Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die jüdische Einwanderung in Deutschland.

Viel zu leiden, seit die Jesuiten im Lande festen Fuß gefaßt hatten. Bezeichnend
ist, daß noch im 18. Jahrhunderte die verarmte jüdische Gemeinde in Posen
verschiednen Kirchen und Klöstern, besonders aber der Gesellschaft Jesu große
Summen schuldete. Mit dem Wegsalle der alten Privilegien verschwanden auch
der .Kontusch und der Säbel, und die Juden mußten fortan zur Unterscheidung
von den Christen gelbe Hüte und auf dem Rücken einen roten Tuchfleck tragen,
auch in besonderen Quartieren wohnen und außerordentliche Steuern zahle".
Eine schwere Heimsuchung kam über sie in den Kriegen, welche auf den großen
Kosakeucmfstand folgten und von 1648 bis 1658 währten. Nach Grütz sind ihrer
in dieser Zeit wenigstens eine halbe Million umgekommen.

Da man die Juden ans dem platten Lande ursprünglich nicht duldete, so
wohnten sie vorzüglich in den Städten, und zwar weniger in den königlichen
als in den adlichen. In den polnischen Städten waren sie gegen das Ende
des vorigen Jahrhunderts so zahlreich, daß z. B. im Durchschnitte der ganzen
städtischen Bevölkerung Südpreußens im Jahre 1797 etwa der fünfte, in der
Stadt Posen sogar der dritte Einwohner ein Jude war. In Stadt und Land
zusammen aber kam im Posener Kammerbezirk auf 2V, im Bromberger auf 17,
im Warschauer auf 13 gezählte Einwohner ein Jude. Und thatsächlich ist die
Zahl der Kinder Israels gewiß im preußischen Polen damaliger Zeit (zwischen
der zweiten und dritten Teilung) erheblich größer gewesen, als die Zählung
ergab. Denn neben den zum Aufenthalt berechtigten Juden gab es in den
Provinzen Süd- und Westpreußen noch "unvergeleitete," die, aus Galizien und
Russisch-Polen herübergekommen, ein Interesse hatten, sich den: Zensus zu ent¬
ziehen, und deren Menge unter Friedrich dem Großen so zugenommen hatte,
daß der König Befehl geben mußte, viertausend derselben aufzugreifen und über
die Grenze zurückzuschaffen. Bei dieser großen Zahl der Juden war es ihnen
natürlich in vielen Städten, z. B. in Posen, nicht möglich, sich allein vom
Handel zu nähren, und so kam es, daß sie sich in jenen Gegenden in ziemlich
vielen Fällen technischen Gewerben widmeten und in einer Reihe von Hand¬
werken die christlichen Mitglieder an Zahl übertrafen, v. Bergmann berichtet
darüber: "So zählte man z. B. 1797 in den Städten der Posener Kammer
jüdische und christliche Gewerbtreibende: bei den Goldschmieden 22 und 19,
bei den Buchbindern 31 und 20, bei den Posamentirern 50 und 22, bei den
Mützenmachern 51 und 24, bei den Knopfmachern 52 und 6 und bei den
Schneidern 923 und 676. Sodann aber gab es jüdische Gewerbtreibende anch
sonst in erheblicher Menge: es fanden sich deren bei den Kürschnern neben 480
christlichen 251, bei den Schlächtern neben 638 christlichen 238, bei den Bäckern
neben 607 christlichen 151 ... sodaß von allen Handwerkern einschließlich der
aufgeführten Gewerbtreibenden in jenen Städten etwa der neunte und in den
Städten ganz Südpreußens schon etwa der siebente ein Jude war.... Relativ
groß war daneben auch die Zahl der jüdischen Musikanten (26 gegen 123 christ-


Die jüdische Einwanderung in Deutschland.

Viel zu leiden, seit die Jesuiten im Lande festen Fuß gefaßt hatten. Bezeichnend
ist, daß noch im 18. Jahrhunderte die verarmte jüdische Gemeinde in Posen
verschiednen Kirchen und Klöstern, besonders aber der Gesellschaft Jesu große
Summen schuldete. Mit dem Wegsalle der alten Privilegien verschwanden auch
der .Kontusch und der Säbel, und die Juden mußten fortan zur Unterscheidung
von den Christen gelbe Hüte und auf dem Rücken einen roten Tuchfleck tragen,
auch in besonderen Quartieren wohnen und außerordentliche Steuern zahle».
Eine schwere Heimsuchung kam über sie in den Kriegen, welche auf den großen
Kosakeucmfstand folgten und von 1648 bis 1658 währten. Nach Grütz sind ihrer
in dieser Zeit wenigstens eine halbe Million umgekommen.

