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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Die jüdische Einwanderung in Deutschland.

Königen zwar wiederholt aufgehoben, aber ebenso oft auch wieder anerkannt
worden. Diese für die Juden sehr vorteilhaften Bestimmungen gewährten ihnen
einen besondern Gerichtsstand und stellten sie unter den Schutz und die Juris¬
diktion des Woiwoden und des Königs. Der Jude konnte sich darnach von
einer gegen ihn erhobnen Klage durch einen Eid reinigen. Den Mörder eines
Juden richtete der König selbst und bestrafte ihn mit Einziehung seines Ver¬
mögens. Die Entweihung eines jüdischen Bethauses oder Begräbnisplatzes
wurde wie Kirchenraub gebüßt. Nicht nur Handel und Verleihung von Geld
gegen Zinsen, sondern auch das Pfaudnchmen war dem Juden gestattet; ja er
durfte sogar christliche Heiligtümer in Pfand nehmen, wenn er sie einem Geist¬
lichen dann zur Aufbewahrung übergab. Nur der Erwerb von Grundbesitz war
ihm nicht erlaubt. Übrigens "bildete sich," wie Rönne berichtet, "nirgends so
vollständig wie in Polen ein organisirter jüdischer Staat im christlichen. Der¬
selbe war in Provinzen geteilt, welche ihre Landtage hatten und einen Deputirten
wählten. Diese Abgeordneten kamen in Warschau zu einer "Generalität" zu¬
sammen. An der Spitze der polnischen Jsraeliten stand ein von der Regierung
bestätigter Marschall, der alle sechs Jahre von neuem gewählt wurde und ihre
Angelegenheiten nach innen ordnete und dem Staate gegeuüber vertrat. Die
Rabbiner hatten die Jurisdiktion sowohl in Streitigkeiten ihrer Leute unter sich
als in einzelnen Sachen, die zwischen Juden und Christen schwebten. Erst unter
dem letzten polnischen Könige, Stanislaus, wurden jene jüdischen Landtage sowie
viele andre jüdische Privilegien aufgehoben."

Infolge dieser Begünstigungen kamen in der gedachten Zeit namentlich
viele oberdeutsche Juden nach Polen, wo sie zwar nicht, wie man gewünscht
und gehofft hatte, einen Mittelstand begründeten, wohl aber sich dermaßen ver¬
mehrten, daß Polen nicht mit Unrecht als die zweite Wiege des Judentums
bezeichnet werden konnte. Während die polnischen Könige die Juden im Genusse
der ihnen verliehenen Rechte zu schützen bemüht waren und der Adel dieselben,
da sie ihm als Bankiers, Kommissionäre und Pächter unentbehrlich waren, im
allgemeinen begünstigte, verfolgte besonders die städtische Bevölkerung die ge¬
fährlichen Konkurrenten auf den Gebieten des Handels und der leichteren Hand-
Werke mit Mißgunst und Haß. Wenn man dem Vordringen der Juden nicht
Grenzen setzte und diese stetig aufrecht erhielte -- heißt es in einer Vorstellung,
Welche der Posener Magistrat 1619 an König Siegmund den Dritten richtete --,
so würden die Juden, die sich fortwährend mehrten und von allen Seiten herbei¬
strömten, immer mehr städtischen Boden an sich reißen; je mehr sie sich an¬
häuften, desto schwerer lasteten Druck und Teuerung auf den Christen, und
insbesondre den Handeltreibenden und den Handwerkern erwüchsen Schwierig¬
keiten und Hindernisse. Da es in Polen an einer festen und einheitlichen
Staatsgewalt fehlte, mußte sich die Lage der Juden dort sehr verschieden ge¬
stalten und häufigen! Wechsel unterworfen sein. In Posen hatten sie namentlich


Die jüdische Einwanderung in Deutschland.

Königen zwar wiederholt aufgehoben, aber ebenso oft auch wieder anerkannt
worden. Diese für die Juden sehr vorteilhaften Bestimmungen gewährten ihnen
einen besondern Gerichtsstand und stellten sie unter den Schutz und die Juris¬
diktion des Woiwoden und des Königs. Der Jude konnte sich darnach von
einer gegen ihn erhobnen Klage durch einen Eid reinigen. Den Mörder eines
Juden richtete der König selbst und bestrafte ihn mit Einziehung seines Ver¬
mögens. Die Entweihung eines jüdischen Bethauses oder Begräbnisplatzes
wurde wie Kirchenraub gebüßt. Nicht nur Handel und Verleihung von Geld
gegen Zinsen, sondern auch das Pfaudnchmen war dem Juden gestattet; ja er
durfte sogar christliche Heiligtümer in Pfand nehmen, wenn er sie einem Geist¬
lichen dann zur Aufbewahrung übergab. Nur der Erwerb von Grundbesitz war
ihm nicht erlaubt. Übrigens „bildete sich," wie Rönne berichtet, „nirgends so
vollständig wie in Polen ein organisirter jüdischer Staat im christlichen. Der¬
selbe war in Provinzen geteilt, welche ihre Landtage hatten und einen Deputirten
wählten. Diese Abgeordneten kamen in Warschau zu einer »Generalität« zu¬
sammen. An der Spitze der polnischen Jsraeliten stand ein von der Regierung
bestätigter Marschall, der alle sechs Jahre von neuem gewählt wurde und ihre
Angelegenheiten nach innen ordnete und dem Staate gegeuüber vertrat. Die
Rabbiner hatten die Jurisdiktion sowohl in Streitigkeiten ihrer Leute unter sich
als in einzelnen Sachen, die zwischen Juden und Christen schwebten. Erst unter
dem letzten polnischen Könige, Stanislaus, wurden jene jüdischen Landtage sowie
viele andre jüdische Privilegien aufgehoben."

