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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Die Schwurgerichtsverhandlung gegen Dickhoff.

Daß es Schwurgerichte giebt, welche sich über diese ebenso wichtigen wie
einfachen Grundsätze entweder vollständig im Unklaren befinden oder dieselben
absichtlich ignoriren, und so, das Gesetz korrigirend, die Rolle des Gesetzgebers
sich anmaßen, ist bekannt. Besonders interessant ist hierfür folgendes Beispiel
aus der neuesten Schwurgerichtspraxis. Es liegt eine Anklage wegen Abtrei¬
bung vor; die Angeklagte ist geständig, die Geschworenen sprechen dieselbe je¬
doch frei, weil -- der Verfasser hat diese "Urteilsgrnnde" aus dem Munde
eines beteiligten Geschworenen -- diese ärmlichen Geburten, wie die von der
Angeklagten vereitelte gewesen wäre, nur geeignet seien, das soziale Elend zu
vermehren, die Zahl der Verbrecher zu erhöhen und die Armenbudgets der Ge¬
meinden zu belasten! Die Angeklagte habe daher die menschliche Gesellschaft
und den Nasciturus selbst nur vor einem Unglück beschützt und beiden einen
Dienst erwiesen; deshalb könne sie nicht bestraft, sondern müsse freigesprochen
werden, sei also der Abtreibung nicht schuldig. Man sieht, die Geschworenen
treiben Juristerei im großen Stil, sie begnügen sich nicht mit dem "juristischen
Formalismus," sondern treiben in einem simpeln strafgerichtlichen Urteil zu¬
gleich Gesetzgebung, Philosophie und Nationalökonomie. Statt zu erklären:
"Die Angeklagte ist der Abtreibung schuldig," beschließen sie: "Paragraph 218
des Strafgesetzbuches wird aus philosophischen und nationalökonomischen Er¬
wägungen aufgehoben"! Vor diesem "Rechtsbewußtsein des Volkes" streckt die
Waffen, ihr Herren Juristen! Hirte nicht auf dem Klepper euers Gesetzbuches
hinter dem Renner dieser Geschworcnenweisheit her, ihr könnt unmöglich kon-
kurriren! Schließt eure Hörsäle, ihr Professoren, und eure Manuskripte,
ihr Schriftsteller der Rechtswissenschaft! Überläßt diese, wie die Rechtspflege,
dem "lebenden Rechtsbewußtsein des Volkes"!

Wer bei so radikalen Maßregeln eine Gänsehaut bekommen sollte, der werfe
wenigstens die entsetzliche Phrase vom "Rechtsbewußtsein des Volkes" über Bord
und räume ein, daß man überhaupt nur von einem "Rechtsunbewußtsein des
Volkes" sprechen kann. Man sage ehrlich: In gewissen Fällen wollen wir keine
juristische Entscheidung, sondern eine solche nach dem unbewußten, dunkeln, in¬
stinktiven Rechtsgefühl, welches von jedem unbescholtenen Staatsbürger im Alter
von über dreißig Jahren erwartet werden kann.

Der Dickhoffschc Fall ist aber noch aus einem andern Grunde ungeeignet,
um als Fundament der aus seiner Veranlassung dem Schwurgerichtsverfahren
gespendeten Anerkennung zu dienen, nämlich negativ, indem er ein Hauptargument
gegen das Schwurgericht nicht berührt und daher nicht zu widerlegen vermag.

Man macht den Geschworenen den Vorwurf, daß das Mitleid ihre Ent¬
scheidungen in einer ungehörigen Weise beeinflusse, und ohne Zweifel ist dieser
Vorwurf sehr begründet. Bald geschieht dies unbewußt, indem das Mitgefühl
mit dem Unglück des Angeklagten die reine Verstandesthütigkeit hemmt und das
Urteil verdunkelt, denn Denken und Empfinden schließen einander derart aus,


Grenzboten I. 1884. 13
Die Schwurgerichtsverhandlung gegen Dickhoff.

