Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.Paul Heyses Gedichte. bis mit einer neuen Liebe (Neues Leben) aller Jugendtändelei ein Ende ge¬
Es ist das Gefühl der Vaterliebe, das früh bei ihm sich kundgiebt, und das, Paul Heyses Gedichte. bis mit einer neuen Liebe (Neues Leben) aller Jugendtändelei ein Ende ge¬
Es ist das Gefühl der Vaterliebe, das früh bei ihm sich kundgiebt, und das, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0635" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/157560"/> <fw type="header" place="top"> Paul Heyses Gedichte.</fw><lb/> <p xml:id="ID_2196" prev="#ID_2195"> bis mit einer neuen Liebe (Neues Leben) aller Jugendtändelei ein Ende ge¬<lb/> macht wird und die tiefe Leidenschaft einzieht. Doch merkwürdig: mit dem<lb/> Fortschritt des Ernstes verliert sich die zuströmende Fülle der Bildlichkeit im<lb/> Ausdruck. Ein so bildliches Gedicht wie „Liebesdienst," welches noch der frühern<lb/> Periode angehört, findet sich in den folgenden nicht mehr. Dafür treten die<lb/> bleibenden Züge der Heyseschen Muse hervor. Sie geht nicht auf im Objekt,<lb/> sie schwebt immer »och freien Geistes darüber; sie ist schwerer im Gehalt als<lb/> in der Empfindung; sie erscheint in vollendeter Form, ohne den Naturlaut zu<lb/> treffen. Mit diesen Gedichten wird auch das Gebiet der erotischen Poesie, in<lb/> dem der Dichter den gesunden, unbefangenen Ausdruck zartester Sinnlichkeit<lb/> nicht schent, hinfort verlassen; bräutliche und eheliche Liebe werden da gefeiert,<lb/> aber auch schon jener Ton angeschlagen, der Heyses größte lyrische Kraft offen¬<lb/> baren sollte:</p><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_26" type="poem"> <l> Ich war schon so frech,<lb/> Nun bin ich so fromm<lb/> Und blicke voll Andacht zur Sonne.<lb/> Schön ist die Welt!<lb/> Meine Liebste IM<lb/> Am Busen ihr Kind voll Wonne.</l> </lg> </quote><lb/> <p xml:id="ID_2197" next="#ID_2198"> Es ist das Gefühl der Vaterliebe, das früh bei ihm sich kundgiebt, und das,<lb/> im tiefsten ergriffen, der Quell seiner schönsten lyrischen Poesien werden sollte.<lb/> Die Cyklen: „Marianne," „Ernst" und „Willfried" bilden den Höhepunkt der<lb/> Sammlung dieser Gedichte. Sie sind das Originellste, was Heyse geschrieben,<lb/> und zugleich eines der modernsten Motive, welches unser Jahrhundert in die<lb/> Poesie eingeführt hat. Victor Hugo hat den Anfang gemacht, Rückert brachte<lb/> einem frühgestorbenen Kinde ein vielleicht allzureiches Totenopfer, und in aller-<lb/> jüugster Zeit ist die Poesie des Kinderlebens vielfach auch in Romanen behan¬<lb/> delt worden (Björnson, Kielland, S. Farina). Am eigentümlichsten ist die Be¬<lb/> handlung Heyses. Mit der doppelten Liebe des Vaters und des Phantasiemenschen<lb/> vergegenwärtigt er sich das Leben der dahingegangenen Lieben; aber der Verlust<lb/> des teuersten Besitzes wirkt auch auf seine eigne Entwicklung in der Weise, daß<lb/> sie den sorglos Genießenden zu der Selbstbesinnung leitet, in der er sein Ver¬<lb/> hältnis zu den Mächten des Lebens einer neuen Klärung unterzieht. Wundersam<lb/> vereinigt der Dichter diese beiden Elemente der Einbildung und der Reflexion. Jede<lb/> Erinnerung an die Eigentümlichkeiten des dahingegangenen Kindes weckt neu<lb/> den Schmerz auf und führt zu neuer Grübelei. Und das Versinken in der¬<lb/> selben bildet gleichsam die Peripetie der Läuterung. Diese Zustünde werden<lb/> mit der größten objektiven Kunst entwickelt, man sieht ein Anivachsen der Ver¬<lb/> bitterung, einen Kampf und eine Resignation. Darum sind auch reine Gedanken¬<lb/> gedichte dieser Reihe voll Poesie weil sie aus dem reinmenschlichen Bedürfnis<lb/> nach Klärung entstanden sind. Reicher an Bildlichkeit und überhaupt gemäßigter</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0635]
Paul Heyses Gedichte.
