Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.Paul Heyses Gedichte.
Der Mann, der so tief den Gegensatz und die innerste Unverträglichkeit Ich weih, ein Wahn ist's und zum Wahnsinn bringt's, Über die Alpen war er geeilt, sich selbst gleichsam zu entfliehen, und doch nur Dies ist das Schicksal, welches dem Leser sich aus dem (absichtsvoll und Grenzboten IV. 1884. 70
Paul Heyses Gedichte.
Der Mann, der so tief den Gegensatz und die innerste Unverträglichkeit Ich weih, ein Wahn ist's und zum Wahnsinn bringt's, Über die Alpen war er geeilt, sich selbst gleichsam zu entfliehen, und doch nur Dies ist das Schicksal, welches dem Leser sich aus dem (absichtsvoll und Grenzboten IV. 1884. 70
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Paul Heyses Gedichte.
Ihm lauschend lag ich am geweihten Orte
Wohl eine Stunde lang, indessen er
Stets neues Gold mir bot von seinem Horte. Wie war er reich! Wie schien er die Gewähr
Des höchsten Kranzes in der Brust zu tragen!
Und dennoch gab er seiner Zeit nicht mehr. Natur, die weich auf Händen ihn getragen,
Ihm Aug' und Seele mütterlich gefeit,
Was mußte sie dem Liebling Eins versagen, Wodurch allein sie Herrschgewalt verleiht:
Die süße Dumpfheit, jedes Höchsten Quelle,
Die seine Wurzeln tränkt mit Lauterkeit! Sein Auge war zu scharf, sein Geist zu schnelle;
Er ward zu klug aus allem, was er schuf;
Der Baum erkrankt bei steter Lampenhelle. Zu willig folgte Weisheit seinem Ruf
Und lehrte sinnend ihn das All umfassen,
Da Schranken heischt des Schaffenden Beruf.
Der Mann, der so tief den Gegensatz und die innerste Unverträglichkeit
künstlerischer und reflektirender Geistesrichtung bezeichnete, der ihn in einer seiner
Novellen als sittliches Problem (das Hamletmotiv damit ergreifend) darstellte,
hat ihn auch selbst qualvoll durchlebt. Es war in jenen düstern Zeiten, da
ihm ein geliebtes Kind nach dem andern, in der Knospenzeit des Lebens, hinweg¬
starb, und da ihn der Verlust des kaum erwachsenen geliebten dritten bis an die
Grenze des Wahnsinns brachte:
Ich weih, ein Wahn ist's und zum Wahnsinn bringt's,
Ihm nachzuhängen.
Über die Alpen war er geeilt, sich selbst gleichsam zu entfliehen, und doch nur
allmählich konnte er unter dem schonen Himmel des seit froher Jünglingszeit
wohlvertrauten Italiens Fassung, Ruhe, Ergebenheit finden. Damals hatte der
Schmerz den ganzen Mann, von der Zehe bis zum Wirbel, ergriffen, sein
ganzes Denken aufgerüttelt, alle Saiten seiner Seele bis auf den Grund erschüt¬
tert. Nichts blieb fest, alles wurde in das Bereich des mißtrauischen Zweifels
gezogen, alle Fragen der Religion und Weltanschauung wurde» neu gestellt,
mit allen fand eine neue Auseinandersetzung statt: es war ein Fegefeuer auf
Erden, bei welchem nur das reinste Gold, die wahrste Natur aus der Schlacke
übrig bleiben konnte. Die strenge Zucht, welche ihm eine überreich die Gaben
alisspendende Natur bis dahin erlassen, übernahm das Schicksal, und dem so
vielfach bevorzugten Menschenkinde, welches am liebsten alle sieben Künste in
sorgloser Freiheit hätte üben mögen, blieb kein Schlag erspart, es zum Manne
zu hämmern.
Dies ist das Schicksal, welches dem Leser sich aus dem (absichtsvoll und
klar geordneten) Zusammenhange der Gedichte Heyses vors Auge stellt.
Grenzboten IV. 1884. 70
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