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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Die Schwurgerichtsverhandlung gegen Dickhoff.

daß beides nicht gleichzeitig stattfinden kann, ohne daß das eine auf Kosten des
andern stattfindet; bald geschieht es bewußt, d> h. die Geschworenen fällen
absichtlich ein falsches Urteil, weil sie den Angeklagten für nicht strafbar genug
halten, um ihn mit den Folgen des richtigen Urteils zu treffen, oder auch
weil der Mut hierzu fehlt, sie zu wenig Vertrauen zu ihrem eignen Urteil
haben, einen Irrtum für möglich halten und, um in jedem Falle ihr Gewissen
zu salviren, lieber eine falsche Freisprechung herbeiführen. Es ist bekannt, wie
erfolgreich die Verteidiger mit diesen Thatsachen operiren, und klar, wie erfolg¬
los dies vor einem Juristengericht sein würde, weshalb es hier garnicht versucht
wird. Natürlich giebt es Fälle, in denen sich Schwurgerichte dieses Vergehens
nicht schuldig machen, und die Freunde des Schwurgerichtsverfahrens sollten sie
sorgfältig sammeln. Aber gerade der Dickhoffschc Fall kann hierbei offenbar
nicht verwertet werden, weil für diesen Angeklagten doch selbst bei den senti¬
mentalsten Geschworenen Mitleid nicht in Frage kommen konnte, sondern eine
reine Lächerlichkeit gewesen wäre. Es war daher weder zu erwarten, daß das
schwurgerichtliche Urteil durch eine unbewußte Sympathie getrübt, noch daß den
Geschworenen der Mut fehlen würde, ihrer Überzeugung gemäß für den An¬
geklagten die Konsequenzen seiner Thaten zu ziehen, und dieser Fall läßt das
wohlbegründete Argument, daß die schwurgerichtlichen Urteile dem schädlichen
Einflüsse eines falschen Mitleids unterliegen, völlig unberührt und unwider-
leglich.

Aber nicht immer liegt die Sache so günstig, und es ist interessant, wieviel
ungünstiger die Geschworenen in einigen Untersuchungssachen daran gewesen zu
sein scheinen, welche mit der Dickhoffschen in dem zufälligen Zusammenhange
stehen, daß sie zu gleicher Zeit und in demselben Gerichtsgebäude mit jenem
verhandelt wurden. Man höre:

1. Am 14. Juli vorigen Jahres früh fünf Uhr hörte man aus der Wohnung
des Rentiers Lange in Berlin laute Hilferufe. Als man die verschlossene Thür
erbrach, fand man den 62 Jahre alten Lange im Kampfe mit dem Arbeits¬
burschen Gustav Hartner und am Hinterkopfe stark blutend. Hartner hatte ihm
mit einem schweren Hammer mehrere Schläge gegen den Hinterkopf versetzt und
räumte bei seiner Festnahme ein, daß er ihn habe töten wollen, um sich seines
Geldes zu bemächtigen, da er durch den bekannten Sobbeschen Fall auf diesen
Plan gebracht worden sei. Lange erholte sich von seinen Wunden. Die An¬
klage gegen Hartner lautete auf versuchten Mord und schweren Raub. Das
Schwurgericht erblickte jedoch hierin nur versuchten Totschlag, und der Ange¬
klagte kam mit einer verhältnismäßig gelinden Strafe davon, obwohl er die
"Überlegung," deren Vorhandensein den Mord vom Totschlag unterscheidet,
selbst eingeräumt hatte.

2. Die Frau des Schlächtermeisters Naumann in Berlin stieß ihrem Ehe¬
manne bei einem ehelichen Zwiste am 3. März vorigen Jahres ein Messer in


Die Schwurgerichtsverhandlung gegen Dickhoff.

daß beides nicht gleichzeitig stattfinden kann, ohne daß das eine auf Kosten des
andern stattfindet; bald geschieht es bewußt, d> h. die Geschworenen fällen
absichtlich ein falsches Urteil, weil sie den Angeklagten für nicht strafbar genug
halten, um ihn mit den Folgen des richtigen Urteils zu treffen, oder auch
weil der Mut hierzu fehlt, sie zu wenig Vertrauen zu ihrem eignen Urteil
haben, einen Irrtum für möglich halten und, um in jedem Falle ihr Gewissen
zu salviren, lieber eine falsche Freisprechung herbeiführen. Es ist bekannt, wie
erfolgreich die Verteidiger mit diesen Thatsachen operiren, und klar, wie erfolg¬
los dies vor einem Juristengericht sein würde, weshalb es hier garnicht versucht
wird. Natürlich giebt es Fälle, in denen sich Schwurgerichte dieses Vergehens
nicht schuldig machen, und die Freunde des Schwurgerichtsverfahrens sollten sie
sorgfältig sammeln. Aber gerade der Dickhoffschc Fall kann hierbei offenbar
nicht verwertet werden, weil für diesen Angeklagten doch selbst bei den senti¬
mentalsten Geschworenen Mitleid nicht in Frage kommen konnte, sondern eine
reine Lächerlichkeit gewesen wäre. Es war daher weder zu erwarten, daß das
schwurgerichtliche Urteil durch eine unbewußte Sympathie getrübt, noch daß den
Geschworenen der Mut fehlen würde, ihrer Überzeugung gemäß für den An¬
geklagten die Konsequenzen seiner Thaten zu ziehen, und dieser Fall läßt das
wohlbegründete Argument, daß die schwurgerichtlichen Urteile dem schädlichen
Einflüsse eines falschen Mitleids unterliegen, völlig unberührt und unwider-
leglich.

