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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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<L, Geibels und F. A. v, Schocks sämtliche Werke.

gethan worden. Diese dritte und vierte Sammlung, die jetzt den dritten Band
der "Gesammelten Werke" bilden, die "Neuen Gedichte" und die "Gedichte und
Gedenkblätter" enthalten fast alles, was Geibel zu den Dichtern höhern Ranges
gereiht hat. Da finden sich die schönsten, tiefsten und unvergänglichsten von seinen
Liedern, der "Ada" überschriebene Cyklus, in dem das reinste Glück nachfunkelt
und der seelenergreifende Schmerz nachzittert, da die verwandten Klänge aus
späterer Zeit: "Ein Traum" und "Um Mitternacht," da die schönen "Lieder
aus alter und neuer Zeit" und die "Erinnerungen aus Griechenland," da die
ernsten, formedeln Zcitgedichte: "Der Acker ewig umgewühlt vom Pfluge," "Mein
Friedensschluß," "Geschichte und Gegenwart," da die kräftigen und geist¬
vollen Sprüche, da die phantasievvllen Dichtungen: "Mythus vom Dampf,"
"Babel," "Die Sehnsucht des Weltweisen." "Der Tod des Tiberius," "Der
Bildhauer des Hadrian," "Omar," aus denen allen ein Klang tont, der des
Dichters eigne Zeit mächtig und ahnungsvoll berührt, da auch die reizenden Lebens¬
bilder: "Ich führ von Se. Goar," "Erste Begegnung," "Die Lachswehr" und
zahlreiche andre. Die tiefsten Empfindungen, die farbenreichsten Anschauungen"
die kühnsten Gedanken, die ein wechselvolles Leben Geibel verliehen, erscheinen in
diesen beiden Sammlungen konzentrirt. Wer dem Dichter des Adacyklus das
echte, herzgebvrene Gefühl, wer den Dichtungen "Tod des Tiberius" und "Der
Bildhauer des Hadrian" die Phantasie absprechen kann, der ist um die dürftige
Begrenzung seiner eignen Empfänglichkeit nicht zu beneiden.

Auch die "Spätherbstblätter" sind im großen und ganzen den Hauptgaben
der "Gesammelten Werke" noch hinzuzuzählen. Man muß bei diesem poetischen
Spätherbst unwillkürlich jener wunderbaren sonnigen Oktobertage gedenken, in
denen einige letzte, aber süße Trauben noch vom Spalier gepflückt werden und
die buntgewordnen Laubkronen gewisser stattlichen Bänme noch so voll und
stolz dreinschauen, als gingen die Lager welker Blätter zu ihren Füßen sie
nichts an. Freilich, sowenig ein solcher Oktobertag trotz seines eigensten Reizes
einen Vergleich mit einem thauigen, rosenprangenden Junimorgen oder einem
leuchtenden Hochsommerabend zuläßt, sowenig darf man die "Spätherbstblätter"
mit den "Neuen Gedichten" und den "Gedichten und Gedenkblättern" unmittel¬
bar vergleichen. Der eigenste Wert dieser Gedichte liegt schon darin, daß sie
zumeist nicht mehr dem Erlebnis, sondern der Erinnerung entströmen:


Weithinaus, wohin die Fahrt
Das Lebens einst den nimmermüden Pilger trug,
Schweife wachen Traums in fcsscllosem Flug der Sinn
Und sucht die Stätten seiner alten Freuden auf.
Aus Sonncnnebeln hell mit ihren Tempeln steigt
Die Burg Athens; das alte Schloß im Habichtswald,
Das forstmnrauschte, wo der Dichter still gereift,
Taucht grüßend auf; am Lorlehfelscn braust der Rhein,
Ein Echo weckend ungestümer Jugendlust,

<L, Geibels und F. A. v, Schocks sämtliche Werke.

gethan worden. Diese dritte und vierte Sammlung, die jetzt den dritten Band
der „Gesammelten Werke" bilden, die „Neuen Gedichte" und die „Gedichte und
Gedenkblätter" enthalten fast alles, was Geibel zu den Dichtern höhern Ranges
gereiht hat. Da finden sich die schönsten, tiefsten und unvergänglichsten von seinen
Liedern, der „Ada" überschriebene Cyklus, in dem das reinste Glück nachfunkelt
und der seelenergreifende Schmerz nachzittert, da die verwandten Klänge aus
späterer Zeit: „Ein Traum" und „Um Mitternacht," da die schönen „Lieder
aus alter und neuer Zeit" und die „Erinnerungen aus Griechenland," da die
ernsten, formedeln Zcitgedichte: „Der Acker ewig umgewühlt vom Pfluge," „Mein
Friedensschluß," „Geschichte und Gegenwart," da die kräftigen und geist¬
vollen Sprüche, da die phantasievvllen Dichtungen: „Mythus vom Dampf,"
„Babel," „Die Sehnsucht des Weltweisen." „Der Tod des Tiberius," „Der
Bildhauer des Hadrian," „Omar," aus denen allen ein Klang tont, der des
Dichters eigne Zeit mächtig und ahnungsvoll berührt, da auch die reizenden Lebens¬
bilder: „Ich führ von Se. Goar," „Erste Begegnung," „Die Lachswehr" und
zahlreiche andre. Die tiefsten Empfindungen, die farbenreichsten Anschauungen»
die kühnsten Gedanken, die ein wechselvolles Leben Geibel verliehen, erscheinen in
diesen beiden Sammlungen konzentrirt. Wer dem Dichter des Adacyklus das
echte, herzgebvrene Gefühl, wer den Dichtungen „Tod des Tiberius" und „Der
Bildhauer des Hadrian" die Phantasie absprechen kann, der ist um die dürftige
Begrenzung seiner eignen Empfänglichkeit nicht zu beneiden.

Auch die „Spätherbstblätter" sind im großen und ganzen den Hauptgaben
der „Gesammelten Werke" noch hinzuzuzählen. Man muß bei diesem poetischen
Spätherbst unwillkürlich jener wunderbaren sonnigen Oktobertage gedenken, in
denen einige letzte, aber süße Trauben noch vom Spalier gepflückt werden und
die buntgewordnen Laubkronen gewisser stattlichen Bänme noch so voll und
stolz dreinschauen, als gingen die Lager welker Blätter zu ihren Füßen sie
nichts an. Freilich, sowenig ein solcher Oktobertag trotz seines eigensten Reizes
einen Vergleich mit einem thauigen, rosenprangenden Junimorgen oder einem
leuchtenden Hochsommerabend zuläßt, sowenig darf man die „Spätherbstblätter"
mit den „Neuen Gedichten" und den „Gedichten und Gedenkblättern" unmittel¬
bar vergleichen. Der eigenste Wert dieser Gedichte liegt schon darin, daß sie
zumeist nicht mehr dem Erlebnis, sondern der Erinnerung entströmen:


Weithinaus, wohin die Fahrt
Das Lebens einst den nimmermüden Pilger trug,
Schweife wachen Traums in fcsscllosem Flug der Sinn
Und sucht die Stätten seiner alten Freuden auf.
Aus Sonncnnebeln hell mit ihren Tempeln steigt
Die Burg Athens; das alte Schloß im Habichtswald,
Das forstmnrauschte, wo der Dichter still gereift,
Taucht grüßend auf; am Lorlehfelscn braust der Rhein,
Ein Echo weckend ungestümer Jugendlust,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/31>, abgerufen am 28.09.2024.