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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Die niederländische Genre- und Landschaftsmalers!.

noch niemand gewagt hat, eine Kulturgeschichte dieser Epochen auf Grund der
literarischen und artistischen Denkmäler zu schreibend)

Die Miniaturen sind es also, welche uns einige Aufschlüsse über den Stand
der Malerei in den Niederlanden während des vierzehnten Jahrhunderts geben,
und in ihnen regt sich bereits jene realistische Auffassung der Natur und der
Menschen, die sich auf dem Genter Altar rin vollkommener Freiheit entfalten
sollte. Hier erwacht zum erstenmale die Freude des nordischen Menschen an
der Natur. Mit liebevoller Sorgfalt werden die landschaftlichen Hintergründe
für die Szenen aus der heiligen Geschichte ausgemalt. Die Landschaften werden
mit Burgen besetzt, wie sie die Künstler vor ihren Augen sahen, und der stolze
Bürgersinn spiegelt sich auch in diesen Malereien, indem nicht selten ganze
Städte mit ihren Mauern und Thürmen noch völlig naiv zwar, aber doch in
der klaren Absicht, etwas wirklich Vorhandenes nachzubilden, dargestellt werden.
Derselbe Anschluß an die Wirklichkeit offenbart sich in der Tracht der Figuren.
Der historische Sinn war unter diesen Künstlern so wenig entwickelt, daß es
keinem von ihnen einfiel, die Menschen könnten sich jemals anders getragen
haben, als sie es täglich mit eignen Augen sahen. Und warum auch? Konnte
es jemals etwas prächtigeres gegeben haben, als diese schweren, pelzverbrämtcn
Sammet-, Seiden- und Brvkatgewänder, diese kostbaren, von Juwelen funkelnden
Gürtclketten, diese blinkenden Rüstungen und Waffen? Und diese Herrlichkeiten
waren es wirklich wert, mit feinem Pinsel auf das subtilste nachgebildet zu werden.
Die farbige Welt der Erscheinungen war so mächtig in ihrer Wirkung ans das
Auge des Malers, daß die Phantasie garnicht nötig hatte, aus sich heraus zu
schaffen. Die Wirklichkeit bot dem Künstler soviel, daß er vollauf zu thun hatte,
um den Glanz, den Reichtum und das bewegte Leben seiner Umgebung nach¬
zubilden. Die Tafelmaler, welche vor den van Eycks thätig waren, werden der¬
selben Naturauffassung, und wahrscheinlich noch in verstärktem Maße, gehuldigt
haben, und da ihnen überdies in der Ölfarbe ein glänzenderes Ausdrucksmittel
zu Gebote stand, als den mit Gummi- und Leimfarben arbeitenden Miniatur¬
malern, wird die Wirkung, die sie erreichten, unzweifelhaft eine noch mächtigere
gewesen sein. Denn die Brüder van Eyck haben keineswegs, wie es früher hieß,
die Ölmalerei erfunden. Die Forschung hat ergeben, daß die Kunst, Öl als
Bindemittel für mineralische und vegetabilische Farbstoffe anzuwenden, schon im



*) Der von Essenwein und Schreiber kürzlich herausgegebene "Kulturhistorische Bilder¬
atlas" (Leipzig, Seemann) macht den ersten, sehr verdienstlichen Versuch dazu. Für die
niederländische Kulturgeschichte im besondern ist dagegen, abgesehen von einigen Abschnitten
in Jonckbloets Literaturgeschichte, nur wenig gethan worden. Von Wichtigkeit sind nur die
Publikationen von D. van der Kellen, ^uÜPütvs ckos ?"78-?"s, Ila^o 1861, und von
I, I. van Dseudyck, vooumsllts vlsssös So I'fre S-ins iss ?"xs-L"s Su X. s>n XVIII. sivels
1880 ff. Das letztere Werk hat keinen Text, und der Text des erster" beschränkt sich nur
auf dürftige Erläuterungen.
Die niederländische Genre- und Landschaftsmalers!.

