Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die niederländische Genre- und Landschafrsmalerei.

gnomie des Landes festzuhalten sucht, und die Malerei des Sittenbildes, welche
das tägliche Leben zum Gegenstände hat, zu einer in andern Ländern bei
weitem nicht erreichten Blüte, Selbst die religiöse Malerei nimmt in ihren
reifsten Schöpfungen, welche wir dem größten Meister des Realismus, Rem-
brandt, verdanken, den Charakter des Sittenbildes an, und Andachtsbilder
waren es, auf welchen der Genius der niederländischen Landschaftsmalerei zuerst
seine Schwingen geregt hat. Demselben realistischen Zuge folgt die Porträt¬
malerei, deren Produkte nicht selten durch ihre Komposition -- wir erinnern z, B.
an die Schützenmahlzeit des van der Helft und an die Nachtwache Rembrandts --
in das Gebiet des Sittenbildes fallen.

Länger als ein Jahrhundert hat es gedauert, ehe sich Landschaft und Sittenbild
auf die Dauer von den religiösen Darstellungen lösten und selbständig auftraten.
Es ist aber bezeichnend für die Tiefe, in welcher die realistische Anschauung der
niederländischen Kunst wurzelte, daß wir die Anfänge der Landschaft, des Por¬
träts und des Sittenbildes schon ans jenem großen Werke nachweisen können,
welches an der Schwelle der niederländischen Kunst steht, an dem Genter Altar
der Brüder van Esel, dessen einzelne Teile sich in Berlin, Brüssel und Gent
befinden. Diese merkwürdige Schöpfung ist ein Phänomen, welches uns als
etwas wunderbares und ganz unvermitteltes entgegentritt, da keine Tafelgemälde
auf uns gekommen sind, welche dem Genter?lltar vorausgegangen sein können.
Die Vollendung desselben fällt in das Jahr 1432, und fünfzehn Jahre früher
muß er mindestens begonnen worden sein, da Hubert van Eyck, der ältere der
Brüder, welcher den Gedanken der Komposition ersann, im Jahre 1426 starb
und nach der Inschrift ans dem Gemälde bis zu seinem Tode doch schon einen
Teil vor sich gebracht haben mußte, da sein Bruder Johann als der "Voll¬
ender" genannt wird. Wenn man von einigen rohen Fresken absieht, ist dieses
Werk für uns wenigstens, geschichtlich betrachtet, eine völlig neue Erscheinung,
und mit ihm muß man daher die Geschichte der niederländischen Malerei be¬
ginnen. Wie aber nichts Vollendetes oder Neues auf der Welt ohne Vor- oder
Entwicklungsstufe zu denken ist, so müssen auch dem Genter Altar eine Reihe
andrer Gemälde vorausgegangen sein, die sich unsrer Kenntnis entziehen. Das
einzige Kunstmaterial, welches für uns den Zusammenhang mit ihm und der
frühern Malerei vermittelt, sind die Miniaturen der Meßbücher, der Breviere,
der Kalendarien, der Manuskripte der klassischen und der gleichzeitigen schönen
Literatur. Sie befanden sich ebensowohl in der Händen der Geistlichen und
Gelehrten wie im Besitze der Laien. Das beweist uns u. a. das Doppelbildnis
des Gvldwügerpcmres von Quintin Massijs im Louvre, auf welchem die Fran
in einem Gebetbuche blättert, dessen aufgeschlagene Blätter das Miniaturbild
einer Madonna und einen kunstvollen Initial zeigen. Wenn wir uns die Kultur¬
zustände des Mittelalters und der Renaissancezeit im weitesten Sinne vergegen¬
wärtigen wollen, müssen wir stets die gleichzeitigen Kunstwerke befragen, da es


Die niederländische Genre- und Landschafrsmalerei.

