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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Die Leipziger Gewandhauskonzerte.

phonie, die große Leonorcnouvertüre und Schumanns D-inM-Symphonie im
dritten Konzert) einen vielverheißenden Anlauf genommen zu einer Regeneration
der Konzertprogramme, wie sie dem neuen Hause und -- notabene! -- den
neuen Eintrittspreisen gegenüber doppelt notthut; für fünf Mark mag nie¬
mand mehr ein Theegesellschaftsprogramm hören. Auch die Ausführung war
vollendet, zum Teil hinreißend schön. Das war wieder ganz das alte Gewand¬
hausorchester aus den Tagen, wo David mit seiner grimmigen Miene und seinem
feurigen Bogenstrich am ersten Geigerpulte stand. Hoffentlich bleibt es nicht
bei diesem vereinzelten Anlaufe. Sonst möchten Stiftungsanteile und Anlehens-
scheine bald für ein Billiges zu haben sein, denn über eine Rückkehr zu den
Schablonenprogrammen der letzten Jahre dürfte sich das Publikum durch alle
Pracht des neuen Hauses doch nur kurze Zeit hinwegtäuschen lassen.

Aber wir hatten ja versprochen, noch einige Mitteilungen aus unsrer treff¬
lichen Festschrift zu machen. Freilich: was soll man auswählen? Wo man
nur den Finger hineinsetzt, liegt reiches Material, und die Freunde der Musik¬
geschichte werden lange an dem Bande auszuschöpfen haben. Ein besonders
interessantes Kapitel ließe sich schreiben über "Mendelssohn und Schumann in
Leipzig": vielleicht behandeln wir das später einmal. Heute wollen wir nur
in Kürze zeige", wie lehrreich eine gründliche Konzertgeschichte für die Be¬
urteilung gewisser musikalischer Tagesfragen werden kann. Auch auf diesem
Gebiete erweist sich die Geschichte -- wenn man ihre Stimme nur hören will --
als eine Lehrmeisterin ersten Ranges.

Der erste Teil der Dörffelschen "Statistik" zählt nicht weniger als 868
Komponisten auf, von denen im Laufe eines Jahrhunderts Kompositionen in den
Gewandhauskonzerten aufgeführt worden sind. Dabei sind allerdings nicht bloß
die von der Konzertdirektion veranstalteten Konzerte, sondern auch die sämtlichen
(75S) Extrakonzerte berücksichtigt, die innerhalb des behandelten Zeitraumes im
Gewandhaussaale stattgefunden haben, und mit Recht; denn da die Konzert¬
direktion zu diesen Extrakonzerten den Saal zu vergeben hat, und da sie bei
der Verfügung darüber sich nie durch die Rücksicht auf pekuniären Gewinn,
sondern immer nur durch die Rücksicht auf die darum anhaltenden Künstler und
die von ihnen zu erwartenden Leistungen hat leiten lassen, weil sie für das,
was im Gewandhaussaale geboten wird, stets eine gewissermaßen moralische Ver¬
antwortlichkeit zu haben geglaubt hat, so sind auch die Extrakonzerte in den
Rahmen der Gewandhauskonzerte mit hereinzuziehen und können bei einer Sta¬
tistik derselben nicht beiseite gelassen werden.

Von diesen 868 Komponisten sind wohl die meisten dem heutigen Ge¬
schlechte unbekannt. Ihre Namen stehen im musikalischen Konversationslexikon, einen
Teil von ihnen kennt der Musikhistoriker, aber von ihren Werken wird nichts
mehr aufgeführt. Was Dörffel von dem Eröffnungskonzert vom 25. November
1781 sagt, nachdem er das Programm aufgezählt: "Wir kämen heute in die


Grenzboten IV. 1884. 80
Die Leipziger Gewandhauskonzerte.

phonie, die große Leonorcnouvertüre und Schumanns D-inM-Symphonie im
dritten Konzert) einen vielverheißenden Anlauf genommen zu einer Regeneration
der Konzertprogramme, wie sie dem neuen Hause und — notabene! — den
neuen Eintrittspreisen gegenüber doppelt notthut; für fünf Mark mag nie¬
mand mehr ein Theegesellschaftsprogramm hören. Auch die Ausführung war
vollendet, zum Teil hinreißend schön. Das war wieder ganz das alte Gewand¬
hausorchester aus den Tagen, wo David mit seiner grimmigen Miene und seinem
feurigen Bogenstrich am ersten Geigerpulte stand. Hoffentlich bleibt es nicht
bei diesem vereinzelten Anlaufe. Sonst möchten Stiftungsanteile und Anlehens-
scheine bald für ein Billiges zu haben sein, denn über eine Rückkehr zu den
Schablonenprogrammen der letzten Jahre dürfte sich das Publikum durch alle
Pracht des neuen Hauses doch nur kurze Zeit hinwegtäuschen lassen.

Aber wir hatten ja versprochen, noch einige Mitteilungen aus unsrer treff¬
lichen Festschrift zu machen. Freilich: was soll man auswählen? Wo man
nur den Finger hineinsetzt, liegt reiches Material, und die Freunde der Musik¬
geschichte werden lange an dem Bande auszuschöpfen haben. Ein besonders
interessantes Kapitel ließe sich schreiben über „Mendelssohn und Schumann in
Leipzig": vielleicht behandeln wir das später einmal. Heute wollen wir nur
in Kürze zeige», wie lehrreich eine gründliche Konzertgeschichte für die Be¬
urteilung gewisser musikalischer Tagesfragen werden kann. Auch auf diesem
Gebiete erweist sich die Geschichte — wenn man ihre Stimme nur hören will —
als eine Lehrmeisterin ersten Ranges.

