Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.Neue Dichtungen von Richard voß. nicht etwa ein die vermeinte schlimme Wirkung der klassischen Dichtung selbst, Unter den in den letzten Jahren aufgetauchten jungen Dichtern hat der uns Neue Dichtungen von Richard voß. nicht etwa ein die vermeinte schlimme Wirkung der klassischen Dichtung selbst, Unter den in den letzten Jahren aufgetauchten jungen Dichtern hat der uns <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0152" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/155035"/> <fw type="header" place="top"> Neue Dichtungen von Richard voß.</fw><lb/> <p xml:id="ID_555" prev="#ID_554"> nicht etwa ein die vermeinte schlimme Wirkung der klassischen Dichtung selbst,<lb/> an den angeblichen Druck, den die (wahrhaftig nicht übergroße) Pietät für die<lb/> Meisterwerke der Vergangenheit ausübt, sondern an jenen schädlichen Einfluß<lb/> gewisser Erinnerungen aus den Tagen Goethes und Schillers, welchen wir auf<lb/> Schritt und Tritt verspüren. Weil unter dem Drange besondrer Umstände die<lb/> poetischen Dioskuren „Genien" geschrieben und ihren Zeitgenossen neben nütz¬<lb/> lichen Wahrheiten und goldnen Sprüchen auch einige subjektive Ungerechtigkeiten<lb/> gesagt haben, spricht sich jeder unverschämte Bursche das Recht zu, seine will¬<lb/> kürlichen Einfälle und Bosheiten den besten Männern unsrer Zeit an den Kopf<lb/> zu schleudern. Weil andrerseits sich die zeitgenössische Kritik den Werken der<lb/> Gewaltigen gegenüber oft unzulänglich, kleinlich und kümmerlich gezeigt, aus<lb/> berechtigten Einwänden falsche Konsequenzen gezogen hat, liegt die Erinnerung<lb/> um solche Vorkommnisse wie ein Alp auf der ernsten Kritik. Sie ruft sich un¬<lb/> willkürlich ins Gedächtnis zurück, wie kläglich die schlimmen Prophezeiungen<lb/> zu Schanden geworden find, welche seiner Zeit die Beurteiler an Goethes<lb/> „Werther" und „Götz," an Schillers „Räuber" und „Fiesko" geknüpft haben.<lb/> Sie ist besorgt, durch die künftige Entwicklung eines Talents Lügen gestraft zu<lb/> werdeu, und vergißt, daß gerade diese Entwicklung aufs äußerste gefährdet werden<lb/> muß, wenn man sich allem „Sturm und Drang" gegenüber auf den Boden<lb/> des ruhigen Zuwartens stellt. Es herrscht eine Vorstellung, als ob durch ein<lb/> späteres Meisterwerk eines Schriftstellers der Kritiker, welcher die Mängel des<lb/> Jugendwerkes offen bespricht, nachträglich gebrandmarkt werden könne. Die<lb/> journalistische Reklamekritik geht allem, was zu gut ist, um dem Publikum<lb/> mit den üblichen Trompetenstößen als „aktuell" und „zeitgemäß" em¬<lb/> pfohlen, und zu unfertig und problematisch, um als „Meisterwerk" zu den<lb/> Sternen gehoben zu werden, still aus dem Wege. Sie scheut es, wo sie nicht<lb/> geradezu von Grünschnäbeln oder frechen Buben ausgeübt wird, sich mit An¬<lb/> lagen, Bestrebungen und Erscheinungen zu befassen, die ihrer Unfehlbarkeit so<lb/> oder so ein schlimmes Zeugnis ausstellen könnten. Inzwischen geht manches<lb/> Talent, welches die Kritik nötig hätte wie Licht und Luft, feinen Weg im<lb/> Dunkeln, setzt sich in schlimmen Eigentümlichkeiten gleichsam fest und bringt sich<lb/> und die Literatur um die möglichen Früchte. Daß die Kritik dem produktiven<lb/> Talent nur helfen kann, sofern sie zur Selbstkritik wird, ist freilich ein Gemein¬<lb/> platz, daß sie aber manchmal heilsame Anstöße zur Selbstkritik giebt, hat auch<lb/> noch niemand geleugnet. Etwas weniger Scheu, den neuesten „Sturm und<lb/> Drang" auf seinen Kern zu prüfen, und etwas weniger klassische Reminiszenzen,<lb/> die in diesem Falle garnicht am Platze sind, würden der Produktion des Tages<lb/> zu Gute kommen.</p><lb/> <p xml:id="ID_556" next="#ID_557"> Unter den in den letzten Jahren aufgetauchten jungen Dichtern hat der uns<lb/> persönlich völlig unbekannte Dichter der Tragödie „Die Patrizierin," Richard<lb/> Voß, jene aus Teilnahme und Widerwillen seltsam gemischte Empfindung, die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0152]
Neue Dichtungen von Richard voß.
nicht etwa ein die vermeinte schlimme Wirkung der klassischen Dichtung selbst,
an den angeblichen Druck, den die (wahrhaftig nicht übergroße) Pietät für die
Meisterwerke der Vergangenheit ausübt, sondern an jenen schädlichen Einfluß
gewisser Erinnerungen aus den Tagen Goethes und Schillers, welchen wir auf
Schritt und Tritt verspüren. Weil unter dem Drange besondrer Umstände die
poetischen Dioskuren „Genien" geschrieben und ihren Zeitgenossen neben nütz¬
lichen Wahrheiten und goldnen Sprüchen auch einige subjektive Ungerechtigkeiten
gesagt haben, spricht sich jeder unverschämte Bursche das Recht zu, seine will¬
kürlichen Einfälle und Bosheiten den besten Männern unsrer Zeit an den Kopf
zu schleudern. Weil andrerseits sich die zeitgenössische Kritik den Werken der
Gewaltigen gegenüber oft unzulänglich, kleinlich und kümmerlich gezeigt, aus
berechtigten Einwänden falsche Konsequenzen gezogen hat, liegt die Erinnerung
um solche Vorkommnisse wie ein Alp auf der ernsten Kritik. Sie ruft sich un¬
willkürlich ins Gedächtnis zurück, wie kläglich die schlimmen Prophezeiungen
zu Schanden geworden find, welche seiner Zeit die Beurteiler an Goethes
„Werther" und „Götz," an Schillers „Räuber" und „Fiesko" geknüpft haben.
Sie ist besorgt, durch die künftige Entwicklung eines Talents Lügen gestraft zu
werdeu, und vergißt, daß gerade diese Entwicklung aufs äußerste gefährdet werden
muß, wenn man sich allem „Sturm und Drang" gegenüber auf den Boden
des ruhigen Zuwartens stellt. Es herrscht eine Vorstellung, als ob durch ein
späteres Meisterwerk eines Schriftstellers der Kritiker, welcher die Mängel des
Jugendwerkes offen bespricht, nachträglich gebrandmarkt werden könne. Die
journalistische Reklamekritik geht allem, was zu gut ist, um dem Publikum
mit den üblichen Trompetenstößen als „aktuell" und „zeitgemäß" em¬
pfohlen, und zu unfertig und problematisch, um als „Meisterwerk" zu den
Sternen gehoben zu werden, still aus dem Wege. Sie scheut es, wo sie nicht
geradezu von Grünschnäbeln oder frechen Buben ausgeübt wird, sich mit An¬
lagen, Bestrebungen und Erscheinungen zu befassen, die ihrer Unfehlbarkeit so
oder so ein schlimmes Zeugnis ausstellen könnten. Inzwischen geht manches
Talent, welches die Kritik nötig hätte wie Licht und Luft, feinen Weg im
Dunkeln, setzt sich in schlimmen Eigentümlichkeiten gleichsam fest und bringt sich
und die Literatur um die möglichen Früchte. Daß die Kritik dem produktiven
Talent nur helfen kann, sofern sie zur Selbstkritik wird, ist freilich ein Gemein¬
platz, daß sie aber manchmal heilsame Anstöße zur Selbstkritik giebt, hat auch
noch niemand geleugnet. Etwas weniger Scheu, den neuesten „Sturm und
Drang" auf seinen Kern zu prüfen, und etwas weniger klassische Reminiszenzen,
die in diesem Falle garnicht am Platze sind, würden der Produktion des Tages
zu Gute kommen.
Unter den in den letzten Jahren aufgetauchten jungen Dichtern hat der uns
persönlich völlig unbekannte Dichter der Tragödie „Die Patrizierin," Richard
Voß, jene aus Teilnahme und Widerwillen seltsam gemischte Empfindung, die
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