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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Italienische Zustände.

die Unannehmlichkeiten heimzahlen, welche die Quarantäne für die Schweiz hatte.
Endlich gab man sich der Hoffnung hin, durch den festgeschnürten Militärkordvu
den Schmuggelhandel vollständig zu vernichten und der Staatskasse eine ent¬
sprechende, sehr bedeutende Mehreinnahme zuzuführen. Aber wer zuviel erreichen
will, erlangt manchmal garnichts. Beim Ausbruche der Epidemie in Neapel
wurden der Regierung von dem Chef der Opposition, Crispi, die bittersten Vor¬
würfe darüber gemacht, daß sie die Alpen nicht hermetisch abgesperrt und da¬
durch die Übertragung der Krankheit verhindert habe. Diese wunderbaren Vor¬
würfe (man fragte sich, ob Crispi die Alpen für einen Zaun statt für eine
langgedehnte, vielfach durch unwegsame Gletscher und uuübersteigbare Felsen
unterbrochene Grenze halte) verstummten allerdings allmühlig ganz, und jetzt
sind alle einsichtigen Italiener zur Überzeugung gelangt, daß die Landquaran¬
täne ebensowohl ein großer und sehr kostspieliger Fehler wie eine völlig wirkungs¬
lose Maßregel gewesen ist. Der frühere, jetzt oppositionelle Unterrichtsminister
Bacelli, Professor der Medizin an der Römischen Universität, schickte, sobald sich
der Umschwung in der öffentlichen Meinung vorzubereiten anfing, an eine Rö¬
mische Zeitung ein Schreiben über die Quarantäne, aus dessen unklaren und
gewundenen Sätzen mau herauslesen konnte, was man wollte, und das offenbar
darauf berechnet war, einer Schwankung in den Ansichten der Opposition zur
Einleitung zu dienen.

Daß die italienische Regierung die schweizerische Bevölkerung chikaniren
wollte, geht mit Evidenz aus der Art hervor, wie die Quarantäne gehandhabt
wurde. Im Kanton Tessin ist es, ebenso wie in Frankreich, vielfach Sitte,
Säuglinge aus den Städten in Ammenverpflcgung auf das Land zu geben.
Eine Familie in Locarno hatte eine Bäuerin, die in Italien (dicht an der
Grenze) lebte, z-u diesem Zwecke engagirt. Das Kind wird an die schweizerische
Seite des Kordons gebracht, die Amme kommt an die italienische Seite und
nimmt es in Empfang. Da läßt der kommandirende Offizier Kind und Amme
ins Lazaret zur Abhaltung der Quarantäne eskortiren! -- Oben auf dem
Gletscher des Theodulpasses wollten einige Touristen, die von Zermatt aus
auf die Jochhöhe gestiegen waren, nach Italien hinübersehen, aber augenblicklich
belehrten ste die emporgehobenenen Gewehrläufe der den Korton bildenden
Soldaten, daß es gefährlich sei, die reinen Lüfte durch etwaige Atmungsmiasmen
zu verunreinigen, und die Unvorsichtigen gingen schleunigst zurück.

Daß die Schweiz durch die Quarantäne große Verluste gehabt hat, ist
unleugbar, aber noch weit schlimmer ist Italien selbst dabei weggekommen. Ab¬
gesehen von dem Mangel an Fremdenverkehr haben Handel und Industrie die
schwerste Schädigung erlitten, da die Scherereien an der Grenze eine allge¬
meine Unsicherheit in der Lieferung der Waaren zur Folge hatten, sodaß die
Bestellungen ausblieben und deshalb viele Fabriken, besonders Oberitaliens,
teils gar nicht mehr, teils sehr viel weniger arbeiteten als sonst. Abgesehen


Italienische Zustände.

die Unannehmlichkeiten heimzahlen, welche die Quarantäne für die Schweiz hatte.
Endlich gab man sich der Hoffnung hin, durch den festgeschnürten Militärkordvu
den Schmuggelhandel vollständig zu vernichten und der Staatskasse eine ent¬
sprechende, sehr bedeutende Mehreinnahme zuzuführen. Aber wer zuviel erreichen
will, erlangt manchmal garnichts. Beim Ausbruche der Epidemie in Neapel
wurden der Regierung von dem Chef der Opposition, Crispi, die bittersten Vor¬
würfe darüber gemacht, daß sie die Alpen nicht hermetisch abgesperrt und da¬
durch die Übertragung der Krankheit verhindert habe. Diese wunderbaren Vor¬
würfe (man fragte sich, ob Crispi die Alpen für einen Zaun statt für eine
langgedehnte, vielfach durch unwegsame Gletscher und uuübersteigbare Felsen
unterbrochene Grenze halte) verstummten allerdings allmühlig ganz, und jetzt
sind alle einsichtigen Italiener zur Überzeugung gelangt, daß die Landquaran¬
täne ebensowohl ein großer und sehr kostspieliger Fehler wie eine völlig wirkungs¬
lose Maßregel gewesen ist. Der frühere, jetzt oppositionelle Unterrichtsminister
Bacelli, Professor der Medizin an der Römischen Universität, schickte, sobald sich
der Umschwung in der öffentlichen Meinung vorzubereiten anfing, an eine Rö¬
mische Zeitung ein Schreiben über die Quarantäne, aus dessen unklaren und
gewundenen Sätzen mau herauslesen konnte, was man wollte, und das offenbar
darauf berechnet war, einer Schwankung in den Ansichten der Opposition zur
Einleitung zu dienen.