bis mit einer neuen Liebe (Neues Leben) aller Jugendtändelei ein Ende ge¬
macht wird und die tiefe Leidenschaft einzieht. Doch merkwürdig: mit dem
Fortschritt des Ernstes verliert sich die zuströmende Fülle der Bildlichkeit im
Ausdruck. Ein so bildliches Gedicht wie „Liebesdienst," welches noch der frühern
Periode angehört, findet sich in den folgenden nicht mehr. Dafür treten die
bleibenden Züge der Heyseschen Muse hervor. Sie geht nicht auf im Objekt,
sie schwebt immer »och freien Geistes darüber; sie ist schwerer im Gehalt als
in der Empfindung; sie erscheint in vollendeter Form, ohne den Naturlaut zu
treffen. Mit diesen Gedichten wird auch das Gebiet der erotischen Poesie, in
dem der Dichter den gesunden, unbefangenen Ausdruck zartester Sinnlichkeit
nicht schent, hinfort verlassen; bräutliche und eheliche Liebe werden da gefeiert,
aber auch schon jener Ton angeschlagen, der Heyses größte lyrische Kraft offen¬
baren sollte:
Ich war schon so frech,
Nun bin ich so fromm
Und blicke voll Andacht zur Sonne.
Schön ist die Welt!
Meine Liebste IM
Am Busen ihr Kind voll Wonne.
Es ist das Gefühl der Vaterliebe, das früh bei ihm sich kundgiebt, und das,
im tiefsten ergriffen, der Quell seiner schönsten lyrischen Poesien werden sollte.
Die Cyklen: „Marianne," „Ernst" und „Willfried" bilden den Höhepunkt der
Sammlung dieser Gedichte. Sie sind das Originellste, was Heyse geschrieben,
und zugleich eines der modernsten Motive, welches unser Jahrhundert in die
Poesie eingeführt hat. Victor Hugo hat den Anfang gemacht, Rückert brachte
einem frühgestorbenen Kinde ein vielleicht allzureiches Totenopfer, und in aller-
jüugster Zeit ist die Poesie des Kinderlebens vielfach auch in Romanen behan¬
delt worden (Björnson, Kielland, S. Farina). Am eigentümlichsten ist die Be¬
handlung Heyses. Mit der doppelten Liebe des Vaters und des Phantasiemenschen
vergegenwärtigt er sich das Leben der dahingegangenen Lieben; aber der Verlust
des teuersten Besitzes wirkt auch auf seine eigne Entwicklung in der Weise, daß
sie den sorglos Genießenden zu der Selbstbesinnung leitet, in der er sein Ver¬
hältnis zu den Mächten des Lebens einer neuen Klärung unterzieht. Wundersam
vereinigt der Dichter diese beiden Elemente der Einbildung und der Reflexion. Jede
Erinnerung an die Eigentümlichkeiten des dahingegangenen Kindes weckt neu
den Schmerz auf und führt zu neuer Grübelei. Und das Versinken in der¬
selben bildet gleichsam die Peripetie der Läuterung. Diese Zustünde werden
mit der größten objektiven Kunst entwickelt, man sieht ein Anivachsen der Ver¬
bitterung, einen Kampf und eine Resignation. Darum sind auch reine Gedanken¬
gedichte dieser Reihe voll Poesie weil sie aus dem reinmenschlichen Bedürfnis
nach Klärung entstanden sind. Reicher an Bildlichkeit und überhaupt gemäßigter
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