Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.Ein Roman aus den dreißiger Jahren. lehr verantwortlich zu machen. Der Verfasser von "Altar und Krone" weiß Herr Ernst von Diemar, um auf die Geschichte zurückzukommen, erfährt in Pfarrer Friedrich, der in Oderwiesen amtirt und der sich zur Zeit des Be¬ Ein Roman aus den dreißiger Jahren. lehr verantwortlich zu machen. Der Verfasser von „Altar und Krone" weiß Herr Ernst von Diemar, um auf die Geschichte zurückzukommen, erfährt in Pfarrer Friedrich, der in Oderwiesen amtirt und der sich zur Zeit des Be¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0590" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/157515"/> <fw type="header" place="top"> Ein Roman aus den dreißiger Jahren.</fw><lb/> <p xml:id="ID_2034" prev="#ID_2033"> lehr verantwortlich zu machen. Der Verfasser von „Altar und Krone" weiß<lb/> an andrer Stelle seines Romans sehr gut, wie wenig die konstitutionellen Ver¬<lb/> fassungen und der vielgepriesene Aufschwung der materiellen Verhältnisse ein<lb/> der herzpressenden Kleinlichkeit unsrer mittleren und leidergottes auch eines<lb/> großen Teils unsrer sogenannten guten Gesellschaft geändert haben. Das zweite<lb/> Kapitel seines zweiten Bandes leitet Otto Müller mit den Worten ein: „Die<lb/> Zeit, von der wir erzählen, unterschied sich auch darin von der gegenwärtigen,<lb/> daß unter den jüngeren Personen beiderlei Geschlechts in dem gebildeten Mittel¬<lb/> stande noch ungleich mehr Vertiefung und poetische Innerlichkeit herrschte als<lb/> heutzutage, wo ein freies öffentliches Leben mit seinen vielfachen Interessen und<lb/> Anregungen den Geist der Menschen mehr nach außen führt; während damals<lb/> der auf der Gesamtheit lastende Druck von oben dem Gemütsleben zugute kam,<lb/> indem er die Gebildeten auf ihre innere Welt als die einzige Zufluchtsstätte<lb/> für die schönen Ideale dieses Lebens hinwies und ihnen den Verkehr mit gleich-<lb/> gesinnten Freunden doppelt wünschenswert und notwendig machte. Deshalb<lb/> war aber auch die Geselligkeit in den großen und mittelgroßen Städten Süd¬<lb/> deutschlands eine geistig viel belebtere und genußreichere wie heutzutage." Ein<lb/> wunderliches Eingeständnis, das dem Verfasser hier nebenbei entschlüpft ist. Das<lb/> „Metternichsche System" mag sich für das Kompliment und der Liberalismus<lb/> für den Vormurf, die ihm diese Worte erteilen, bedanken; wir ziehen nur eine<lb/> Konsequenz daraus: der Romanschriftsteller soll darstellen nur durch Darstellung,<lb/> aber uicht durch Räsonnement überzeugen. Was er von seinen Anschauungen<lb/> und seinen Kenntnissen der Zustände im lebendigen Bilde, in Handlung und<lb/> Gestalten wiederzugeben vermag, wollen wir gelten lassen, was er dazwischen<lb/> leitartikclt, setzt ihn in Gefahr, mit sich selbst in Widerspruch zu geraten oder<lb/> doch jede poetische Wirkung aufzuheben.</p><lb/> <p xml:id="ID_2035"> Herr Ernst von Diemar, um auf die Geschichte zurückzukommen, erfährt in<lb/> der ersten Zeit seines Aufenthaltes in dem entlegenen Amtsstädtchcn, daß sein<lb/> Vorgesetzter, der Amtsrichter Rudhard, ein roher Trunkenbold, der im äsliriuin<lb/> tröiQLNL bereits Mäuse sieht, deu Pfarrer Friedrich von Oderwiesen ingrimmig<lb/> haßt. Herr von Diener beschließt den Pfarrer bei guter Gelegenheit zu warnen,<lb/> denn so loyaler Unterthan der junge Amtsverweser ist, so hat er doch auf der<lb/> Universität die Ideale der Burschenschaft in sich aufgenommen und ist überhaupt<lb/> durch seine ganze Bildung der Atmosphäre, in der sich ein Rudhard wohl fühlt,<lb/> enthoben. Über den Pfarrer von Oderwiesen kann er freilich nicht ins Klare<lb/> kommen, die Mischung von idealem Pathos, von edler Berufstreue und einem<lb/> Demagogcntum, das mit Geheimbünden und heimlich gedruckten Brandschriften<lb/> gegen das alte System wirkt, bleibt für den Helden der Geschichte wie jetzt<lb/> für die Leser derselben vielfach dunkel und unverständlich.</p><lb/> <p xml:id="ID_2036" next="#ID_2037"> Pfarrer Friedrich, der in Oderwiesen amtirt und der sich zur Zeit des Be¬<lb/> ginns der Geschichte auf einer Reise nach Schwaben und der Schweiz befindet,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0590]
Ein Roman aus den dreißiger Jahren.