noch niemand gewagt hat, eine Kulturgeschichte dieser Epochen auf Grund der
literarischen und artistischen Denkmäler zu schreibend)

Die Miniaturen sind es also, welche uns einige Aufschlüsse über den Stand
der Malerei in den Niederlanden während des vierzehnten Jahrhunderts geben,
und in ihnen regt sich bereits jene realistische Auffassung der Natur und der
Menschen, die sich auf dem Genter Altar rin vollkommener Freiheit entfalten
sollte. Hier erwacht zum erstenmale die Freude des nordischen Menschen an
der Natur. Mit liebevoller Sorgfalt werden die landschaftlichen Hintergründe
für die Szenen aus der heiligen Geschichte ausgemalt. Die Landschaften werden
mit Burgen besetzt, wie sie die Künstler vor ihren Augen sahen, und der stolze
Bürgersinn spiegelt sich auch in diesen Malereien, indem nicht selten ganze
Städte mit ihren Mauern und Thürmen noch völlig naiv zwar, aber doch in
der klaren Absicht, etwas wirklich Vorhandenes nachzubilden, dargestellt werden.
Derselbe Anschluß an die Wirklichkeit offenbart sich in der Tracht der Figuren.
Der historische Sinn war unter diesen Künstlern so wenig entwickelt, daß es
keinem von ihnen einfiel, die Menschen könnten sich jemals anders getragen
haben, als sie es täglich mit eignen Augen sahen. Und warum auch? Konnte
es jemals etwas prächtigeres gegeben haben, als diese schweren, pelzverbrämtcn
Sammet-, Seiden- und Brvkatgewänder, diese kostbaren, von Juwelen funkelnden
Gürtclketten, diese blinkenden Rüstungen und Waffen? Und diese Herrlichkeiten
waren es wirklich wert, mit feinem Pinsel auf das subtilste nachgebildet zu werden.
Die farbige Welt der Erscheinungen war so mächtig in ihrer Wirkung ans das
Auge des Malers, daß die Phantasie garnicht nötig hatte, aus sich heraus zu
schaffen. Die Wirklichkeit bot dem Künstler soviel, daß er vollauf zu thun hatte,
um den Glanz, den Reichtum und das bewegte Leben seiner Umgebung nach¬
zubilden. Die Tafelmaler, welche vor den van Eycks thätig waren, werden der¬
selben Naturauffassung, und wahrscheinlich noch in verstärktem Maße, gehuldigt
haben, und da ihnen überdies in der Ölfarbe ein glänzenderes Ausdrucksmittel
zu Gebote stand, als den mit Gummi- und Leimfarben arbeitenden Miniatur¬
malern, wird die Wirkung, die sie erreichten, unzweifelhaft eine noch mächtigere
gewesen sein. Denn die Brüder van Eyck haben keineswegs, wie es früher hieß,
die Ölmalerei erfunden. Die Forschung hat ergeben, daß die Kunst, Öl als
Bindemittel für mineralische und vegetabilische Farbstoffe anzuwenden, schon im



*) Der von Essenwein und Schreiber kürzlich herausgegebene „Kulturhistorische Bilder¬
atlas" (Leipzig, Seemann) macht den ersten, sehr verdienstlichen Versuch dazu. Für die
niederländische Kulturgeschichte im besondern ist dagegen, abgesehen von einigen Abschnitten
in Jonckbloets Literaturgeschichte, nur wenig gethan worden. Von Wichtigkeit sind nur die
Publikationen von D. van der Kellen, ^uÜPütvs ckos ?»78-?»s, Ila^o 1861, und von
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1880 ff. Das letztere Werk hat keinen Text, und der Text des erster» beschränkt sich nur
auf dürftige Erläuterungen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/246>, abgerufen am 04.07.2024.