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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Italienische Zustände.

Österreich angeordnete Landquarantäne brachte es mit sich, daß kein italienischer
Staatsangehöriger sich länger als 24 Stunden im Auslande aufhalten durfte,
wenn er nicht nach seiner Rückkehr ins Lazaret gehen wollte. In Arsiero in
den venezianischen Alpen wurde mir mitgeteilt, wie man die Sache umging. Der
aus Italien Hinausgehende bekam eine Bescheinigung seines Bürgermeisters, daß
er an dem und dem Tage, zu der und der Stunde abgereist sei; wollte er nun
länger als vierundzwanzig Stunden jenseits der Grenze bleiben, so schrieb er
an einen Freund; dieser ließ sich sür seine eigne Person ein Zertifikat für den
Tag geben, an welchem der Reisende zurückkehren wollte, und schickte es ihm.
Da nun die Truppen, welche den Grenzkordon bildeten, nicht angewiesen waren,
die Persönlichkeit der in Frage kommenden festzustellen, so sand fortwährend
ein durch die Post vermittelter, ebenso lebhafter als unbehinderter Grenz¬
verkehr statt.

Man kann ferner geradezu behaupten, daß die Krankheit eigentlich durch
die sanitären Maßregeln der Regierung im Lande verbreitet worden ist. Als
der Ausbruch in Spezia erfolgte, half die Erwägung freilich nichts mehr, daß
er hauptsächlich darauf zurückzuführen war, daß die Regierung zu schwach ge¬
wesen, den Verkauf der Lumpen zu verhindern, welche die Lumpenhändler in
Spezia von den Flüchtlingen aus Frankreich eingehandelt hatten, denen man
sie nach Beendigung ihrer Quarantäne an der französischen Grenze nicht ab¬
genommen hatte. Dieser groben Nachlässigkeit gegenüber machte es denn einen
geradezu lächerlichen Eindruck, daß Spezia durch einen Truppenkordon einge-
schlossen wurde. Sind schon die Quarantänen zu Lande deshalb illusorisch,
weil Leute, welche die Quarantäne eben antreten, mit andern zusammenleben,
welche sie zu beenden im Begriffe sind und so eine gegenseitige Übertragung
etwaigen Ansteckungsstoffes stattfinden kann, so ist ein Truppeukordon der
Gipfel der Unbesonnenheit, weil seine Herstellung mehr Zeit erfordert als nötig
ist, um den infizirten Ort in aller Ruhe zu verlassen. Und so kam es auch:
wer irgend in der Lage war, aus Spezia fortzugehen, reiste ab und übertrug
die eventuell in ihm vorhandenen Krankheitskeime in andre Ortschaften, das
Militär aber langte -- wie es nicht anders konnte -- erst dann an, als nie¬
mand mehr in Spezia war, der die Absicht gehabt hatte, die Stadt zu ver¬
lassen.

Freilich ist dies nur eine Seite der Sache. Die Landquarantäne gegen
das Ausland sollte sür das Kabinet zur Erreichung mehrerer Zwecke dienlich
sein. Erstens trug sie -- und darin offenbarte sich wieder die Schwäche der
Regierung -- der durch die Opposition in Szene gesetzten allgemeinen Furcht
Rechnung und beraubte die parlamentarischen Gegner für die nächste Session
einer günstigen Angriffsstellung. Zweitens wollte das Kabinet der schweize¬
rischen Regierung die Weigerung des Bundesrates, etwas gegen den großartigen
Schmuggel zu thun, der aus der Schweiz nach Italien getrieben wird, durch


Italienische Zustände.

Österreich angeordnete Landquarantäne brachte es mit sich, daß kein italienischer
Staatsangehöriger sich länger als 24 Stunden im Auslande aufhalten durfte,
wenn er nicht nach seiner Rückkehr ins Lazaret gehen wollte. In Arsiero in
den venezianischen Alpen wurde mir mitgeteilt, wie man die Sache umging. Der
aus Italien Hinausgehende bekam eine Bescheinigung seines Bürgermeisters, daß
er an dem und dem Tage, zu der und der Stunde abgereist sei; wollte er nun
länger als vierundzwanzig Stunden jenseits der Grenze bleiben, so schrieb er
an einen Freund; dieser ließ sich sür seine eigne Person ein Zertifikat für den
Tag geben, an welchem der Reisende zurückkehren wollte, und schickte es ihm.
Da nun die Truppen, welche den Grenzkordon bildeten, nicht angewiesen waren,
die Persönlichkeit der in Frage kommenden festzustellen, so sand fortwährend
ein durch die Post vermittelter, ebenso lebhafter als unbehinderter Grenz¬
verkehr statt.

Man kann ferner geradezu behaupten, daß die Krankheit eigentlich durch
die sanitären Maßregeln der Regierung im Lande verbreitet worden ist. