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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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vie niederländische Genre- und Landschaftsmalerei.

den sittenbildlichen Charakter, welchen die niederländische Malerei frühzeitig
annahm.

Aus einer nur wenig späteren Zeit stammt auch das erste wirkliche Genre¬
bild im modernen Sinne, welches, soweit unsre Kenntnis reicht, auf uns
gekommen ist. Es befindet sich im städtischen Museum zu Leipzig und stellt
einen Liebeszauber dar, welchen ein junges Mädchen mit Bezug auf einen
jungen Mann ausübt, der hinter dem Rücken der Liebebedürftigen durch die
Thür in das Zimmer tritt. Dieses Zimmer giebt uns zugleich eine voll¬
kommene Vorstellung von der inneren Ausstattung bürgerlicher Wohnräume in
der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts. Da das Gemach an den
beiden auf die Thürwand ausstoßenden Seitenwänden mit Fenstern versehen
ist, muß man annehmen, daß es in einem erkerartigen Vorbau lag. Neben
der Thür befindet sich ein Wandschrank, dessen mit eisernen Bändern beschlagene
Thür halbgeöffnet ist, sodaß man auf seinen Inhalt, auf metallne Kannen,
Schüsseln und Pokale, blickt. Auf einem über diesem Schranke angebrachten
Bordbrcttc sind noch andre Gefäße aus Glas und Steingut aufgestellt. Unter
dem Wandschranke läuft eine niedrige Bank um die Ecke des Zimmers herum
bis zu dem mächtigen, von einem Mantel überdachten Kamine, in welchem
auf schmiedeeisernen Feuerböcken große Holzscheite brennen. Auf der andern
Seite des Zimmers steht ein niedriger Schrank mit gothischem Zierat, welcher
nur bis an die untere Kante der Fensterbrüstung reicht und zugleich als Tisch
dient. Solche "Stollenschränke" aus dem 15. Jahrhundert haben sich noch
erhalten. Im untern Teile war zwischen den vier hohen Füßen ein Brett
angebracht, auf welchem man Hausgerät bewahrte. Auf unserm Bilde steht
auf diesem Brett ein metallenes Waschbecken mit Kanne. Der obere Teil wurde
durch eine Thür in der Mitte geöffnet. Auf der oberen Platte des Schrankes
liegt ein halb zusammengerolltes, mit Fransen besetztes Handtuch, welches man
wölikl und ävÄö, später locis nannte.*) Daneben steht eine Büchse, eine
Schale, auf welcher ein Papagei sitzt, und an dem Pfosten, welcher die beiden
Fenster trennt, ist ein Wedel aus Pfauenfedern und darüber ein Hohlspiegel
in viereckigem Rahmen angebracht. Unter dem zweiten Fenster dieser rechten
Wand steht wieder eine niedrige, hölzerne Bank, welche wie die andre ihr
gegenüber mit einem Kissen belegt ist. Das Mädchen in der Mitte des Zim¬
mers übt seinen Liebeszauber dadurch, daß sie mit einem Stahlstäbchen Funken
aus einem Feuerstein lockt, die auf ein wächsernes Herz in einem Kästchen
fallen. Dies letztere steht auf einem dreibeinigen Schemel ohne Lehne, einem
Sitzmöbel, welches sich in dieser Gestalt bis auf den heutigen Tag erhalten
hat, auch in den Dorfschenken von Brouwer und Teniers eine wichtige Rolle
spielt, wo es bisweilen auch als Waffe benutzt wird. H. Lücke, der dieses



Im sächsischen Erzgebirge und im Vogtlande heißt noch heute das Handtuch "Quele".
Grenzboten I. 1884. 31
vie niederländische Genre- und Landschaftsmalerei.

den sittenbildlichen Charakter, welchen die niederländische Malerei frühzeitig
annahm.

Aus einer nur wenig späteren Zeit stammt auch das erste wirkliche Genre¬
bild im modernen Sinne, welches, soweit unsre Kenntnis reicht, auf uns
gekommen ist. Es befindet sich im städtischen Museum zu Leipzig und stellt
einen Liebeszauber dar, welchen ein junges Mädchen mit Bezug auf einen
jungen Mann ausübt, der hinter dem Rücken der Liebebedürftigen durch die
Thür in das Zimmer tritt. Dieses Zimmer giebt uns zugleich eine voll¬
kommene Vorstellung von der inneren Ausstattung bürgerlicher Wohnräume in
der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts. Da das Gemach an den
beiden auf die Thürwand ausstoßenden Seitenwänden mit Fenstern versehen
ist, muß man annehmen, daß es in einem erkerartigen Vorbau lag. Neben
der Thür befindet sich ein Wandschrank, dessen mit eisernen Bändern beschlagene
Thür halbgeöffnet ist, sodaß man auf seinen Inhalt, auf metallne Kannen,
Schüsseln und Pokale, blickt. Auf einem über diesem Schranke angebrachten
Bordbrcttc sind noch andre Gefäße aus Glas und Steingut aufgestellt. Unter
dem Wandschranke läuft eine niedrige Bank um die Ecke des Zimmers herum
bis zu dem mächtigen, von einem Mantel überdachten Kamine, in welchem
auf schmiedeeisernen Feuerböcken große Holzscheite brennen. Auf der andern
Seite des Zimmers steht ein niedriger Schrank mit gothischem Zierat, welcher
nur bis an die untere Kante der Fensterbrüstung reicht und zugleich als Tisch
dient. Solche „Stollenschränke" aus dem 15. Jahrhundert haben sich noch
erhalten. Im untern Teile war zwischen den vier hohen Füßen ein Brett
angebracht, auf welchem man Hausgerät bewahrte. Auf unserm Bilde steht
auf diesem Brett ein metallenes Waschbecken mit Kanne. Der obere Teil wurde
durch eine Thür in der Mitte geöffnet. Auf der oberen Platte des Schrankes
liegt ein halb zusammengerolltes, mit Fransen besetztes Handtuch, welches man
wölikl und ävÄö, später locis nannte.*) Daneben steht eine Büchse, eine
Schale, auf welcher ein Papagei sitzt, und an dem Pfosten, welcher die beiden
Fenster trennt, ist ein Wedel aus Pfauenfedern und darüber ein Hohlspiegel
in viereckigem Rahmen angebracht. Unter dem zweiten Fenster dieser rechten
Wand steht wieder eine niedrige, hölzerne Bank, welche wie die andre ihr
gegenüber mit einem Kissen belegt ist. Das Mädchen in der Mitte des Zim¬
mers übt seinen Liebeszauber dadurch, daß sie mit einem Stahlstäbchen Funken
aus einem Feuerstein lockt, die auf ein wächsernes Herz in einem Kästchen
fallen. Dies letztere steht auf einem dreibeinigen Schemel ohne Lehne, einem
Sitzmöbel, welches sich in dieser Gestalt bis auf den heutigen Tag erhalten
hat, auch in den Dorfschenken von Brouwer und Teniers eine wichtige Rolle
spielt, wo es bisweilen auch als Waffe benutzt wird. H. Lücke, der dieses



Im sächsischen Erzgebirge und im Vogtlande heißt noch heute das Handtuch „Quele".
Grenzboten I. 1884. 31
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/251>, abgerufen am 04.07.2024.