind bis heute noch unübertroffen. Mau wird von diesen Stücken gewiß nicht
sagen können, daß durch sie "in dem Leser das täuschende Gefühl erweckt würde,
als ob er die Kenntnis der Literaturdenkmäler selbst entbehren könnte." Viel¬
mehr erregen sie durch ihre Trefflichkeit in dem Leser den Wunsch, nun selbst
an das Werk des Dichters hinanzugehen und ans der Quelle zu schöpfen, wie
ein wohlgelungenes Gemälde einer schönen Gegend in dem Betrachtenden die
Sehnsucht erweckt, sie mit eignen Augen zu schauen. Gerade auf diesem Ge¬
biete verfährt Scherer oft nnr andeutend, indem er dafür ästhetisch-kritische
Betrachtungen einsticht oder sich damit begnügt, auf einzelne Schönheiten eines
Werkes hinzuweisen. Was aber soll der in den Werken unsrer Dichter weniger
Bewanderte mit diesen Bemerkungen anfangen, wenn er nicht vorher mit dem
bekannt gemacht worden ist, worauf dieselben abzielen? Man vergleiche einmal
die Darstellung des Nibelungenliedes bei Scherer und bei Vilmar: beide sind
Anhänger der Lachmannschen Liedertheorie, aber das hindert Vilmar nicht, eine
zusammenhängende Darstellung des Ganzen zu geben, während Scherer in oft
recht subjektiver Weise die Einzellieder bespricht und manche derselben fast ganz
übergeht. Mit unleugbaren poetischen Geschick erzählt Scherer, wie Berchtung
sich des Knaben Wolfdietrich erbarmt und ihm, ein zweiter Waffenmeister
Hildebrand, bis zu seinem Tode und darüber hinaus treu bleibt, aber wer
vermöchte aus seiner Darstellung sich eine richtige Vorstellung von der Geschichte
Wolfdietrichs zu machen?

Trotz aller sprachlichen Gewandtheit, trotz einzelner wahrhaft glänzend
geschriebenen Partien vermag aber Scherer auch den warmen, überzeugungstreuen
Ton nicht zu treffen, der allenthalben in Vilmars Sprache so wohlthuend berührt.
Mag immer des letztern Standpunkt ein einseitiger, zu verwerfender sein -- er
ist gewiß um letzten der unsrige --, solches Einsetzen der ganzen Persönlich¬
keit, solche Begeisterung sür sein Ideal, wie sie Vilmar eigen war, gewinnt
immer die Menge und nicht mit Unrecht: auch dem prinzipiellen Gegner wird
Achtung dadurch abgenötigt.

Die religiöse Engherzigkeit hat übrigens Vilmars Buch wenig geschadet;
das beweist die große Anzahl von Auflagen, die seit Jahren ins Land gegangen
sind. Sie schadet aber auch einem andern Buche nicht, daß -- Gott seis ge¬
klagt -- trotz seiner Unselbständigkeit jetzt zu den verbreitetsten deutschen Literatur¬
geschichten gehört und Vilmar viel eher verdrängen wird, als dies von Scherer


Wilhelm Scherers Deutsche Literaturgeschichte.

allem die klare, auf den ersten Blick zu erfassende Disposition des Stoffes,
die weise Beschränkung auf das Hauptsächlichste, das liebevolle Eingehen auf
das Bedürfnis des wißbegierigen, aber nicht schon wissenden Lesers, alles Dinge,
auf die sich Vilmar vortrefflich verstand. Beweise für diese Behauptung ließen
sich leicht in großer Zahl beibringen. Wie gelungen sind bei Vilmar diejenigen
Partien, in denen er den Inhalt eines dichterischen Kunstwerkes seinen Lesern
vorführt! Seine Darstellung des Nibelungenliedes, der Gudrun, des Parzival
sind bis heute noch unübertroffen. Mau wird von diesen Stücken gewiß nicht
sagen können, daß durch sie „in dem Leser das täuschende Gefühl erweckt würde,
als ob er die Kenntnis der Literaturdenkmäler selbst entbehren könnte." Viel¬
mehr erregen sie durch ihre Trefflichkeit in dem Leser den Wunsch, nun selbst
an das Werk des Dichters hinanzugehen und ans der Quelle zu schöpfen, wie
ein wohlgelungenes Gemälde einer schönen Gegend in dem Betrachtenden die
Sehnsucht erweckt, sie mit eignen Augen zu schauen. Gerade auf diesem Ge¬
biete verfährt Scherer oft nnr andeutend, indem er dafür ästhetisch-kritische
Betrachtungen einsticht oder sich damit begnügt, auf einzelne Schönheiten eines
Werkes hinzuweisen. Was aber soll der in den Werken unsrer Dichter weniger
Bewanderte mit diesen Bemerkungen anfangen, wenn er nicht vorher mit dem
bekannt gemacht worden ist, worauf dieselben abzielen? Man vergleiche einmal
die Darstellung des Nibelungenliedes bei Scherer und bei Vilmar: beide sind
Anhänger der Lachmannschen Liedertheorie, aber das hindert Vilmar nicht, eine
zusammenhängende Darstellung des Ganzen zu geben, während Scherer in oft
recht subjektiver Weise die Einzellieder bespricht und manche derselben fast ganz
übergeht. Mit unleugbaren poetischen Geschick erzählt Scherer, wie Berchtung
sich des Knaben Wolfdietrich erbarmt und ihm, ein zweiter Waffenmeister
Hildebrand, bis zu seinem Tode und darüber hinaus treu bleibt, aber wer
vermöchte aus seiner Darstellung sich eine richtige Vorstellung von der Geschichte
Wolfdietrichs zu machen?