Da man die Juden ans dem platten Lande ursprünglich nicht duldete, so
wohnten sie vorzüglich in den Städten, und zwar weniger in den königlichen
als in den adlichen. In den polnischen Städten waren sie gegen das Ende
des vorigen Jahrhunderts so zahlreich, daß z. B. im Durchschnitte der ganzen
städtischen Bevölkerung Südpreußens im Jahre 1797 etwa der fünfte, in der
Stadt Posen sogar der dritte Einwohner ein Jude war. In Stadt und Land
zusammen aber kam im Posener Kammerbezirk auf 2V, im Bromberger auf 17,
im Warschauer auf 13 gezählte Einwohner ein Jude. Und thatsächlich ist die
Zahl der Kinder Israels gewiß im preußischen Polen damaliger Zeit (zwischen
der zweiten und dritten Teilung) erheblich größer gewesen, als die Zählung
ergab. Denn neben den zum Aufenthalt berechtigten Juden gab es in den
Provinzen Süd- und Westpreußen noch „unvergeleitete," die, aus Galizien und
Russisch-Polen herübergekommen, ein Interesse hatten, sich den: Zensus zu ent¬
ziehen, und deren Menge unter Friedrich dem Großen so zugenommen hatte,
daß der König Befehl geben mußte, viertausend derselben aufzugreifen und über
die Grenze zurückzuschaffen. Bei dieser großen Zahl der Juden war es ihnen
natürlich in vielen Städten, z. B. in Posen, nicht möglich, sich allein vom
Handel zu nähren, und so kam es, daß sie sich in jenen Gegenden in ziemlich
vielen Fällen technischen Gewerben widmeten und in einer Reihe von Hand¬
werken die christlichen Mitglieder an Zahl übertrafen, v. Bergmann berichtet
darüber: „So zählte man z. B. 1797 in den Städten der Posener Kammer
jüdische und christliche Gewerbtreibende: bei den Goldschmieden 22 und 19,
bei den Buchbindern 31 und 20, bei den Posamentirern 50 und 22, bei den
Mützenmachern 51 und 24, bei den Knopfmachern 52 und 6 und bei den
Schneidern 923 und 676. Sodann aber gab es jüdische Gewerbtreibende anch
sonst in erheblicher Menge: es fanden sich deren bei den Kürschnern neben 480
christlichen 251, bei den Schlächtern neben 638 christlichen 238, bei den Bäckern
neben 607 christlichen 151 ... sodaß von allen Handwerkern einschließlich der
aufgeführten Gewerbtreibenden in jenen Städten etwa der neunte und in den
Städten ganz Südpreußens schon etwa der siebente ein Jude war.... Relativ
groß war daneben auch die Zahl der jüdischen Musikanten (26 gegen 123 christ-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0290" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/155173"/>
          <fw type="header" place="top"> Die jüdische Einwanderung in Deutschland.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1180" prev="#ID_1179"> Viel zu leiden, seit die Jesuiten im Lande festen Fuß gefaßt hatten. Bezeichnend<lb/>
ist, daß noch im 18. Jahrhunderte die verarmte jüdische Gemeinde in Posen<lb/>
verschiednen Kirchen und Klöstern, besonders aber der Gesellschaft Jesu große<lb/>
Summen schuldete. Mit dem Wegsalle der alten Privilegien verschwanden auch<lb/>
der .Kontusch und der Säbel, und die Juden mußten fortan zur Unterscheidung<lb/>
von den Christen gelbe Hüte und auf dem Rücken einen roten Tuchfleck tragen,<lb/>
auch in besonderen Quartieren wohnen und außerordentliche Steuern zahle».<lb/>
Eine schwere Heimsuchung kam über sie in den Kriegen, welche auf den großen<lb/>
Kosakeucmfstand folgten und von 1648 bis 1658 währten. Nach Grütz sind ihrer<lb/>
in dieser Zeit wenigstens eine halbe Million umgekommen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1181" next="#ID_1182"> Da man die Juden ans dem platten Lande ursprünglich nicht duldete, so<lb/>
wohnten sie vorzüglich in den Städten, und zwar weniger in den königlichen<lb/>
als in den adlichen. In den polnischen Städten waren sie gegen das Ende<lb/>
des vorigen Jahrhunderts so zahlreich, daß z. B. im Durchschnitte der ganzen<lb/>
städtischen Bevölkerung Südpreußens im Jahre 1797 etwa der fünfte, in der<lb/>
Stadt Posen sogar der dritte Einwohner ein Jude war. In Stadt und Land<lb/>
zusammen aber kam im Posener Kammerbezirk auf 2V, im Bromberger auf 17,<lb/>
im Warschauer auf 13 gezählte Einwohner ein Jude. Und thatsächlich ist die<lb/>
Zahl der Kinder Israels gewiß im preußischen Polen damaliger Zeit (zwischen<lb/>
der zweiten und dritten Teilung) erheblich größer gewesen, als die Zählung<lb/>
ergab. Denn neben den zum Aufenthalt berechtigten Juden gab es in den<lb/>
Provinzen Süd- und Westpreußen noch &#x201E;unvergeleitete," die, aus Galizien und<lb/>
Russisch-Polen herübergekommen, ein Interesse hatten, sich den: Zensus zu ent¬<lb/>
ziehen, und deren Menge unter Friedrich dem Großen so zugenommen hatte,<lb/>
daß der König Befehl geben mußte, viertausend derselben aufzugreifen und über<lb/>
die Grenze zurückzuschaffen. Bei dieser großen Zahl der Juden war es ihnen<lb/>
natürlich in vielen Städten, z. B. in Posen, nicht möglich, sich allein vom<lb/>
Handel zu nähren, und so kam es, daß sie sich in jenen Gegenden in ziemlich<lb/>
vielen Fällen technischen Gewerben widmeten und in einer Reihe von Hand¬<lb/>
werken die christlichen Mitglieder an Zahl übertrafen, v. Bergmann berichtet<lb/>
darüber: &#x201E;So zählte man z. B. 1797 in den Städten der Posener Kammer<lb/>
jüdische und christliche Gewerbtreibende: bei den Goldschmieden 22 und 19,<lb/>
bei den Buchbindern 31 und 20, bei den Posamentirern 50 und 22, bei den<lb/>
Mützenmachern 51 und 24, bei den Knopfmachern 52 und 6 und bei den<lb/>
Schneidern 923 und 676. Sodann aber gab es jüdische Gewerbtreibende anch<lb/>
sonst in erheblicher Menge: es fanden sich deren bei den Kürschnern neben 480<lb/>
christlichen 251, bei den Schlächtern neben 638 christlichen 238, bei den Bäckern<lb/>
neben 607 christlichen 151 ... sodaß von allen Handwerkern einschließlich der<lb/>
aufgeführten Gewerbtreibenden in jenen Städten etwa der neunte und in den<lb/>
Städten ganz Südpreußens schon etwa der siebente ein Jude war.... Relativ<lb/>
groß war daneben auch die Zahl der jüdischen Musikanten (26 gegen 123 christ-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0290] Die jüdische Einwanderung in Deutschland. Viel zu leiden, seit die Jesuiten im Lande festen Fuß gefaßt hatten. Bezeichnend ist, daß noch im 18. Jahrhunderte die verarmte jüdische Gemeinde in Posen verschiednen Kirchen und Klöstern, besonders aber der Gesellschaft Jesu große Summen schuldete. Mit dem Wegsalle der alten Privilegien verschwanden auch der .Kontusch und der Säbel, und die Juden mußten fortan zur Unterscheidung von den Christen gelbe Hüte und auf dem Rücken einen roten Tuchfleck tragen, auch in besonderen Quartieren wohnen und außerordentliche Steuern zahle». Eine schwere Heimsuchung kam über sie in den Kriegen, welche auf den großen Kosakeucmfstand folgten und von 1648 bis 1658 währten. Nach Grütz sind ihrer in dieser Zeit wenigstens eine halbe Million umgekommen. Da man die Juden ans dem platten Lande ursprünglich nicht duldete, so wohnten sie vorzüglich in den Städten, und zwar weniger in den königlichen als in den adlichen. In den polnischen Städten waren sie gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts so zahlreich, daß z. B. im Durchschnitte der ganzen städtischen Bevölkerung Südpreußens im Jahre 1797 etwa der fünfte, in der Stadt Posen sogar der dritte Einwohner ein Jude war. In Stadt und Land zusammen aber kam im Posener Kammerbezirk auf 2V, im Bromberger auf 17, im Warschauer auf 13 gezählte Einwohner ein Jude. Und thatsächlich ist die Zahl der Kinder Israels gewiß im preußischen Polen damaliger Zeit (zwischen der zweiten und dritten Teilung) erheblich größer gewesen, als die Zählung ergab. Denn neben den zum Aufenthalt berechtigten Juden gab es in den Provinzen Süd- und Westpreußen noch „unvergeleitete," die, aus Galizien und Russisch-Polen herübergekommen, ein Interesse hatten, sich den: Zensus zu ent¬ ziehen, und deren Menge unter Friedrich dem Großen so zugenommen hatte, daß der König Befehl geben mußte, viertausend derselben aufzugreifen und über die Grenze zurückzuschaffen. Bei dieser großen Zahl der Juden war es ihnen natürlich in vielen Städten, z. B. in Posen, nicht möglich, sich allein vom Handel zu nähren, und so kam es, daß sie sich in jenen Gegenden in ziemlich vielen Fällen technischen Gewerben widmeten und in einer Reihe von Hand¬ werken die christlichen Mitglieder an Zahl übertrafen, v. Bergmann berichtet darüber: „So zählte man z. B. 1797 in den Städten der Posener Kammer jüdische und christliche Gewerbtreibende: bei den Goldschmieden 22 und 19, bei den Buchbindern 31 und 20, bei den Posamentirern 50 und 22, bei den Mützenmachern 51 und 24, bei den Knopfmachern 52 und 6 und bei den Schneidern 923 und 676. Sodann aber gab es jüdische Gewerbtreibende anch sonst in erheblicher Menge: es fanden sich deren bei den Kürschnern neben 480 christlichen 251, bei den Schlächtern neben 638 christlichen 238, bei den Bäckern neben 607 christlichen 151 ... sodaß von allen Handwerkern einschließlich der aufgeführten Gewerbtreibenden in jenen Städten etwa der neunte und in den Städten ganz Südpreußens schon etwa der siebente ein Jude war.... Relativ groß war daneben auch die Zahl der jüdischen Musikanten (26 gegen 123 christ-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/290
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/290>, abgerufen am 23.07.2024.