gnomie des Landes festzuhalten sucht, und die Malerei des Sittenbildes, welche
das tägliche Leben zum Gegenstände hat, zu einer in andern Ländern bei
weitem nicht erreichten Blüte, Selbst die religiöse Malerei nimmt in ihren
reifsten Schöpfungen, welche wir dem größten Meister des Realismus, Rem-
brandt, verdanken, den Charakter des Sittenbildes an, und Andachtsbilder
waren es, auf welchen der Genius der niederländischen Landschaftsmalerei zuerst
seine Schwingen geregt hat. Demselben realistischen Zuge folgt die Porträt¬
malerei, deren Produkte nicht selten durch ihre Komposition — wir erinnern z, B.
an die Schützenmahlzeit des van der Helft und an die Nachtwache Rembrandts —
in das Gebiet des Sittenbildes fallen.

Länger als ein Jahrhundert hat es gedauert, ehe sich Landschaft und Sittenbild
auf die Dauer von den religiösen Darstellungen lösten und selbständig auftraten.
Es ist aber bezeichnend für die Tiefe, in welcher die realistische Anschauung der
niederländischen Kunst wurzelte, daß wir die Anfänge der Landschaft, des Por¬
träts und des Sittenbildes schon ans jenem großen Werke nachweisen können,
welches an der Schwelle der niederländischen Kunst steht, an dem Genter Altar
der Brüder van Esel, dessen einzelne Teile sich in Berlin, Brüssel und Gent
befinden. Diese merkwürdige Schöpfung ist ein Phänomen, welches uns als
etwas wunderbares und ganz unvermitteltes entgegentritt, da keine Tafelgemälde
auf uns gekommen sind, welche dem Genter?lltar vorausgegangen sein können.
Die Vollendung desselben fällt in das Jahr 1432, und fünfzehn Jahre früher
muß er mindestens begonnen worden sein, da Hubert van Eyck, der ältere der
Brüder, welcher den Gedanken der Komposition ersann, im Jahre 1426 starb
und nach der Inschrift ans dem Gemälde bis zu seinem Tode doch schon einen
Teil vor sich gebracht haben mußte, da sein Bruder Johann als der „Voll¬
ender" genannt wird. Wenn man von einigen rohen Fresken absieht, ist dieses
Werk für uns wenigstens, geschichtlich betrachtet, eine völlig neue Erscheinung,
und mit ihm muß man daher die Geschichte der niederländischen Malerei be¬
ginnen. Wie aber nichts Vollendetes oder Neues auf der Welt ohne Vor- oder
Entwicklungsstufe zu denken ist, so müssen auch dem Genter Altar eine Reihe
andrer Gemälde vorausgegangen sein, die sich unsrer Kenntnis entziehen. Das
einzige Kunstmaterial, welches für uns den Zusammenhang mit ihm und der
frühern Malerei vermittelt, sind die Miniaturen der Meßbücher, der Breviere,
der Kalendarien, der Manuskripte der klassischen und der gleichzeitigen schönen
Literatur. Sie befanden sich ebensowohl in der Händen der Geistlichen und
Gelehrten wie im Besitze der Laien. Das beweist uns u. a. das Doppelbildnis
des Gvldwügerpcmres von Quintin Massijs im Louvre, auf welchem die Fran
in einem Gebetbuche blättert, dessen aufgeschlagene Blätter das Miniaturbild
einer Madonna und einen kunstvollen Initial zeigen. Wenn wir uns die Kultur¬
zustände des Mittelalters und der Renaissancezeit im weitesten Sinne vergegen¬
wärtigen wollen, müssen wir stets die gleichzeitigen Kunstwerke befragen, da es