Daß die italienische Regierung die schweizerische Bevölkerung chikaniren
wollte, geht mit Evidenz aus der Art hervor, wie die Quarantäne gehandhabt
wurde. Im Kanton Tessin ist es, ebenso wie in Frankreich, vielfach Sitte,
Säuglinge aus den Städten in Ammenverpflcgung auf das Land zu geben.
Eine Familie in Locarno hatte eine Bäuerin, die in Italien (dicht an der
Grenze) lebte, z-u diesem Zwecke engagirt. Das Kind wird an die schweizerische
Seite des Kordons gebracht, die Amme kommt an die italienische Seite und
nimmt es in Empfang. Da läßt der kommandirende Offizier Kind und Amme
ins Lazaret zur Abhaltung der Quarantäne eskortiren! — Oben auf dem
Gletscher des Theodulpasses wollten einige Touristen, die von Zermatt aus
auf die Jochhöhe gestiegen waren, nach Italien hinübersehen, aber augenblicklich
belehrten ste die emporgehobenenen Gewehrläufe der den Korton bildenden
Soldaten, daß es gefährlich sei, die reinen Lüfte durch etwaige Atmungsmiasmen
zu verunreinigen, und die Unvorsichtigen gingen schleunigst zurück.

Daß die Schweiz durch die Quarantäne große Verluste gehabt hat, ist
unleugbar, aber noch weit schlimmer ist Italien selbst dabei weggekommen. Ab¬
gesehen von dem Mangel an Fremdenverkehr haben Handel und Industrie die
schwerste Schädigung erlitten, da die Scherereien an der Grenze eine allge¬
meine Unsicherheit in der Lieferung der Waaren zur Folge hatten, sodaß die
Bestellungen ausblieben und deshalb viele Fabriken, besonders Oberitaliens,
teils gar nicht mehr, teils sehr viel weniger arbeiteten als sonst. Abgesehen


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[0416] Italienische Zustände. die Unannehmlichkeiten heimzahlen, welche die Quarantäne für die Schweiz hatte. Endlich gab man sich der Hoffnung hin, durch den festgeschnürten Militärkordvu den Schmuggelhandel vollständig zu vernichten und der Staatskasse eine ent¬ sprechende, sehr bedeutende Mehreinnahme zuzuführen. Aber wer zuviel erreichen will, erlangt manchmal garnichts. Beim Ausbruche der Epidemie in Neapel wurden der Regierung von dem Chef der Opposition, Crispi, die bittersten Vor¬ würfe darüber gemacht, daß sie die Alpen nicht hermetisch abgesperrt und da¬ durch die Übertragung der Krankheit verhindert habe. Diese wunderbaren Vor¬ würfe (man fragte sich, ob Crispi die Alpen für einen Zaun statt für eine langgedehnte, vielfach durch unwegsame Gletscher und uuübersteigbare Felsen unterbrochene Grenze halte) verstummten allerdings allmühlig ganz, und jetzt sind alle einsichtigen Italiener zur Überzeugung gelangt, daß die Landquaran¬ täne ebensowohl ein großer und sehr kostspieliger Fehler wie eine völlig wirkungs¬ lose Maßregel gewesen ist. Der frühere, jetzt oppositionelle Unterrichtsminister Bacelli, Professor der Medizin an der Römischen Universität, schickte, sobald sich der Umschwung in der öffentlichen Meinung vorzubereiten anfing, an eine Rö¬ mische Zeitung ein Schreiben über die Quarantäne, aus dessen unklaren und gewundenen Sätzen mau herauslesen konnte, was man wollte, und das offenbar darauf berechnet war, einer Schwankung in den Ansichten der Opposition zur Einleitung zu dienen. Daß die italienische Regierung die schweizerische Bevölkerung chikaniren wollte, geht mit Evidenz aus der Art hervor, wie die Quarantäne gehandhabt wurde. Im Kanton Tessin ist es, ebenso wie in Frankreich, vielfach Sitte, Säuglinge aus den Städten in Ammenverpflcgung auf das Land zu geben. Eine Familie in Locarno hatte eine Bäuerin, die in Italien (dicht an der Grenze) lebte, z-u diesem Zwecke engagirt. Das Kind wird an die schweizerische Seite des Kordons gebracht, die Amme kommt an die italienische Seite und nimmt es in Empfang. Da läßt der kommandirende Offizier Kind und Amme ins Lazaret zur Abhaltung der Quarantäne eskortiren! — Oben auf dem Gletscher des Theodulpasses wollten einige Touristen, die von Zermatt aus auf die Jochhöhe gestiegen waren, nach Italien hinübersehen, aber augenblicklich belehrten ste die emporgehobenenen Gewehrläufe der den Korton bildenden Soldaten, daß es gefährlich sei, die reinen Lüfte durch etwaige Atmungsmiasmen zu verunreinigen, und die Unvorsichtigen gingen schleunigst zurück. Daß die Schweiz durch die Quarantäne große Verluste gehabt hat, ist unleugbar, aber noch weit schlimmer ist Italien selbst dabei weggekommen. Ab¬ gesehen von dem Mangel an Fremdenverkehr haben Handel und Industrie die schwerste Schädigung erlitten, da die Scherereien an der Grenze eine allge¬ meine Unsicherheit in der Lieferung der Waaren zur Folge hatten, sodaß die Bestellungen ausblieben und deshalb viele Fabriken, besonders Oberitaliens, teils gar nicht mehr, teils sehr viel weniger arbeiteten als sonst. Abgesehen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/416>, abgerufen am 29.12.2024.