Trotz aller sprachlichen Gewandtheit, trotz einzelner wahrhaft glänzend
geschriebenen Partien vermag aber Scherer auch den warmen, überzeugungstreuen
Ton nicht zu treffen, der allenthalben in Vilmars Sprache so wohlthuend berührt.
Mag immer des letztern Standpunkt ein einseitiger, zu verwerfender sein — er
ist gewiß um letzten der unsrige —, solches Einsetzen der ganzen Persönlich¬
keit, solche Begeisterung sür sein Ideal, wie sie Vilmar eigen war, gewinnt
immer die Menge und nicht mit Unrecht: auch dem prinzipiellen Gegner wird
Achtung dadurch abgenötigt.

Die religiöse Engherzigkeit hat übrigens Vilmars Buch wenig geschadet;
das beweist die große Anzahl von Auflagen, die seit Jahren ins Land gegangen
sind. Sie schadet aber auch einem andern Buche nicht, daß — Gott seis ge¬
klagt — trotz seiner Unselbständigkeit jetzt zu den verbreitetsten deutschen Literatur¬
geschichten gehört und Vilmar viel eher verdrängen wird, als dies von Scherer


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[0303] Wilhelm Scherers Deutsche Literaturgeschichte. allem die klare, auf den ersten Blick zu erfassende Disposition des Stoffes, die weise Beschränkung auf das Hauptsächlichste, das liebevolle Eingehen auf das Bedürfnis des wißbegierigen, aber nicht schon wissenden Lesers, alles Dinge, auf die sich Vilmar vortrefflich verstand. Beweise für diese Behauptung ließen sich leicht in großer Zahl beibringen. Wie gelungen sind bei Vilmar diejenigen Partien, in denen er den Inhalt eines dichterischen Kunstwerkes seinen Lesern vorführt! Seine Darstellung des Nibelungenliedes, der Gudrun, des Parzival sind bis heute noch unübertroffen. Mau wird von diesen Stücken gewiß nicht sagen können, daß durch sie „in dem Leser das täuschende Gefühl erweckt würde, als ob er die Kenntnis der Literaturdenkmäler selbst entbehren könnte." Viel¬ mehr erregen sie durch ihre Trefflichkeit in dem Leser den Wunsch, nun selbst an das Werk des Dichters hinanzugehen und ans der Quelle zu schöpfen, wie ein wohlgelungenes Gemälde einer schönen Gegend in dem Betrachtenden die Sehnsucht erweckt, sie mit eignen Augen zu schauen. Gerade auf diesem Ge¬ biete verfährt Scherer oft nnr andeutend, indem er dafür ästhetisch-kritische Betrachtungen einsticht oder sich damit begnügt, auf einzelne Schönheiten eines Werkes hinzuweisen. Was aber soll der in den Werken unsrer Dichter weniger Bewanderte mit diesen Bemerkungen anfangen, wenn er nicht vorher mit dem bekannt gemacht worden ist, worauf dieselben abzielen? Man vergleiche einmal die Darstellung des Nibelungenliedes bei Scherer und bei Vilmar: beide sind Anhänger der Lachmannschen Liedertheorie, aber das hindert Vilmar nicht, eine zusammenhängende Darstellung des Ganzen zu geben, während Scherer in oft recht subjektiver Weise die Einzellieder bespricht und manche derselben fast ganz übergeht. Mit unleugbaren poetischen Geschick erzählt Scherer, wie Berchtung sich des Knaben Wolfdietrich erbarmt und ihm, ein zweiter Waffenmeister Hildebrand, bis zu seinem Tode und darüber hinaus treu bleibt, aber wer vermöchte aus seiner Darstellung sich eine richtige Vorstellung von der Geschichte Wolfdietrichs zu machen? Trotz aller sprachlichen Gewandtheit, trotz einzelner wahrhaft glänzend geschriebenen Partien vermag aber Scherer auch den warmen, überzeugungstreuen Ton nicht zu treffen, der allenthalben in Vilmars Sprache so wohlthuend berührt. Mag immer des letztern Standpunkt ein einseitiger, zu verwerfender sein — er ist gewiß um letzten der unsrige —, solches Einsetzen der ganzen Persönlich¬ keit, solche Begeisterung sür sein Ideal, wie sie Vilmar eigen war, gewinnt immer die Menge und nicht mit Unrecht: auch dem prinzipiellen Gegner wird Achtung dadurch abgenötigt. Die religiöse Engherzigkeit hat übrigens Vilmars Buch wenig geschadet; das beweist die große Anzahl von Auflagen, die seit Jahren ins Land gegangen sind. Sie schadet aber auch einem andern Buche nicht, daß — Gott seis ge¬ klagt — trotz seiner Unselbständigkeit jetzt zu den verbreitetsten deutschen Literatur¬ geschichten gehört und Vilmar viel eher verdrängen wird, als dies von Scherer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/303>, abgerufen am 24.08.2024.