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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Die Schwurgerichtsverhandlung gegen Dickhoff,

dem landgerichtlichen, mehr Chancen hätte, "der strafenden Gerechtigkeit zu
entgehen," wie in jenem, ist wohl nach von niemand behauptet worden. Sollte
indessen dem Verfasser des obigen Ausspruches wirklich diese Möglichkeit vor¬
schweben, so hätte er zu ihrer Illustrirung wenigstens nicht den Dickhoffschen
Fall wählen sollen.

Zunächst nämlich sind in dieser Sache 165 Zeugen vernommen worden,
und jeder Unparteiische wird einräumen, daß ein Jurist befähigter sei, die Fülle
des dabei produzirten Beweismaterials zu fixiren und in ihrem Ergebnis fest¬
zustellen, als ein Nichtjurist, Denn der erstere faßt die einzelne Zeugenaussage
von vornherein in juristischer Färbung auf, d. h. er unterscheidet das Wesent¬
liche von dem Unwesentlichen; sein Gedächtnis ist geschult, dergleichen aufzu¬
nehmen und zu vcrarbreiten; er ist gewöhnt, die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu
taxiren; er besitzt mit einem Wort Routine in diesen Dingen. Der Geschworene
dagegen ist um solche Geistesthätigkeit durchaus nicht gewöhnt, und seinem Ge¬
dächtnis ist, seit er die -- meist nicht sehr hohe -- Schule verlassen hat, nie
eine auch nur ähnliche Aufgabe zugemutet worden, wie es eine solche Beweis-
würdignng ist; er steht dieser Anforderung genau so gerüstet gegenüber wie
der Jurist einer in des Geschworenen Fach einschlagenden Aufgabe, z. B. aus
dem Gebiete der Landwirtschaft oder eines speziellen Handwerkes; der Unterschied
ist nur der, daß der Jurist in diesen Fächern auf eigne Kosten dilettiren würde,
während der Geschworene das juristische Fach auf Kosten der Rechtspflege
traktirt!^

Unter diesen Umständen hätte man für die Zuverlässigkeit des Schwur-
gerichtsverfahreus nicht gerade den Dickhoffschen Fall mit seinen 165 Zeugen
^heranziehen sollen, sondern einen möglichst einfachen Fall mit möglichst geringen!
und durchsichtigem Beweismaterial, oder womöglich mit einem geständigen An¬
geklagten! Fühlte man sich aber durchaus in seinem Herzen gedrängt, die
Gelegenheit des Dickhoffschen Falles zu einem Lobe des Schwurgerichtsver¬
fahrens zu benutzen, so hätte dasselbe umgekehrt so lauten müssen: "Obwohl bei
der umfangreichen Beweisaufnahme mit 165 Zeugen ein Schwurgericht nicht
die Garantie bot, ein befriedigendes Urteil zu erzielen, so ist es doch in diesem
Falle gelungen, und es ist damit gezeigt worden, daß auch bei diesem Verfahren
die Möglichkeit vorhanden ist, den Schuldigen zu treffen." Diese Anerkennung, so¬
weit sie als solche acceptirt wird, wird jedermann gern zollen, ganz besonders
gern, wer die tausend Klippen, durch die das schwanke Schifflei" des schwurge-
richtlicheu Urteils in jedem Falle hindurchgcsteuert werden muß und an denen
es nur zu oft Schiffbruch leidet, aus eigner Erfahrung kennt.



5) Eine eingehendere Erörterung dieses Punktes findet mau in dem ausgezeichneten
Anfscche von R. Keßler "Das Schwurgericht" in Ur. 30 und 31 der vorjährigen "Grenzboten,"
dessen Lektüre und Berhcrzigung hiermit dringend empfohlen wird.
Die Schwurgerichtsverhandlung gegen Dickhoff,

dem landgerichtlichen, mehr Chancen hätte, „der strafenden Gerechtigkeit zu
entgehen," wie in jenem, ist wohl nach von niemand behauptet worden. Sollte
indessen dem Verfasser des obigen Ausspruches wirklich diese Möglichkeit vor¬
schweben, so hätte er zu ihrer Illustrirung wenigstens nicht den Dickhoffschen
Fall wählen sollen.

Zunächst nämlich sind in dieser Sache 165 Zeugen vernommen worden,
und jeder Unparteiische wird einräumen, daß ein Jurist befähigter sei, die Fülle
des dabei produzirten Beweismaterials zu fixiren und in ihrem Ergebnis fest¬
zustellen, als ein Nichtjurist, Denn der erstere faßt die einzelne Zeugenaussage
von vornherein in juristischer Färbung auf, d. h. er unterscheidet das Wesent¬
liche von dem Unwesentlichen; sein Gedächtnis ist geschult, dergleichen aufzu¬
nehmen und zu vcrarbreiten; er ist gewöhnt, die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu
taxiren; er besitzt mit einem Wort Routine in diesen Dingen. Der Geschworene
dagegen ist um solche Geistesthätigkeit durchaus nicht gewöhnt, und seinem Ge¬
dächtnis ist, seit er die — meist nicht sehr hohe — Schule verlassen hat, nie
eine auch nur ähnliche Aufgabe zugemutet worden, wie es eine solche Beweis-
würdignng ist; er steht dieser Anforderung genau so gerüstet gegenüber wie
der Jurist einer in des Geschworenen Fach einschlagenden Aufgabe, z. B. aus
dem Gebiete der Landwirtschaft oder eines speziellen Handwerkes; der Unterschied
ist nur der, daß der Jurist in diesen Fächern auf eigne Kosten dilettiren würde,
während der Geschworene das juristische Fach auf Kosten der Rechtspflege
traktirt!^

Unter diesen Umständen hätte man für die Zuverlässigkeit des Schwur-
gerichtsverfahreus nicht gerade den Dickhoffschen Fall mit seinen 165 Zeugen
^heranziehen sollen, sondern einen möglichst einfachen Fall mit möglichst geringen!
und durchsichtigem Beweismaterial, oder womöglich mit einem geständigen An¬
geklagten! Fühlte man sich aber durchaus in seinem Herzen gedrängt, die
Gelegenheit des Dickhoffschen Falles zu einem Lobe des Schwurgerichtsver¬
fahrens zu benutzen, so hätte dasselbe umgekehrt so lauten müssen: „Obwohl bei
der umfangreichen Beweisaufnahme mit 165 Zeugen ein Schwurgericht nicht
die Garantie bot, ein befriedigendes Urteil zu erzielen, so ist es doch in diesem
Falle gelungen, und es ist damit gezeigt worden, daß auch bei diesem Verfahren
die Möglichkeit vorhanden ist, den Schuldigen zu treffen." Diese Anerkennung, so¬
weit sie als solche acceptirt wird, wird jedermann gern zollen, ganz besonders
gern, wer die tausend Klippen, durch die das schwanke Schifflei» des schwurge-
richtlicheu Urteils in jedem Falle hindurchgcsteuert werden muß und an denen
es nur zu oft Schiffbruch leidet, aus eigner Erfahrung kennt.



5) Eine eingehendere Erörterung dieses Punktes findet mau in dem ausgezeichneten
Anfscche von R. Keßler „Das Schwurgericht" in Ur. 30 und 31 der vorjährigen „Grenzboten,"
dessen Lektüre und Berhcrzigung hiermit dringend empfohlen wird.
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[0129] Die Schwurgerichtsverhandlung gegen Dickhoff, dem landgerichtlichen, mehr Chancen hätte, „der strafenden Gerechtigkeit zu entgehen," wie in jenem, ist wohl nach von niemand behauptet worden. Sollte indessen dem Verfasser des obigen Ausspruches wirklich diese Möglichkeit vor¬ schweben, so hätte er zu ihrer Illustrirung wenigstens nicht den Dickhoffschen Fall wählen sollen. Zunächst nämlich sind in dieser Sache 165 Zeugen vernommen worden, und jeder Unparteiische wird einräumen, daß ein Jurist befähigter sei, die Fülle des dabei produzirten Beweismaterials zu fixiren und in ihrem Ergebnis fest¬ zustellen, als ein Nichtjurist, Denn der erstere faßt die einzelne Zeugenaussage von vornherein in juristischer Färbung auf, d. h. er unterscheidet das Wesent¬ liche von dem Unwesentlichen; sein Gedächtnis ist geschult, dergleichen aufzu¬ nehmen und zu vcrarbreiten; er ist gewöhnt, die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu taxiren; er besitzt mit einem Wort Routine in diesen Dingen. Der Geschworene dagegen ist um solche Geistesthätigkeit durchaus nicht gewöhnt, und seinem Ge¬ dächtnis ist, seit er die — meist nicht sehr hohe — Schule verlassen hat, nie eine auch nur ähnliche Aufgabe zugemutet worden, wie es eine solche Beweis- würdignng ist; er steht dieser Anforderung genau so gerüstet gegenüber wie der Jurist einer in des Geschworenen Fach einschlagenden Aufgabe, z. B. aus dem Gebiete der Landwirtschaft oder eines speziellen Handwerkes; der Unterschied ist nur der, daß der Jurist in diesen Fächern auf eigne Kosten dilettiren würde, während der Geschworene das juristische Fach auf Kosten der Rechtspflege traktirt!^ Unter diesen Umständen hätte man für die Zuverlässigkeit des Schwur- gerichtsverfahreus nicht gerade den Dickhoffschen Fall mit seinen 165 Zeugen ^heranziehen sollen, sondern einen möglichst einfachen Fall mit möglichst geringen! und durchsichtigem Beweismaterial, oder womöglich mit einem geständigen An¬ geklagten! Fühlte man sich aber durchaus in seinem Herzen gedrängt, die Gelegenheit des Dickhoffschen Falles zu einem Lobe des Schwurgerichtsver¬ fahrens zu benutzen, so hätte dasselbe umgekehrt so lauten müssen: „Obwohl bei der umfangreichen Beweisaufnahme mit 165 Zeugen ein Schwurgericht nicht die Garantie bot, ein befriedigendes Urteil zu erzielen, so ist es doch in diesem Falle gelungen, und es ist damit gezeigt worden, daß auch bei diesem Verfahren die Möglichkeit vorhanden ist, den Schuldigen zu treffen." Diese Anerkennung, so¬ weit sie als solche acceptirt wird, wird jedermann gern zollen, ganz besonders gern, wer die tausend Klippen, durch die das schwanke Schifflei» des schwurge- richtlicheu Urteils in jedem Falle hindurchgcsteuert werden muß und an denen es nur zu oft Schiffbruch leidet, aus eigner Erfahrung kennt. 5) Eine eingehendere Erörterung dieses Punktes findet mau in dem ausgezeichneten Anfscche von R. Keßler „Das Schwurgericht" in Ur. 30 und 31 der vorjährigen „Grenzboten," dessen Lektüre und Berhcrzigung hiermit dringend empfohlen wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/129>, abgerufen am 01.07.2024.