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0245" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/155128"/>
          <fw type="header" place="top"> Die niederländische Genre- und Landschafrsmalerei.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1001" prev="#ID_1000"> gnomie des Landes festzuhalten sucht, und die Malerei des Sittenbildes, welche<lb/>
das tägliche Leben zum Gegenstände hat, zu einer in andern Ländern bei<lb/>
weitem nicht erreichten Blüte, Selbst die religiöse Malerei nimmt in ihren<lb/>
reifsten Schöpfungen, welche wir dem größten Meister des Realismus, Rem-<lb/>
brandt, verdanken, den Charakter des Sittenbildes an, und Andachtsbilder<lb/>
waren es, auf welchen der Genius der niederländischen Landschaftsmalerei zuerst<lb/>
seine Schwingen geregt hat. Demselben realistischen Zuge folgt die Porträt¬<lb/>
malerei, deren Produkte nicht selten durch ihre Komposition &#x2014; wir erinnern z, B.<lb/>
an die Schützenmahlzeit des van der Helft und an die Nachtwache Rembrandts &#x2014;<lb/>
in das Gebiet des Sittenbildes fallen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1002" next="#ID_1003"> Länger als ein Jahrhundert hat es gedauert, ehe sich Landschaft und Sittenbild<lb/>
auf die Dauer von den religiösen Darstellungen lösten und selbständig auftraten.<lb/>
Es ist aber bezeichnend für die Tiefe, in welcher die realistische Anschauung der<lb/>
niederländischen Kunst wurzelte, daß wir die Anfänge der Landschaft, des Por¬<lb/>
träts und des Sittenbildes schon ans jenem großen Werke nachweisen können,<lb/>
welches an der Schwelle der niederländischen Kunst steht, an dem Genter Altar<lb/>
der Brüder van Esel, dessen einzelne Teile sich in Berlin, Brüssel und Gent<lb/>
befinden. Diese merkwürdige Schöpfung ist ein Phänomen, welches uns als<lb/>
etwas wunderbares und ganz unvermitteltes entgegentritt, da keine Tafelgemälde<lb/>
auf uns gekommen sind, welche dem Genter?lltar vorausgegangen sein können.<lb/>
Die Vollendung desselben fällt in das Jahr 1432, und fünfzehn Jahre früher<lb/>
muß er mindestens begonnen worden sein, da Hubert van Eyck, der ältere der<lb/>
Brüder, welcher den Gedanken der Komposition ersann, im Jahre 1426 starb<lb/>
und nach der Inschrift ans dem Gemälde bis zu seinem Tode doch schon einen<lb/>
Teil vor sich gebracht haben mußte, da sein Bruder Johann als der &#x201E;Voll¬<lb/>
ender" genannt wird. Wenn man von einigen rohen Fresken absieht, ist dieses<lb/>
Werk für uns wenigstens, geschichtlich betrachtet, eine völlig neue Erscheinung,<lb/>
und mit ihm muß man daher die Geschichte der niederländischen Malerei be¬<lb/>
ginnen. Wie aber nichts Vollendetes oder Neues auf der Welt ohne Vor- oder<lb/>
Entwicklungsstufe zu denken ist, so müssen auch dem Genter Altar eine Reihe<lb/>
andrer Gemälde vorausgegangen sein, die sich unsrer Kenntnis entziehen. Das<lb/>
einzige Kunstmaterial, welches für uns den Zusammenhang mit ihm und der<lb/>
frühern Malerei vermittelt, sind die Miniaturen der Meßbücher, der Breviere,<lb/>
der Kalendarien, der Manuskripte der klassischen und der gleichzeitigen schönen<lb/>
Literatur. Sie befanden sich ebensowohl in der Händen der Geistlichen und<lb/>
Gelehrten wie im Besitze der Laien. Das beweist uns u. a. das Doppelbildnis<lb/>
des Gvldwügerpcmres von Quintin Massijs im Louvre, auf welchem die Fran<lb/>
in einem Gebetbuche blättert, dessen aufgeschlagene Blätter das Miniaturbild<lb/>
einer Madonna und einen kunstvollen Initial zeigen. Wenn wir uns die Kultur¬<lb/>
