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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Die Schwurgerichtsverhandlmig gegen Dickhoff.

Die norddeutsche Allgemeine Zeitung fährt aber in dem oben zitirtcu
Artikel mit der Behauptung fort, daß bei dem Schwurgerichtsverfahren "der
juristische Formalismus durch das lebende Rechtsbewußtsein des Volkes vermehrt"
(soll Wohl heißen "ersetzt") werde. Wir wollen hier davon absehen, daß jeden¬
falls eine Schwurgcrichtsverhaudlung mehr "juristischen Formalismus" auf¬
bietet als alle andern Arten der Gerichtsverhandlungen zusammengenommen,
und wollen nur einen Blick auf das "lebende Rechtsbewußtsein des Volkes"
werfen.

Zunächst: Wer ist dieses "Volk." dessen "Rechtsbewußtsein" den Richter-
spruch fällen soll? Wie in der Politik, so ist auch hier dieser Begriff etwas
so allgemeines, nndefinirbares, man möchte fast sagen metaphysisches oder
transcendentales, daß es niemand kennt, und in der That existirt es auch
nirgends. Wenn es aber in irgend einer vorstellbareu Form existirt, so gehört
doch der Jurist ebenso gut dazu, wie Gevatter Schneider und Handschuhmacher.
Aber dieses unsichtbare "Volk" hat obenein ein "Rechtsbewußtsein" und ent¬
scheidet damit einen konkreten Rechtsfall viel besser als ein juristischer Verstand!
Man könnte es daher in philosophischer Ausdrucksweise ein "metajuristisches"
nennen, indem es über die Grenzen des juristischen Verstandes hinausgeht und
jenseits desselben liegt; woher es denn wohl auch kommen mag, daß seine
Manifestationen dem letztern so oft unbegreiflich erscheinen. Um jedoch die
Bedeutung dieses "RechtSbewußtscins" für die Schwurgerichtsverhandlung voll¬
auf würdigen zu können, muß man sich klar machen, um was es sich bei der letzteren
für die Geschworenen eigentlich handelt. Der Angeklagte ist beschuldigt, eine
bestimmte Handlung vollbracht zu haben; die von der Staatsanwaltschaft und
dem Gericht herbeigeschafften Beweise werden den Geschworenen vorgeführt, und
die Pflicht der letzteren beschränkt sich darauf, aus diesen Beweisen die Frage
zu beantworten, ob der Angeklagte jene Handlung vollbracht habe oder nicht.
Was hat diese bloße thatsächliche Feststellung mit dem "Rechtsbewußtsein" zu
thun? Es ist eine reine Verstandesthätigkeit, eine Gedankenarbeit, welche umso
besser verrichtet werden wird, je klarer, schärfer, geschulter der dazu berufene
Verstand ist. Ob und wie die von den Geschworenen festgestellte Handlung
strafbar ist, entscheidet ja das Gesetz, beziehentlich der das Gesetz anwendende
Juristengerichtshof, und dieser allerdings nicht nach einem dunkeln Rechtsbe-
wußtsein, sondern nach dem Strafgesetzbuch. Da einerseits nur auf Grund
des geschriebenen Strafgesetzes eine Strafe verhängt werden kann (unUa xosng,
sah IsM), andrerseits das geltende Strafgesetz absolute Geltung hat, unter allen
Umständen angewandt werden will, so kann ein bloßes Rechtsbewnßtjein weder
zu Ungunsten noch zu Gunsten des Angeklagten in Betracht kommen, denn es
würde hier nicht weit genug, dort zu weit reichen, während es nur genau in
dem Umfange Bedeutung haben könnte, als es sich mit der lox serixta, deckt.


Die Schwurgerichtsverhandlmig gegen Dickhoff.

Die norddeutsche Allgemeine Zeitung fährt aber in dem oben zitirtcu
Artikel mit der Behauptung fort, daß bei dem Schwurgerichtsverfahren „der
juristische Formalismus durch das lebende Rechtsbewußtsein des Volkes vermehrt"
(soll Wohl heißen „ersetzt") werde. Wir wollen hier davon absehen, daß jeden¬
falls eine Schwurgcrichtsverhaudlung mehr „juristischen Formalismus" auf¬
bietet als alle andern Arten der Gerichtsverhandlungen zusammengenommen,
und wollen nur einen Blick auf das „lebende Rechtsbewußtsein des Volkes"
werfen.