Infolge dieser Begünstigungen kamen in der gedachten Zeit namentlich
viele oberdeutsche Juden nach Polen, wo sie zwar nicht, wie man gewünscht
und gehofft hatte, einen Mittelstand begründeten, wohl aber sich dermaßen ver¬
mehrten, daß Polen nicht mit Unrecht als die zweite Wiege des Judentums
bezeichnet werden konnte. Während die polnischen Könige die Juden im Genusse
der ihnen verliehenen Rechte zu schützen bemüht waren und der Adel dieselben,
da sie ihm als Bankiers, Kommissionäre und Pächter unentbehrlich waren, im
allgemeinen begünstigte, verfolgte besonders die städtische Bevölkerung die ge¬
fährlichen Konkurrenten auf den Gebieten des Handels und der leichteren Hand-
Werke mit Mißgunst und Haß. Wenn man dem Vordringen der Juden nicht
Grenzen setzte und diese stetig aufrecht erhielte — heißt es in einer Vorstellung,
Welche der Posener Magistrat 1619 an König Siegmund den Dritten richtete —,
so würden die Juden, die sich fortwährend mehrten und von allen Seiten herbei¬
strömten, immer mehr städtischen Boden an sich reißen; je mehr sie sich an¬
häuften, desto schwerer lasteten Druck und Teuerung auf den Christen, und
insbesondre den Handeltreibenden und den Handwerkern erwüchsen Schwierig¬
keiten und Hindernisse. Da es in Polen an einer festen und einheitlichen
Staatsgewalt fehlte, mußte sich die Lage der Juden dort sehr verschieden ge¬
stalten und häufigen! Wechsel unterworfen sein. In Posen hatten sie namentlich


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[0289] Die jüdische Einwanderung in Deutschland. Königen zwar wiederholt aufgehoben, aber ebenso oft auch wieder anerkannt worden. Diese für die Juden sehr vorteilhaften Bestimmungen gewährten ihnen einen besondern Gerichtsstand und stellten sie unter den Schutz und die Juris¬ diktion des Woiwoden und des Königs. Der Jude konnte sich darnach von einer gegen ihn erhobnen Klage durch einen Eid reinigen. Den Mörder eines Juden richtete der König selbst und bestrafte ihn mit Einziehung seines Ver¬ mögens. Die Entweihung eines jüdischen Bethauses oder Begräbnisplatzes wurde wie Kirchenraub gebüßt. Nicht nur Handel und Verleihung von Geld gegen Zinsen, sondern auch das Pfaudnchmen war dem Juden gestattet; ja er durfte sogar christliche Heiligtümer in Pfand nehmen, wenn er sie einem Geist¬ lichen dann zur Aufbewahrung übergab. Nur der Erwerb von Grundbesitz war ihm nicht erlaubt. Übrigens „bildete sich," wie Rönne berichtet, „nirgends so vollständig wie in Polen ein organisirter jüdischer Staat im christlichen. Der¬ selbe war in Provinzen geteilt, welche ihre Landtage hatten und einen Deputirten wählten. Diese Abgeordneten kamen in Warschau zu einer »Generalität« zu¬ sammen. An der Spitze der polnischen Jsraeliten stand ein von der Regierung bestätigter Marschall, der alle sechs Jahre von neuem gewählt wurde und ihre Angelegenheiten nach innen ordnete und dem Staate gegeuüber vertrat. Die Rabbiner hatten die Jurisdiktion sowohl in Streitigkeiten ihrer Leute unter sich als in einzelnen Sachen, die zwischen Juden und Christen schwebten. Erst unter dem letzten polnischen Könige, Stanislaus, wurden jene jüdischen Landtage sowie viele andre jüdische Privilegien aufgehoben." Infolge dieser Begünstigungen kamen in der gedachten Zeit namentlich viele oberdeutsche Juden nach Polen, wo sie zwar nicht, wie man gewünscht und gehofft hatte, einen Mittelstand begründeten, wohl aber sich dermaßen ver¬ mehrten, daß Polen nicht mit Unrecht als die zweite Wiege des Judentums bezeichnet werden konnte. Während die polnischen Könige die Juden im Genusse der ihnen verliehenen Rechte zu schützen bemüht waren und der Adel dieselben, da sie ihm als Bankiers, Kommissionäre und Pächter unentbehrlich waren, im allgemeinen begünstigte, verfolgte besonders die städtische Bevölkerung die ge¬ fährlichen Konkurrenten auf den Gebieten des Handels und der leichteren Hand- Werke mit Mißgunst und Haß. Wenn man dem Vordringen der Juden nicht Grenzen setzte und diese stetig aufrecht erhielte — heißt es in einer Vorstellung, Welche der Posener Magistrat 1619 an König Siegmund den Dritten richtete —, so würden die Juden, die sich fortwährend mehrten und von allen Seiten herbei¬ strömten, immer mehr städtischen Boden an sich reißen; je mehr sie sich an¬ häuften, desto schwerer lasteten Druck und Teuerung auf den Christen, und insbesondre den Handeltreibenden und den Handwerkern erwüchsen Schwierig¬ keiten und Hindernisse. Da es in Polen an einer festen und einheitlichen Staatsgewalt fehlte, mußte sich die Lage der Juden dort sehr verschieden ge¬ stalten und häufigen! Wechsel unterworfen sein. In Posen hatten sie namentlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/289>, abgerufen am 30.06.2024.