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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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L. Geibels und F. A, v> Schacks sämtliche Werke.

die Pflege der sprachlichen Schönheit überwiegt bei den Poeten dieser Art die Freude
an der Fülle des Lebens und der künstlerischen Bewältigung und Organisation
großer Massen." (Ad. Stern, Gottfried Kinkel. "Westcrmanus Monatshefte."
Oktober, 1883.) Was hier von Kinkel gesagt wird, galt um 1840 und 1843 auch
von Geibel. Jene erste Sammlung der "Gedichte" Geibels, die so großen An¬
klang bei der weiblichen Jugend gefunden, daß der Dichter daraufhin unzählige-
male als der "Backfischlyriker" charakterisirt und verspottet worden ist, war bei
durchgehend musikalischen Wohllaut der Rhythmen, bei allen Einzelreizen der
Sprache ein Buch, hinter dem nur die schärfsten Augen eine selbständige Em¬
pfindung, eine eigenartige, wenn auch begrenzte Phantasie und plastische Ge¬
staltungskraft wahrnehmen konnten. In drei, vier ganz eigentümlichen Gedichten
("Wie es geht," "Im April," "Sanssouci"), in gewissen energischen Bildern,
die aus den nachgebildeten Gedichten herausleuchtetcn, in einem und dem andern
plötzlich wie aus der Tiefe herauftönenden Klänge, der rasch wieder in die all¬
gemein gefällige, aber oft gehörte Musik untertauchte, war eigner Geist und
eignes Leben zu spüren. In dem Sonett "Gegen den Strom" gab sich ein
männlicher Trotz gegen die Pöbelanbetnng kund, und der zürnende Zuruf:


Denn Sünde ward es, ans dem Schwarm zu ragen!

gilt leider auch heute noch, und heute -- das Strebertum ausgenommen, das wieder
einen Schwarm für sich bildet -- mehr als je. Schon in den "Zeitstimmen"
begann der Dichter zum Teil andre Töne anzuschlagen und verriet, daß er "im
Lernen wachsend durch das Leben schreite," und die "Juniuslieder" zeigten ihn
reifer, eigentümlicher, als die "Gedichte" erster Sammlung hatten ahnen lassen.
Selbst in den rein lyrischen Gedichten, den Frühlingsliedcrn und Liebesliedern
der zweiten Sammlung, spürt man, daß nicht nur die Musik seiner Sprache fester
und schwungvoller erklingt, sondern daß ein Wiederschein erlebter Wonnen und Leiden
durch sie hindurchgeht. Dazu schreitet die Phantasie des Dichters aus dem engen
Kreise, in den sie ursprünglich gebannt schien, energisch heraus, Gedichte wie "Eine
Septembernacht," "Morgenländischer Mythus," "König Sigurds Brautfahrt," das
Fragment des Gedichts "Julian" erwiesen, daß der Dichter sich nicht mehr mit
der Darstellung seiner persönlichen Empfindungen begnügen mochte. In den
"Juniusliedern" beginnen auch jene Gedichte, in denen Geibel eine Reflexion so
ganz in Stimmung zu tauchen weiß, daß sie lautere Poesie wird ("O Heimat-
liebe, Heimatluft" ist eine treffliche Probe dieser Art), und jene Liederchklcn
wie "Der Troubadour," in denen sich eine Folge lyrischer Bekenntnisse zu
einem vollen Lebensbilde gestaltet. Allein trotz des innern Wachstums, das
die "Juniuslieder" kundgeben, der große Schritt, mit dem sich Geibel den
bleibenden Ehrenplatz in der Geschichte der poetischen Literatur und auf lange
hinaus in der lebendig wirkenden Poesie gesichert, ist nicht zwischen der ersten
und zweiten, sondern zwischen der zweiten und dritten Sammlung seiner Gedichte


L. Geibels und F. A, v> Schacks sämtliche Werke.

die Pflege der sprachlichen Schönheit überwiegt bei den Poeten dieser Art die Freude
an der Fülle des Lebens und der künstlerischen Bewältigung und Organisation
großer Massen." (Ad. Stern, Gottfried Kinkel. „Westcrmanus Monatshefte."
Oktober, 1883.) Was hier von Kinkel gesagt wird, galt um 1840 und 1843 auch
von Geibel. Jene erste Sammlung der „Gedichte" Geibels, die so großen An¬
klang bei der weiblichen Jugend gefunden, daß der Dichter daraufhin unzählige-
male als der „Backfischlyriker" charakterisirt und verspottet worden ist, war bei
durchgehend musikalischen Wohllaut der Rhythmen, bei allen Einzelreizen der
Sprache ein Buch, hinter dem nur die schärfsten Augen eine selbständige Em¬
pfindung, eine eigenartige, wenn auch begrenzte Phantasie und plastische Ge¬
staltungskraft wahrnehmen konnten. In drei, vier ganz eigentümlichen Gedichten
(„Wie es geht," „Im April," „Sanssouci"), in gewissen energischen Bildern,
die aus den nachgebildeten Gedichten herausleuchtetcn, in einem und dem andern
plötzlich wie aus der Tiefe herauftönenden Klänge, der rasch wieder in die all¬
gemein gefällige, aber oft gehörte Musik untertauchte, war eigner Geist und
eignes Leben zu spüren. In dem Sonett „Gegen den Strom" gab sich ein
männlicher Trotz gegen die Pöbelanbetnng kund, und der zürnende Zuruf:


Denn Sünde ward es, ans dem Schwarm zu ragen!

gilt leider auch heute noch, und heute — das Strebertum ausgenommen, das wieder
einen Schwarm für sich bildet — mehr als je. Schon in den „Zeitstimmen"
begann der Dichter zum Teil andre Töne anzuschlagen und verriet, daß er „im
Lernen wachsend durch das Leben schreite," und die „Juniuslieder" zeigten ihn
reifer, eigentümlicher, als die „Gedichte" erster Sammlung hatten ahnen lassen.
Selbst in den rein lyrischen Gedichten, den Frühlingsliedcrn und Liebesliedern
der zweiten Sammlung, spürt man, daß nicht nur die Musik seiner Sprache fester
und schwungvoller erklingt, sondern daß ein Wiederschein erlebter Wonnen und Leiden
durch sie hindurchgeht. Dazu schreitet die Phantasie des Dichters aus dem engen
Kreise, in den sie ursprünglich gebannt schien, energisch heraus, Gedichte wie „Eine
Septembernacht," „Morgenländischer Mythus," „König Sigurds Brautfahrt," das
Fragment des Gedichts „Julian" erwiesen, daß der Dichter sich nicht mehr mit
der Darstellung seiner persönlichen Empfindungen begnügen mochte. In den
„Juniusliedern" beginnen auch jene Gedichte, in denen Geibel eine Reflexion so
ganz in Stimmung zu tauchen weiß, daß sie lautere Poesie wird („O Heimat-
liebe, Heimatluft" ist eine treffliche Probe dieser Art), und jene Liederchklcn
wie „Der Troubadour," in denen sich eine Folge lyrischer Bekenntnisse zu
einem vollen Lebensbilde gestaltet. Allein trotz des innern Wachstums, das
die „Juniuslieder" kundgeben, der große Schritt, mit dem sich Geibel den
bleibenden Ehrenplatz in der Geschichte der poetischen Literatur und auf lange
hinaus in der lebendig wirkenden Poesie gesichert, ist nicht zwischen der ersten
und zweiten, sondern zwischen der zweiten und dritten Sammlung seiner Gedichte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/30>, abgerufen am 28.09.2024.