zustände des Mittelalters und der Renaissancezeit im weitesten Sinne vergegen¬<lb/>
wärtigen wollen, müssen wir stets die gleichzeitigen Kunstwerke befragen, da es</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0245] Die niederländische Genre- und Landschafrsmalerei. gnomie des Landes festzuhalten sucht, und die Malerei des Sittenbildes, welche das tägliche Leben zum Gegenstände hat, zu einer in andern Ländern bei weitem nicht erreichten Blüte, Selbst die religiöse Malerei nimmt in ihren reifsten Schöpfungen, welche wir dem größten Meister des Realismus, Rem- brandt, verdanken, den Charakter des Sittenbildes an, und Andachtsbilder waren es, auf welchen der Genius der niederländischen Landschaftsmalerei zuerst seine Schwingen geregt hat. Demselben realistischen Zuge folgt die Porträt¬ malerei, deren Produkte nicht selten durch ihre Komposition — wir erinnern z, B. an die Schützenmahlzeit des van der Helft und an die Nachtwache Rembrandts — in das Gebiet des Sittenbildes fallen. Länger als ein Jahrhundert hat es gedauert, ehe sich Landschaft und Sittenbild auf die Dauer von den religiösen Darstellungen lösten und selbständig auftraten. Es ist aber bezeichnend für die Tiefe, in welcher die realistische Anschauung der niederländischen Kunst wurzelte, daß wir die Anfänge der Landschaft, des Por¬ träts und des Sittenbildes schon ans jenem großen Werke nachweisen können, welches an der Schwelle der niederländischen Kunst steht, an dem Genter Altar der Brüder van Esel, dessen einzelne Teile sich in Berlin, Brüssel und Gent befinden. Diese merkwürdige Schöpfung ist ein Phänomen, welches uns als etwas wunderbares und ganz unvermitteltes entgegentritt, da keine Tafelgemälde auf uns gekommen sind, welche dem Genter?lltar vorausgegangen sein können. Die Vollendung desselben fällt in das Jahr 1432, und fünfzehn Jahre früher muß er mindestens begonnen worden sein, da Hubert van Eyck, der ältere der Brüder, welcher den Gedanken der Komposition ersann, im Jahre 1426 starb und nach der Inschrift ans dem Gemälde bis zu seinem Tode doch schon einen Teil vor sich gebracht haben mußte, da sein Bruder Johann als der „Voll¬ ender" genannt wird. Wenn man von einigen rohen Fresken absieht, ist dieses Werk für uns wenigstens, geschichtlich betrachtet, eine völlig neue Erscheinung, und mit ihm muß man daher die Geschichte der niederländischen Malerei be¬ ginnen. Wie aber nichts Vollendetes oder Neues auf der Welt ohne Vor- oder Entwicklungsstufe zu denken ist, so müssen auch dem Genter Altar eine Reihe andrer Gemälde vorausgegangen sein, die sich unsrer Kenntnis entziehen. Das einzige Kunstmaterial, welches für uns den Zusammenhang mit ihm und der frühern Malerei vermittelt, sind die Miniaturen der Meßbücher, der Breviere, der Kalendarien, der Manuskripte der klassischen und der gleichzeitigen schönen Literatur. Sie befanden sich ebensowohl in der Händen der Geistlichen und Gelehrten wie im Besitze der Laien. Das beweist uns u. a. das Doppelbildnis des Gvldwügerpcmres von Quintin Massijs im Louvre, auf welchem die Fran in einem Gebetbuche blättert, dessen aufgeschlagene Blätter das Miniaturbild einer Madonna und einen kunstvollen Initial zeigen. Wenn wir uns die Kultur¬ zustände des Mittelalters und der Renaissancezeit im weitesten Sinne vergegen¬ wärtigen wollen, müssen wir stets die gleichzeitigen Kunstwerke befragen, da es

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/245
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/245>, abgerufen am 04.07.2024.