Zunächst: Wer ist dieses „Volk." dessen „Rechtsbewußtsein" den Richter-
spruch fällen soll? Wie in der Politik, so ist auch hier dieser Begriff etwas
so allgemeines, nndefinirbares, man möchte fast sagen metaphysisches oder
transcendentales, daß es niemand kennt, und in der That existirt es auch
nirgends. Wenn es aber in irgend einer vorstellbareu Form existirt, so gehört
doch der Jurist ebenso gut dazu, wie Gevatter Schneider und Handschuhmacher.
Aber dieses unsichtbare „Volk" hat obenein ein „Rechtsbewußtsein" und ent¬
scheidet damit einen konkreten Rechtsfall viel besser als ein juristischer Verstand!
Man könnte es daher in philosophischer Ausdrucksweise ein „metajuristisches"
nennen, indem es über die Grenzen des juristischen Verstandes hinausgeht und
jenseits desselben liegt; woher es denn wohl auch kommen mag, daß seine
Manifestationen dem letztern so oft unbegreiflich erscheinen. Um jedoch die
Bedeutung dieses „RechtSbewußtscins" für die Schwurgerichtsverhandlung voll¬
auf würdigen zu können, muß man sich klar machen, um was es sich bei der letzteren
für die Geschworenen eigentlich handelt. Der Angeklagte ist beschuldigt, eine
bestimmte Handlung vollbracht zu haben; die von der Staatsanwaltschaft und
dem Gericht herbeigeschafften Beweise werden den Geschworenen vorgeführt, und
die Pflicht der letzteren beschränkt sich darauf, aus diesen Beweisen die Frage
zu beantworten, ob der Angeklagte jene Handlung vollbracht habe oder nicht.
Was hat diese bloße thatsächliche Feststellung mit dem „Rechtsbewußtsein" zu
thun? Es ist eine reine Verstandesthätigkeit, eine Gedankenarbeit, welche umso
besser verrichtet werden wird, je klarer, schärfer, geschulter der dazu berufene
Verstand ist. Ob und wie die von den Geschworenen festgestellte Handlung
strafbar ist, entscheidet ja das Gesetz, beziehentlich der das Gesetz anwendende
Juristengerichtshof, und dieser allerdings nicht nach einem dunkeln Rechtsbe-
wußtsein, sondern nach dem Strafgesetzbuch. Da einerseits nur auf Grund
des geschriebenen Strafgesetzes eine Strafe verhängt werden kann (unUa xosng,
sah IsM), andrerseits das geltende Strafgesetz absolute Geltung hat, unter allen
Umständen angewandt werden will, so kann ein bloßes Rechtsbewnßtjein weder
zu Ungunsten noch zu Gunsten des Angeklagten in Betracht kommen, denn es
würde hier nicht weit genug, dort zu weit reichen, während es nur genau in
dem Umfange Bedeutung haben könnte, als es sich mit der lox serixta, deckt.


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[0130] Die Schwurgerichtsverhandlmig gegen Dickhoff. Die norddeutsche Allgemeine Zeitung fährt aber in dem oben zitirtcu Artikel mit der Behauptung fort, daß bei dem Schwurgerichtsverfahren „der juristische Formalismus durch das lebende Rechtsbewußtsein des Volkes vermehrt" (soll Wohl heißen „ersetzt") werde. Wir wollen hier davon absehen, daß jeden¬ falls eine Schwurgcrichtsverhaudlung mehr „juristischen Formalismus" auf¬ bietet als alle andern Arten der Gerichtsverhandlungen zusammengenommen, und wollen nur einen Blick auf das „lebende Rechtsbewußtsein des Volkes" werfen. Zunächst: Wer ist dieses „Volk." dessen „Rechtsbewußtsein" den Richter- spruch fällen soll? Wie in der Politik, so ist auch hier dieser Begriff etwas so allgemeines, nndefinirbares, man möchte fast sagen metaphysisches oder transcendentales, daß es niemand kennt, und in der That existirt es auch nirgends. Wenn es aber in irgend einer vorstellbareu Form existirt, so gehört doch der Jurist ebenso gut dazu, wie Gevatter Schneider und Handschuhmacher. Aber dieses unsichtbare „Volk" hat obenein ein „Rechtsbewußtsein" und ent¬ scheidet damit einen konkreten Rechtsfall viel besser als ein juristischer Verstand! Man könnte es daher in philosophischer Ausdrucksweise ein „metajuristisches" nennen, indem es über die Grenzen des juristischen Verstandes hinausgeht und jenseits desselben liegt; woher es denn wohl auch kommen mag, daß seine Manifestationen dem letztern so oft unbegreiflich erscheinen. Um jedoch die Bedeutung dieses „RechtSbewußtscins" für die Schwurgerichtsverhandlung voll¬ auf würdigen zu können, muß man sich klar machen, um was es sich bei der letzteren für die Geschworenen eigentlich handelt. Der Angeklagte ist beschuldigt, eine bestimmte Handlung vollbracht zu haben; die von der Staatsanwaltschaft und dem Gericht herbeigeschafften Beweise werden den Geschworenen vorgeführt, und die Pflicht der letzteren beschränkt sich darauf, aus diesen Beweisen die Frage zu beantworten, ob der Angeklagte jene Handlung vollbracht habe oder nicht. Was hat diese bloße thatsächliche Feststellung mit dem „Rechtsbewußtsein" zu thun? Es ist eine reine Verstandesthätigkeit, eine Gedankenarbeit, welche umso besser verrichtet werden wird, je klarer, schärfer, geschulter der dazu berufene Verstand ist. Ob und wie die von den Geschworenen festgestellte Handlung strafbar ist, entscheidet ja das Gesetz, beziehentlich der das Gesetz anwendende Juristengerichtshof, und dieser allerdings nicht nach einem dunkeln Rechtsbe- wußtsein, sondern nach dem Strafgesetzbuch. Da einerseits nur auf Grund des geschriebenen Strafgesetzes eine Strafe verhängt werden kann (unUa xosng, sah IsM), andrerseits das geltende Strafgesetz absolute Geltung hat, unter allen Umständen angewandt werden will, so kann ein bloßes Rechtsbewnßtjein weder zu Ungunsten noch zu Gunsten des Angeklagten in Betracht kommen, denn es würde hier nicht weit genug, dort zu weit reichen, während es nur genau in dem Umfange Bedeutung haben könnte, als es sich mit der lox serixta, deckt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/130>, abgerufen am 03.07.2024.