Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.Die Leipziger Gewandhauskonzerte. größte Verlegenheit, wenn wir nur eine einzige Note von all diesen damals Doch wir brauchen garnicht zurückzugehen bis an das Ende des vorigen Aber wir können noch näher an die Gegenwart Herangehen und gewahren Und giebt es nicht selbst Lebende, deren Ruhm schon halb verblichen ist? Die Leipziger Gewandhauskonzerte. größte Verlegenheit, wenn wir nur eine einzige Note von all diesen damals Doch wir brauchen garnicht zurückzugehen bis an das Ende des vorigen Aber wir können noch näher an die Gegenwart Herangehen und gewahren Und giebt es nicht selbst Lebende, deren Ruhm schon halb verblichen ist? <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0642" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/157567"/> <fw type="header" place="top"> Die Leipziger Gewandhauskonzerte.</fw><lb/> <p xml:id="ID_2218" prev="#ID_2217"> größte Verlegenheit, wenn wir nur eine einzige Note von all diesen damals<lb/> trefflichen Werken herbeischaffen sollten," das gilt auch noch von Hunderten der<lb/> später aufgeführten Werke, sie sind verschollen und vergessen. Und dieses Loos<lb/> hat keineswegs nur die kleinen und kleinsten Geister getroffen; auch solche, die in dem<lb/> Dörffelschen Verzeichnis fett gedruckt sind, und unter deren Namen eine lange<lb/> Liste aufgeführter Werke steht, die also zu ihrer Zeit sich einer gewissen<lb/> Popularität erfreuten, sind aus dem heutigen Musikleben völlig verschwunden.<lb/> Wer fragt noch nach Haffe, Naumann, Ghrowetz, Pcier, Cimarosa, Paisicllo,<lb/> Righieni, Sacchini, Salieri, Sarti u. a.?</p><lb/> <p xml:id="ID_2219"> Doch wir brauchen garnicht zurückzugehen bis an das Ende des vorigen<lb/> oder den Anfang unsers Jahrhunderts, nein, Erscheinungen, die uns zeitlich<lb/> noch viel näher stehen, geben uns die gleiche Lehre. Wie ist Friedrich Schneider,<lb/> der Dessauer Kapellmeister, der Komponist des „Weltgerichts," seiner Zeit gefeiert<lb/> worden! Seine Symphonien und Ouvertüren kehren in den ersten vier Jahr¬<lb/> zehnten unsers Jahrhunderts fort und fort in den Programmen wieder; dann<lb/> erscheint er 1848 noch einmal mit einer neuen Symphonie, 18S4 führte man<lb/> noch einen Psalm von ihm „zum Gedächtnis des Komponisten" auf (gestorben<lb/> 23. November 18L3), 1866 noch eine Hymne für Männerstimmen, 1859 seine<lb/> Ouvertüre über das Gaudeamus; seitdem ist er aus den Programmen ver¬<lb/> schwunden. Fast genau so ist es Ludwig Spohr ergangen. Einige seiner<lb/> Violinkonzerte werden zwar noch lange zu den Lieblingen unsrer großen Geiger<lb/> zählen, aber seine Symphonien, seine Ouvertüren und sonstige Opernnummern<lb/> und zahllose kleinere Kompositionen, die früher jahrzehntelang die Programme<lb/> geschmückt haben, sind in der letzten Zeit seltener und seltener geworden, und<lb/> wie lange wird es dauern, so fragt auch nach ihnen niemand mehr. Die „Weihe<lb/> der Töne" ist 1869 zum letztenmale gespielt worden, nachdem sie von 1834 bis<lb/> 1860 sechzehn Aufführungen erlebt hatte, von 1834 bis 1839 sogar jedes<lb/> Jahr gespielt worden war.</p><lb/> <p xml:id="ID_2220"> Aber wir können noch näher an die Gegenwart Herangehen und gewahren<lb/> selbst da dieselbe Erscheinung. Julius Rietz hat drei Symphonien und mehrere<lb/> Ouvertüren geschrieben, die in den vierziger und fünfziger Jahren sehr gern<lb/> gehört wurden. Dann kamen sie seltener, und endlich fielen sie ganz aus. 1877<lb/> wurde noch einmal „zur Erinnerung" an ihn (gestorben 12. September 1877)<lb/> seine Konzertouvertüre und seine Ls-aur-Symphonie gespielt — seitdem nicht<lb/> eine Note wieder, und Rietz ist von 1848 bis 1860 der Dirigent der Gewand¬<lb/> hauskonzerte gewesen! Diese Konzerte „zur Erinnerung" oder „zum Gedächtnis"<lb/> scheinen etwas Ominöses zu haben; es ist, als ob mit ihnen gerade die Er¬<lb/> innerung zu erlöschen anfinge.</p><lb/> <p xml:id="ID_2221" next="#ID_2222"> Und giebt es nicht selbst Lebende, deren Ruhm schon halb verblichen ist?<lb/> Wie ist es mit Gabe, mit Hiller, mit Lachner? Es ist bitter, daß man es<lb/> sagen muß, aber wir sprechen ja keine persönliche Ansicht aus, es sind die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0642]
Die Leipziger Gewandhauskonzerte.