Daß es Schwurgerichte giebt, welche sich über diese ebenso wichtigen wie
einfachen Grundsätze entweder vollständig im Unklaren befinden oder dieselben
absichtlich ignoriren, und so, das Gesetz korrigirend, die Rolle des Gesetzgebers
sich anmaßen, ist bekannt. Besonders interessant ist hierfür folgendes Beispiel
aus der neuesten Schwurgerichtspraxis. Es liegt eine Anklage wegen Abtrei¬
bung vor; die Angeklagte ist geständig, die Geschworenen sprechen dieselbe je¬
doch frei, weil — der Verfasser hat diese „Urteilsgrnnde" aus dem Munde
eines beteiligten Geschworenen — diese ärmlichen Geburten, wie die von der
Angeklagten vereitelte gewesen wäre, nur geeignet seien, das soziale Elend zu
vermehren, die Zahl der Verbrecher zu erhöhen und die Armenbudgets der Ge¬
meinden zu belasten! Die Angeklagte habe daher die menschliche Gesellschaft
und den Nasciturus selbst nur vor einem Unglück beschützt und beiden einen
Dienst erwiesen; deshalb könne sie nicht bestraft, sondern müsse freigesprochen
werden, sei also der Abtreibung nicht schuldig. Man sieht, die Geschworenen
treiben Juristerei im großen Stil, sie begnügen sich nicht mit dem „juristischen
Formalismus," sondern treiben in einem simpeln strafgerichtlichen Urteil zu¬
gleich Gesetzgebung, Philosophie und Nationalökonomie. Statt zu erklären:
„Die Angeklagte ist der Abtreibung schuldig," beschließen sie: „Paragraph 218
des Strafgesetzbuches wird aus philosophischen und nationalökonomischen Er¬
wägungen aufgehoben"! Vor diesem „Rechtsbewußtsein des Volkes" streckt die
Waffen, ihr Herren Juristen! Hirte nicht auf dem Klepper euers Gesetzbuches
hinter dem Renner dieser Geschworcnenweisheit her, ihr könnt unmöglich kon-
kurriren! Schließt eure Hörsäle, ihr Professoren, und eure Manuskripte,
ihr Schriftsteller der Rechtswissenschaft! Überläßt diese, wie die Rechtspflege,
dem „lebenden Rechtsbewußtsein des Volkes"!

Wer bei so radikalen Maßregeln eine Gänsehaut bekommen sollte, der werfe
wenigstens die entsetzliche Phrase vom „Rechtsbewußtsein des Volkes" über Bord
und räume ein, daß man überhaupt nur von einem „Rechtsunbewußtsein des
Volkes" sprechen kann. Man sage ehrlich: In gewissen Fällen wollen wir keine
juristische Entscheidung, sondern eine solche nach dem unbewußten, dunkeln, in¬
stinktiven Rechtsgefühl, welches von jedem unbescholtenen Staatsbürger im Alter
von über dreißig Jahren erwartet werden kann.

Der Dickhoffschc Fall ist aber noch aus einem andern Grunde ungeeignet,
um als Fundament der aus seiner Veranlassung dem Schwurgerichtsverfahren
gespendeten Anerkennung zu dienen, nämlich negativ, indem er ein Hauptargument
gegen das Schwurgericht nicht berührt und daher nicht zu widerlegen vermag.

Man macht den Geschworenen den Vorwurf, daß das Mitleid ihre Ent¬
scheidungen in einer ungehörigen Weise beeinflusse, und ohne Zweifel ist dieser
Vorwurf sehr begründet. Bald geschieht dies unbewußt, indem das Mitgefühl
mit dem Unglück des Angeklagten die reine Verstandesthütigkeit hemmt und das
Urteil verdunkelt, denn Denken und Empfinden schließen einander derart aus,


Grenzboten I. 1884. 13
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[0131] Die Schwurgerichtsverhandlung gegen Dickhoff. Daß es Schwurgerichte giebt, welche sich über diese ebenso wichtigen wie einfachen Grundsätze entweder vollständig im Unklaren befinden oder dieselben absichtlich ignoriren, und so, das Gesetz korrigirend, die Rolle des Gesetzgebers sich anmaßen, ist bekannt. Besonders interessant ist hierfür folgendes Beispiel aus der neuesten Schwurgerichtspraxis. Es liegt eine Anklage wegen Abtrei¬ bung vor; die Angeklagte ist geständig, die Geschworenen sprechen dieselbe je¬ doch frei, weil — der Verfasser hat diese „Urteilsgrnnde" aus dem Munde eines beteiligten Geschworenen — diese ärmlichen Geburten, wie die von der Angeklagten vereitelte gewesen wäre, nur geeignet seien, das soziale Elend zu vermehren, die Zahl der Verbrecher zu erhöhen und die Armenbudgets der Ge¬ meinden zu belasten! Die Angeklagte habe daher die menschliche Gesellschaft und den Nasciturus selbst nur vor einem Unglück beschützt und beiden einen Dienst erwiesen; deshalb könne sie nicht bestraft, sondern müsse freigesprochen werden, sei also der Abtreibung nicht schuldig. Man sieht, die Geschworenen treiben Juristerei im großen Stil, sie begnügen sich nicht mit dem „juristischen Formalismus," sondern treiben in einem simpeln strafgerichtlichen Urteil zu¬ gleich Gesetzgebung, Philosophie und Nationalökonomie. Statt zu erklären: „Die Angeklagte ist der Abtreibung schuldig," beschließen sie: „Paragraph 218 des Strafgesetzbuches wird aus philosophischen und nationalökonomischen Er¬ wägungen aufgehoben"! Vor diesem „Rechtsbewußtsein des Volkes" streckt die Waffen, ihr Herren Juristen! Hirte nicht auf dem Klepper euers Gesetzbuches hinter dem Renner dieser Geschworcnenweisheit her, ihr könnt unmöglich kon- kurriren! Schließt eure Hörsäle, ihr Professoren, und eure Manuskripte, ihr Schriftsteller der Rechtswissenschaft! Überläßt diese, wie die Rechtspflege, dem „lebenden Rechtsbewußtsein des Volkes"! Wer bei so radikalen Maßregeln eine Gänsehaut bekommen sollte, der werfe wenigstens die entsetzliche Phrase vom „Rechtsbewußtsein des Volkes" über Bord und räume ein, daß man überhaupt nur von einem „Rechtsunbewußtsein des Volkes" sprechen kann. Man sage ehrlich: In gewissen Fällen wollen wir keine juristische Entscheidung, sondern eine solche nach dem unbewußten, dunkeln, in¬ stinktiven Rechtsgefühl, welches von jedem unbescholtenen Staatsbürger im Alter von über dreißig Jahren erwartet werden kann. Der Dickhoffschc Fall ist aber noch aus einem andern Grunde ungeeignet, um als Fundament der aus seiner Veranlassung dem Schwurgerichtsverfahren gespendeten Anerkennung zu dienen, nämlich negativ, indem er ein Hauptargument gegen das Schwurgericht nicht berührt und daher nicht zu widerlegen vermag. Man macht den Geschworenen den Vorwurf, daß das Mitleid ihre Ent¬ scheidungen in einer ungehörigen Weise beeinflusse, und ohne Zweifel ist dieser Vorwurf sehr begründet. Bald geschieht dies unbewußt, indem das Mitgefühl mit dem Unglück des Angeklagten die reine Verstandesthütigkeit hemmt und das Urteil verdunkelt, denn Denken und Empfinden schließen einander derart aus, Grenzboten I. 1884. 13

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/131>, abgerufen am 03.07.2024.