Der erste Teil der Dörffelschen „Statistik" zählt nicht weniger als 868
Komponisten auf, von denen im Laufe eines Jahrhunderts Kompositionen in den
Gewandhauskonzerten aufgeführt worden sind. Dabei sind allerdings nicht bloß
die von der Konzertdirektion veranstalteten Konzerte, sondern auch die sämtlichen
(75S) Extrakonzerte berücksichtigt, die innerhalb des behandelten Zeitraumes im
Gewandhaussaale stattgefunden haben, und mit Recht; denn da die Konzert¬
direktion zu diesen Extrakonzerten den Saal zu vergeben hat, und da sie bei
der Verfügung darüber sich nie durch die Rücksicht auf pekuniären Gewinn,
sondern immer nur durch die Rücksicht auf die darum anhaltenden Künstler und
die von ihnen zu erwartenden Leistungen hat leiten lassen, weil sie für das,
was im Gewandhaussaale geboten wird, stets eine gewissermaßen moralische Ver¬
antwortlichkeit zu haben geglaubt hat, so sind auch die Extrakonzerte in den
Rahmen der Gewandhauskonzerte mit hereinzuziehen und können bei einer Sta¬
tistik derselben nicht beiseite gelassen werden.

Von diesen 868 Komponisten sind wohl die meisten dem heutigen Ge¬
schlechte unbekannt. Ihre Namen stehen im musikalischen Konversationslexikon, einen
Teil von ihnen kennt der Musikhistoriker, aber von ihren Werken wird nichts
mehr aufgeführt. Was Dörffel von dem Eröffnungskonzert vom 25. November
1781 sagt, nachdem er das Programm aufgezählt: „Wir kämen heute in die


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[0641] Die Leipziger Gewandhauskonzerte. phonie, die große Leonorcnouvertüre und Schumanns D-inM-Symphonie im dritten Konzert) einen vielverheißenden Anlauf genommen zu einer Regeneration der Konzertprogramme, wie sie dem neuen Hause und — notabene! — den neuen Eintrittspreisen gegenüber doppelt notthut; für fünf Mark mag nie¬ mand mehr ein Theegesellschaftsprogramm hören. Auch die Ausführung war vollendet, zum Teil hinreißend schön. Das war wieder ganz das alte Gewand¬ hausorchester aus den Tagen, wo David mit seiner grimmigen Miene und seinem feurigen Bogenstrich am ersten Geigerpulte stand. Hoffentlich bleibt es nicht bei diesem vereinzelten Anlaufe. Sonst möchten Stiftungsanteile und Anlehens- scheine bald für ein Billiges zu haben sein, denn über eine Rückkehr zu den Schablonenprogrammen der letzten Jahre dürfte sich das Publikum durch alle Pracht des neuen Hauses doch nur kurze Zeit hinwegtäuschen lassen. Aber wir hatten ja versprochen, noch einige Mitteilungen aus unsrer treff¬ lichen Festschrift zu machen. Freilich: was soll man auswählen? Wo man nur den Finger hineinsetzt, liegt reiches Material, und die Freunde der Musik¬ geschichte werden lange an dem Bande auszuschöpfen haben. Ein besonders interessantes Kapitel ließe sich schreiben über „Mendelssohn und Schumann in Leipzig": vielleicht behandeln wir das später einmal. Heute wollen wir nur in Kürze zeige», wie lehrreich eine gründliche Konzertgeschichte für die Be¬ urteilung gewisser musikalischer Tagesfragen werden kann. Auch auf diesem Gebiete erweist sich die Geschichte — wenn man ihre Stimme nur hören will — als eine Lehrmeisterin ersten Ranges. Der erste Teil der Dörffelschen „Statistik" zählt nicht weniger als 868 Komponisten auf, von denen im Laufe eines Jahrhunderts Kompositionen in den Gewandhauskonzerten aufgeführt worden sind. Dabei sind allerdings nicht bloß die von der Konzertdirektion veranstalteten Konzerte, sondern auch die sämtlichen (75S) Extrakonzerte berücksichtigt, die innerhalb des behandelten Zeitraumes im Gewandhaussaale stattgefunden haben, und mit Recht; denn da die Konzert¬ direktion zu diesen Extrakonzerten den Saal zu vergeben hat, und da sie bei der Verfügung darüber sich nie durch die Rücksicht auf pekuniären Gewinn, sondern immer nur durch die Rücksicht auf die darum anhaltenden Künstler und die von ihnen zu erwartenden Leistungen hat leiten lassen, weil sie für das, was im Gewandhaussaale geboten wird, stets eine gewissermaßen moralische Ver¬ antwortlichkeit zu haben geglaubt hat, so sind auch die Extrakonzerte in den Rahmen der Gewandhauskonzerte mit hereinzuziehen und können bei einer Sta¬ tistik derselben nicht beiseite gelassen werden. Von diesen 868 Komponisten sind wohl die meisten dem heutigen Ge¬ schlechte unbekannt. Ihre Namen stehen im musikalischen Konversationslexikon, einen Teil von ihnen kennt der Musikhistoriker, aber von ihren Werken wird nichts mehr aufgeführt. Was Dörffel von dem Eröffnungskonzert vom 25. November 1781 sagt, nachdem er das Programm aufgezählt: „Wir kämen heute in die Grenzboten IV. 1884. 80

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/641>, abgerufen am 29.12.2024.