größte Verlegenheit, wenn wir nur eine einzige Note von all diesen damals
trefflichen Werken herbeischaffen sollten," das gilt auch noch von Hunderten der
später aufgeführten Werke, sie sind verschollen und vergessen. Und dieses Loos
hat keineswegs nur die kleinen und kleinsten Geister getroffen; auch solche, die in dem
Dörffelschen Verzeichnis fett gedruckt sind, und unter deren Namen eine lange
Liste aufgeführter Werke steht, die also zu ihrer Zeit sich einer gewissen
Popularität erfreuten, sind aus dem heutigen Musikleben völlig verschwunden.
Wer fragt noch nach Haffe, Naumann, Ghrowetz, Pcier, Cimarosa, Paisicllo,
Righieni, Sacchini, Salieri, Sarti u. a.?
Doch wir brauchen garnicht zurückzugehen bis an das Ende des vorigen
oder den Anfang unsers Jahrhunderts, nein, Erscheinungen, die uns zeitlich
noch viel näher stehen, geben uns die gleiche Lehre. Wie ist Friedrich Schneider,
der Dessauer Kapellmeister, der Komponist des „Weltgerichts," seiner Zeit gefeiert
worden! Seine Symphonien und Ouvertüren kehren in den ersten vier Jahr¬
zehnten unsers Jahrhunderts fort und fort in den Programmen wieder; dann
erscheint er 1848 noch einmal mit einer neuen Symphonie, 18S4 führte man
noch einen Psalm von ihm „zum Gedächtnis des Komponisten" auf (gestorben
23. November 18L3), 1866 noch eine Hymne für Männerstimmen, 1859 seine
Ouvertüre über das Gaudeamus; seitdem ist er aus den Programmen ver¬
schwunden. Fast genau so ist es Ludwig Spohr ergangen. Einige seiner
Violinkonzerte werden zwar noch lange zu den Lieblingen unsrer großen Geiger
zählen, aber seine Symphonien, seine Ouvertüren und sonstige Opernnummern
und zahllose kleinere Kompositionen, die früher jahrzehntelang die Programme
geschmückt haben, sind in der letzten Zeit seltener und seltener geworden, und
wie lange wird es dauern, so fragt auch nach ihnen niemand mehr. Die „Weihe
der Töne" ist 1869 zum letztenmale gespielt worden, nachdem sie von 1834 bis
1860 sechzehn Aufführungen erlebt hatte, von 1834 bis 1839 sogar jedes
Jahr gespielt worden war.
Aber wir können noch näher an die Gegenwart Herangehen und gewahren
selbst da dieselbe Erscheinung. Julius Rietz hat drei Symphonien und mehrere
Ouvertüren geschrieben, die in den vierziger und fünfziger Jahren sehr gern
gehört wurden. Dann kamen sie seltener, und endlich fielen sie ganz aus. 1877
wurde noch einmal „zur Erinnerung" an ihn (gestorben 12. September 1877)
seine Konzertouvertüre und seine Ls-aur-Symphonie gespielt — seitdem nicht
eine Note wieder, und Rietz ist von 1848 bis 1860 der Dirigent der Gewand¬
hauskonzerte gewesen! Diese Konzerte „zur Erinnerung" oder „zum Gedächtnis"
scheinen etwas Ominöses zu haben; es ist, als ob mit ihnen gerade die Er¬
innerung zu erlöschen anfinge.
Und giebt es nicht selbst Lebende, deren Ruhm schon halb verblichen ist?
Wie ist es mit Gabe, mit Hiller, mit Lachner? Es ist bitter, daß man es
sagen muß, aber wir sprechen ja keine persönliche Ansicht aus, es sind die
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |