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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Neue Dichtungen von Richard voß.

uns gegenüber so vielen modernen Leistungen beschleicht, in stärkerem Maße
erweckt als mancher andre, Richard Voß ist unzweifelhaft ein Talent, er besitzt
Geist und Phantasie und die seltene Fähigkeit, seine Phantasie lebendig zu ge¬
stalten, er vermag den Hörer und Leser wenigstens in einzelne seiner Stimmungen
hineinzuziehen, er ist von einer großen Kunstanschauung beseelt und offenbar
noch von der Überzeugung durchdrungen, daß die Dichtung eine Welt nicht
bloß wiederspiegeln, sondern in gewissem Sinne neu schaffen könne. Dennoch ist
die Wirkung aller dieser Vorzüge durch eine verhängnisvolle Richtung auf das
Krankhafte, Bizarre und schlechthin Häßliche in empfindlicher Weise beeinträchtigt.
Daß der Dichter von der pessimistischen Philosophie und vom alten Weltschmerz
des Bhronismus zugleich angehaucht ist, würde eine so entschiedene Ablenkung
von aller Naturwahrheit, eine so falsche Schätzung menschlicher Größe und eine
so peinliche Gemütlosigkeit, wie sie bei allem Bemühen, sich den Anschein von
Gcfühlsticfe zu geben, durch seine Dichtungen hindurchgeht, noch nicht erklären.
Möchte er immerhin die Welt in den schwärzesten Farben malen und, wie es
in "Regula Brandt" geschieht, den Henker als den Mann betrachten, der den
Leidenden Erlösung bringt und die Müden zur Ruhe bettet, möchte er die
Gemeinheit des Alltags mit noch stärkeren Worten brandmarken als es ihm
gefällt, damit wären mögliche und innerlich wahre Gestalten noch nicht aus¬
geschlossen. Allein der Dichter hat außer dem Pessimismus den Zug zu jener
krankhaften Originalität, welcher an normalen Menschengestalten ein für allemal
nichts Poetisches und Darstellenswertes entdecken kann. Die pessimistische Dar¬
stellung gewisser Menschlichkeiten nach unten hin wirkt bei Voß bei weitem nicht
so abstoßend als das, was wir für Idealität, für sittliches Pathos und hohen
Flug der Gedanken nehmen sollen. Es ist schwer zu verstehen, daß dem hoch¬
begabten Dichter die Siuuwidrigkeit einer Weltdarstellung nicht klar wird, welche
die einfachsten Tugenden der Menschenseele, die Wahrheit unmittelbarer Gefühle
leugnet und derselben Menschennatur, die sie nicht verächtlich genug schildern
kann, auf der andern Seite ein ungeheures Vermögen selbstloser Empfindung
und höchsten Opfermutes zutraut. Die Übergänge sind bei Voß grell, schroff
und gewaltsam, der Ausdruck des innern Lebens seiner Gestalten ergreift uns
selten und überzeugt noch seltner. Der Dichter scheint in allen seinen Produk¬
tionen dramatischer wie epischer Gattung von der Furcht beherrscht zu werden,
mit dem ersten Schritt zum Einfachen, menschlich Warmen und Gewinnenden der
Trivialität anheimzufallen. Indes ist es nicht bloß diese Künstlermarotte, die
ihn auf so wunderliche Irrwege treibt und eine weltmttde Phantastik in ihm
nährt. Er scheint in der That an die Art Titanen zu glauben, von welchen
er eine Probe in dem Roman "Nolla" giebt und ans welche die armseligen,
vom "Brauch" beherrschten Naturen in Trauerspiel "Regula Brandt" brünstig
hoffen, Titanen, welche angeblich die Welt umwälzen, aber unter allen Um¬
ständen ihre nächste Pflicht nicht thun können.


Neue Dichtungen von Richard voß.

uns gegenüber so vielen modernen Leistungen beschleicht, in stärkerem Maße
erweckt als mancher andre, Richard Voß ist unzweifelhaft ein Talent, er besitzt
Geist und Phantasie und die seltene Fähigkeit, seine Phantasie lebendig zu ge¬
stalten, er vermag den Hörer und Leser wenigstens in einzelne seiner Stimmungen
hineinzuziehen, er ist von einer großen Kunstanschauung beseelt und offenbar
noch von der Überzeugung durchdrungen, daß die Dichtung eine Welt nicht
bloß wiederspiegeln, sondern in gewissem Sinne neu schaffen könne. Dennoch ist
die Wirkung aller dieser Vorzüge durch eine verhängnisvolle Richtung auf das
Krankhafte, Bizarre und schlechthin Häßliche in empfindlicher Weise beeinträchtigt.
Daß der Dichter von der pessimistischen Philosophie und vom alten Weltschmerz
des Bhronismus zugleich angehaucht ist, würde eine so entschiedene Ablenkung
von aller Naturwahrheit, eine so falsche Schätzung menschlicher Größe und eine
so peinliche Gemütlosigkeit, wie sie bei allem Bemühen, sich den Anschein von
Gcfühlsticfe zu geben, durch seine Dichtungen hindurchgeht, noch nicht erklären.
Möchte er immerhin die Welt in den schwärzesten Farben malen und, wie es
in „Regula Brandt" geschieht, den Henker als den Mann betrachten, der den
Leidenden Erlösung bringt und die Müden zur Ruhe bettet, möchte er die
Gemeinheit des Alltags mit noch stärkeren Worten brandmarken als es ihm
gefällt, damit wären mögliche und innerlich wahre Gestalten noch nicht aus¬
geschlossen. Allein der Dichter hat außer dem Pessimismus den Zug zu jener
krankhaften Originalität, welcher an normalen Menschengestalten ein für allemal
nichts Poetisches und Darstellenswertes entdecken kann. Die pessimistische Dar¬
stellung gewisser Menschlichkeiten nach unten hin wirkt bei Voß bei weitem nicht
so abstoßend als das, was wir für Idealität, für sittliches Pathos und hohen
Flug der Gedanken nehmen sollen. Es ist schwer zu verstehen, daß dem hoch¬
begabten Dichter die Siuuwidrigkeit einer Weltdarstellung nicht klar wird, welche
die einfachsten Tugenden der Menschenseele, die Wahrheit unmittelbarer Gefühle
leugnet und derselben Menschennatur, die sie nicht verächtlich genug schildern
kann, auf der andern Seite ein ungeheures Vermögen selbstloser Empfindung
und höchsten Opfermutes zutraut. Die Übergänge sind bei Voß grell, schroff
und gewaltsam, der Ausdruck des innern Lebens seiner Gestalten ergreift uns
selten und überzeugt noch seltner. Der Dichter scheint in allen seinen Produk¬
tionen dramatischer wie epischer Gattung von der Furcht beherrscht zu werden,
mit dem ersten Schritt zum Einfachen, menschlich Warmen und Gewinnenden der
Trivialität anheimzufallen. Indes ist es nicht bloß diese Künstlermarotte, die
ihn auf so wunderliche Irrwege treibt und eine weltmttde Phantastik in ihm
nährt. Er scheint in der That an die Art Titanen zu glauben, von welchen
er eine Probe in dem Roman „Nolla" giebt und ans welche die armseligen,
vom „Brauch" beherrschten Naturen in Trauerspiel „Regula Brandt" brünstig
hoffen, Titanen, welche angeblich die Welt umwälzen, aber unter allen Um¬
ständen ihre nächste Pflicht nicht thun können.


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[0153] Neue Dichtungen von Richard voß. uns gegenüber so vielen modernen Leistungen beschleicht, in stärkerem Maße erweckt als mancher andre, Richard Voß ist unzweifelhaft ein Talent, er besitzt Geist und Phantasie und die seltene Fähigkeit, seine Phantasie lebendig zu ge¬ stalten, er vermag den Hörer und Leser wenigstens in einzelne seiner Stimmungen hineinzuziehen, er ist von einer großen Kunstanschauung beseelt und offenbar noch von der Überzeugung durchdrungen, daß die Dichtung eine Welt nicht bloß wiederspiegeln, sondern in gewissem Sinne neu schaffen könne. Dennoch ist die Wirkung aller dieser Vorzüge durch eine verhängnisvolle Richtung auf das Krankhafte, Bizarre und schlechthin Häßliche in empfindlicher Weise beeinträchtigt. Daß der Dichter von der pessimistischen Philosophie und vom alten Weltschmerz des Bhronismus zugleich angehaucht ist, würde eine so entschiedene Ablenkung von aller Naturwahrheit, eine so falsche Schätzung menschlicher Größe und eine so peinliche Gemütlosigkeit, wie sie bei allem Bemühen, sich den Anschein von Gcfühlsticfe zu geben, durch seine Dichtungen hindurchgeht, noch nicht erklären. Möchte er immerhin die Welt in den schwärzesten Farben malen und, wie es in „Regula Brandt" geschieht, den Henker als den Mann betrachten, der den Leidenden Erlösung bringt und die Müden zur Ruhe bettet, möchte er die Gemeinheit des Alltags mit noch stärkeren Worten brandmarken als es ihm gefällt, damit wären mögliche und innerlich wahre Gestalten noch nicht aus¬ geschlossen. Allein der Dichter hat außer dem Pessimismus den Zug zu jener krankhaften Originalität, welcher an normalen Menschengestalten ein für allemal nichts Poetisches und Darstellenswertes entdecken kann. Die pessimistische Dar¬ stellung gewisser Menschlichkeiten nach unten hin wirkt bei Voß bei weitem nicht so abstoßend als das, was wir für Idealität, für sittliches Pathos und hohen Flug der Gedanken nehmen sollen. Es ist schwer zu verstehen, daß dem hoch¬ begabten Dichter die Siuuwidrigkeit einer Weltdarstellung nicht klar wird, welche die einfachsten Tugenden der Menschenseele, die Wahrheit unmittelbarer Gefühle leugnet und derselben Menschennatur, die sie nicht verächtlich genug schildern kann, auf der andern Seite ein ungeheures Vermögen selbstloser Empfindung und höchsten Opfermutes zutraut. Die Übergänge sind bei Voß grell, schroff und gewaltsam, der Ausdruck des innern Lebens seiner Gestalten ergreift uns selten und überzeugt noch seltner. Der Dichter scheint in allen seinen Produk¬ tionen dramatischer wie epischer Gattung von der Furcht beherrscht zu werden, mit dem ersten Schritt zum Einfachen, menschlich Warmen und Gewinnenden der Trivialität anheimzufallen. Indes ist es nicht bloß diese Künstlermarotte, die ihn auf so wunderliche Irrwege treibt und eine weltmttde Phantastik in ihm nährt. Er scheint in der That an die Art Titanen zu glauben, von welchen er eine Probe in dem Roman „Nolla" giebt und ans welche die armseligen, vom „Brauch" beherrschten Naturen in Trauerspiel „Regula Brandt" brünstig hoffen, Titanen, welche angeblich die Welt umwälzen, aber unter allen Um¬ ständen ihre nächste Pflicht nicht thun können.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/153>, abgerufen am 22.07.2024.