Aber nicht immer liegt die Sache so günstig, und es ist interessant, wieviel
ungünstiger die Geschworenen in einigen Untersuchungssachen daran gewesen zu
sein scheinen, welche mit der Dickhoffschen in dem zufälligen Zusammenhange
stehen, daß sie zu gleicher Zeit und in demselben Gerichtsgebäude mit jenem
verhandelt wurden. Man höre:

1. Am 14. Juli vorigen Jahres früh fünf Uhr hörte man aus der Wohnung
des Rentiers Lange in Berlin laute Hilferufe. Als man die verschlossene Thür
erbrach, fand man den 62 Jahre alten Lange im Kampfe mit dem Arbeits¬
burschen Gustav Hartner und am Hinterkopfe stark blutend. Hartner hatte ihm
mit einem schweren Hammer mehrere Schläge gegen den Hinterkopf versetzt und
räumte bei seiner Festnahme ein, daß er ihn habe töten wollen, um sich seines
Geldes zu bemächtigen, da er durch den bekannten Sobbeschen Fall auf diesen
Plan gebracht worden sei. Lange erholte sich von seinen Wunden. Die An¬
klage gegen Hartner lautete auf versuchten Mord und schweren Raub. Das
Schwurgericht erblickte jedoch hierin nur versuchten Totschlag, und der Ange¬
klagte kam mit einer verhältnismäßig gelinden Strafe davon, obwohl er die
„Überlegung," deren Vorhandensein den Mord vom Totschlag unterscheidet,
selbst eingeräumt hatte.

2. Die Frau des Schlächtermeisters Naumann in Berlin stieß ihrem Ehe¬
manne bei einem ehelichen Zwiste am 3. März vorigen Jahres ein Messer in


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[0132] Die Schwurgerichtsverhandlung gegen Dickhoff. daß beides nicht gleichzeitig stattfinden kann, ohne daß das eine auf Kosten des andern stattfindet; bald geschieht es bewußt, d> h. die Geschworenen fällen absichtlich ein falsches Urteil, weil sie den Angeklagten für nicht strafbar genug halten, um ihn mit den Folgen des richtigen Urteils zu treffen, oder auch weil der Mut hierzu fehlt, sie zu wenig Vertrauen zu ihrem eignen Urteil haben, einen Irrtum für möglich halten und, um in jedem Falle ihr Gewissen zu salviren, lieber eine falsche Freisprechung herbeiführen. Es ist bekannt, wie erfolgreich die Verteidiger mit diesen Thatsachen operiren, und klar, wie erfolg¬ los dies vor einem Juristengericht sein würde, weshalb es hier garnicht versucht wird. Natürlich giebt es Fälle, in denen sich Schwurgerichte dieses Vergehens nicht schuldig machen, und die Freunde des Schwurgerichtsverfahrens sollten sie sorgfältig sammeln. Aber gerade der Dickhoffschc Fall kann hierbei offenbar nicht verwertet werden, weil für diesen Angeklagten doch selbst bei den senti¬ mentalsten Geschworenen Mitleid nicht in Frage kommen konnte, sondern eine reine Lächerlichkeit gewesen wäre. Es war daher weder zu erwarten, daß das schwurgerichtliche Urteil durch eine unbewußte Sympathie getrübt, noch daß den Geschworenen der Mut fehlen würde, ihrer Überzeugung gemäß für den An¬ geklagten die Konsequenzen seiner Thaten zu ziehen, und dieser Fall läßt das wohlbegründete Argument, daß die schwurgerichtlichen Urteile dem schädlichen Einflüsse eines falschen Mitleids unterliegen, völlig unberührt und unwider- leglich. Aber nicht immer liegt die Sache so günstig, und es ist interessant, wieviel ungünstiger die Geschworenen in einigen Untersuchungssachen daran gewesen zu sein scheinen, welche mit der Dickhoffschen in dem zufälligen Zusammenhange stehen, daß sie zu gleicher Zeit und in demselben Gerichtsgebäude mit jenem verhandelt wurden. Man höre: 1. Am 14. Juli vorigen Jahres früh fünf Uhr hörte man aus der Wohnung des Rentiers Lange in Berlin laute Hilferufe. Als man die verschlossene Thür erbrach, fand man den 62 Jahre alten Lange im Kampfe mit dem Arbeits¬ burschen Gustav Hartner und am Hinterkopfe stark blutend. Hartner hatte ihm mit einem schweren Hammer mehrere Schläge gegen den Hinterkopf versetzt und räumte bei seiner Festnahme ein, daß er ihn habe töten wollen, um sich seines Geldes zu bemächtigen, da er durch den bekannten Sobbeschen Fall auf diesen Plan gebracht worden sei. Lange erholte sich von seinen Wunden. Die An¬ klage gegen Hartner lautete auf versuchten Mord und schweren Raub. Das Schwurgericht erblickte jedoch hierin nur versuchten Totschlag, und der Ange¬ klagte kam mit einer verhältnismäßig gelinden Strafe davon, obwohl er die „Überlegung," deren Vorhandensein den Mord vom Totschlag unterscheidet, selbst eingeräumt hatte. 2. Die Frau des Schlächtermeisters Naumann in Berlin stieß ihrem Ehe¬ manne bei einem ehelichen Zwiste am 3. März vorigen Jahres ein Messer in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/132>, abgerufen am 03.07.2024.