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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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lvilhclm Scherers Deutsche ünteraturgeschichte.

wird die große Verzögerung für die Verbreitung des Werkes nicht ohne nach¬
teilige Folgen sein. Wir beklagen es, daß ein Manu wie Scherer nicht einer
derartigen Aufforderung des Verlegers, sein Manuskript stückweise in die Druckerei
zu schicken, widerstanden hat, glauben aber doch um der Bedeutung des Buches
willen hier noch einmal auf dasselbe zurückkommen zu müssen, um dadurch das
möglicherweise erlahmte Interesse an demselben aufs neue zu beleben. Da jedoch
in diesen Müttern bereits bei der Anzeige der ersten Lieferung die Methode
des Verfassers im einzelnen an der damals vorliegende" Probe dargethan wurde,*)
so sehen wir davon ab, wie es dort geschehen, dem Verfasser Schritt für Schritt
auf seinem Wege zu folgen, und begnügen uns damit, die Stellung anzudeuten,
die sein Buch in der Zahl unsrer bekanntesten Darstellungen der deutschen Lite¬
raturgeschichte voraussichtlich einnehmen wird.

Scherer hat es unterlassen, seinem Werke eine Vorrede vorauszuschicken,
welche uns über Zweck und Absicht desselben aufklären könnte; wir sind also
auf die auf den Umschlägen der ersten Hefte abgedruckte Ankündigung angewiesen,
"Der deutsche Büchermarkt, heißt es da, ist seit einiger Zeit mit Literatur¬
geschichten überschwemmt. Und doch mangelt es durchaus an einem Werke,
welches nicht aus zweiter und dritter Hand, sondern ans den Quellen selbst
schöpfte, auf der Höhe der heutigen Wissenschaft stünde und in künstlerisch freier
Anordnung, aber auf das Wesentliche beschränkt, ein umfassendes lind anschau¬
liches Bild der geistigen Entwicklung unsrer Nation zu geben versuchte," Das
Bedürfnis einer solcher Darstellung wird dann als "oft empfunden und vielfach
kundgegeben" bezeichnet; ihm abzuhelfen, ist Scherers Buch bestimmt.

Wir geben zunächst dieses Bedürfnis zu, und wollen zusehen, inwieweit
das von Scherer Geleistete den eben angeführten Forderungen entspricht.

Vielfach, sowohl von Freunden als von Gegner" des Verfassers, konnte
man die Ansicht aussprechen hören, daß sein Buch bestimmt sei, die so außer¬
ordentlich verbreitete Darstellung Vilmars beim großen Publikum zu verdrängen,
eine Ansicht, die, beiläufig gesagt, fast jedesmal beim Erscheinen einer neue"
populären Geschichte der deutschen Literatur auftaucht. Mag nun Scherer diese
Absicht vorgeschwebt haben oder nicht, jedenfalls sind wir der Meinung, daß
dieselbe, falls sie bestanden hat, nicht erreicht werden wird.

Scherer, ein durchaus moderner Geist, der im Gegensatz zu dem ortho¬
doxen Vilmar der Überzeugung lebt, "daß das Heil der deutschen Kultur nur
dort zu finden ist, wo es unsere Klassiker zu finden glaubten," d. h. doch wohl
in dem andauernden Erstreben "reiner Menschlichkeit," vermeidet zwar alle die
Fehler, die aus Vilmars einseitigem theologischen Standpunkte entsprangen,
aber er erreicht nicht die vielen Vorzüge, die trotz alledem Vilmars Buche eigen
sind und die dasselbe mit Recht beliebt gemacht haben. Es fehlt Scherer vor



Vergl, Grenzboten, 1880 II, S, SSS-56L,
lvilhclm Scherers Deutsche ünteraturgeschichte.

wird die große Verzögerung für die Verbreitung des Werkes nicht ohne nach¬
teilige Folgen sein. Wir beklagen es, daß ein Manu wie Scherer nicht einer
derartigen Aufforderung des Verlegers, sein Manuskript stückweise in die Druckerei
zu schicken, widerstanden hat, glauben aber doch um der Bedeutung des Buches
willen hier noch einmal auf dasselbe zurückkommen zu müssen, um dadurch das
möglicherweise erlahmte Interesse an demselben aufs neue zu beleben. Da jedoch
in diesen Müttern bereits bei der Anzeige der ersten Lieferung die Methode
des Verfassers im einzelnen an der damals vorliegende» Probe dargethan wurde,*)
so sehen wir davon ab, wie es dort geschehen, dem Verfasser Schritt für Schritt
auf seinem Wege zu folgen, und begnügen uns damit, die Stellung anzudeuten,
die sein Buch in der Zahl unsrer bekanntesten Darstellungen der deutschen Lite¬
raturgeschichte voraussichtlich einnehmen wird.

Scherer hat es unterlassen, seinem Werke eine Vorrede vorauszuschicken,
welche uns über Zweck und Absicht desselben aufklären könnte; wir sind also
auf die auf den Umschlägen der ersten Hefte abgedruckte Ankündigung angewiesen,
„Der deutsche Büchermarkt, heißt es da, ist seit einiger Zeit mit Literatur¬
geschichten überschwemmt. Und doch mangelt es durchaus an einem Werke,
welches nicht aus zweiter und dritter Hand, sondern ans den Quellen selbst
schöpfte, auf der Höhe der heutigen Wissenschaft stünde und in künstlerisch freier
Anordnung, aber auf das Wesentliche beschränkt, ein umfassendes lind anschau¬
liches Bild der geistigen Entwicklung unsrer Nation zu geben versuchte," Das
Bedürfnis einer solcher Darstellung wird dann als „oft empfunden und vielfach
kundgegeben" bezeichnet; ihm abzuhelfen, ist Scherers Buch bestimmt.

Wir geben zunächst dieses Bedürfnis zu, und wollen zusehen, inwieweit
das von Scherer Geleistete den eben angeführten Forderungen entspricht.

Vielfach, sowohl von Freunden als von Gegner» des Verfassers, konnte
man die Ansicht aussprechen hören, daß sein Buch bestimmt sei, die so außer¬
ordentlich verbreitete Darstellung Vilmars beim großen Publikum zu verdrängen,
eine Ansicht, die, beiläufig gesagt, fast jedesmal beim Erscheinen einer neue»
populären Geschichte der deutschen Literatur auftaucht. Mag nun Scherer diese
Absicht vorgeschwebt haben oder nicht, jedenfalls sind wir der Meinung, daß
dieselbe, falls sie bestanden hat, nicht erreicht werden wird.

Scherer, ein durchaus moderner Geist, der im Gegensatz zu dem ortho¬
doxen Vilmar der Überzeugung lebt, „daß das Heil der deutschen Kultur nur
dort zu finden ist, wo es unsere Klassiker zu finden glaubten," d. h. doch wohl
in dem andauernden Erstreben „reiner Menschlichkeit," vermeidet zwar alle die
Fehler, die aus Vilmars einseitigem theologischen Standpunkte entsprangen,
aber er erreicht nicht die vielen Vorzüge, die trotz alledem Vilmars Buche eigen
sind und die dasselbe mit Recht beliebt gemacht haben. Es fehlt Scherer vor



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/302>, abgerufen am 22.07.2024.