lehr verantwortlich zu machen. Der Verfasser von „Altar und Krone" weiß
an andrer Stelle seines Romans sehr gut, wie wenig die konstitutionellen Ver¬
fassungen und der vielgepriesene Aufschwung der materiellen Verhältnisse ein
der herzpressenden Kleinlichkeit unsrer mittleren und leidergottes auch eines
großen Teils unsrer sogenannten guten Gesellschaft geändert haben. Das zweite
Kapitel seines zweiten Bandes leitet Otto Müller mit den Worten ein: „Die
Zeit, von der wir erzählen, unterschied sich auch darin von der gegenwärtigen,
daß unter den jüngeren Personen beiderlei Geschlechts in dem gebildeten Mittel¬
stande noch ungleich mehr Vertiefung und poetische Innerlichkeit herrschte als
heutzutage, wo ein freies öffentliches Leben mit seinen vielfachen Interessen und
Anregungen den Geist der Menschen mehr nach außen führt; während damals
der auf der Gesamtheit lastende Druck von oben dem Gemütsleben zugute kam,
indem er die Gebildeten auf ihre innere Welt als die einzige Zufluchtsstätte
für die schönen Ideale dieses Lebens hinwies und ihnen den Verkehr mit gleich-
gesinnten Freunden doppelt wünschenswert und notwendig machte. Deshalb
war aber auch die Geselligkeit in den großen und mittelgroßen Städten Süd¬
deutschlands eine geistig viel belebtere und genußreichere wie heutzutage." Ein
wunderliches Eingeständnis, das dem Verfasser hier nebenbei entschlüpft ist. Das
„Metternichsche System" mag sich für das Kompliment und der Liberalismus
für den Vormurf, die ihm diese Worte erteilen, bedanken; wir ziehen nur eine
Konsequenz daraus: der Romanschriftsteller soll darstellen nur durch Darstellung,
aber uicht durch Räsonnement überzeugen. Was er von seinen Anschauungen
und seinen Kenntnissen der Zustände im lebendigen Bilde, in Handlung und
Gestalten wiederzugeben vermag, wollen wir gelten lassen, was er dazwischen
leitartikclt, setzt ihn in Gefahr, mit sich selbst in Widerspruch zu geraten oder
doch jede poetische Wirkung aufzuheben.
Herr Ernst von Diemar, um auf die Geschichte zurückzukommen, erfährt in
der ersten Zeit seines Aufenthaltes in dem entlegenen Amtsstädtchcn, daß sein
Vorgesetzter, der Amtsrichter Rudhard, ein roher Trunkenbold, der im äsliriuin
tröiQLNL bereits Mäuse sieht, deu Pfarrer Friedrich von Oderwiesen ingrimmig
haßt. Herr von Diener beschließt den Pfarrer bei guter Gelegenheit zu warnen,
denn so loyaler Unterthan der junge Amtsverweser ist, so hat er doch auf der
Universität die Ideale der Burschenschaft in sich aufgenommen und ist überhaupt
durch seine ganze Bildung der Atmosphäre, in der sich ein Rudhard wohl fühlt,
enthoben. Über den Pfarrer von Oderwiesen kann er freilich nicht ins Klare
kommen, die Mischung von idealem Pathos, von edler Berufstreue und einem
Demagogcntum, das mit Geheimbünden und heimlich gedruckten Brandschriften
gegen das alte System wirkt, bleibt für den Helden der Geschichte wie jetzt
für die Leser derselben vielfach dunkel und unverständlich.
Pfarrer Friedrich, der in Oderwiesen amtirt und der sich zur Zeit des Be¬
ginns der Geschichte auf einer Reise nach Schwaben und der Schweiz befindet,
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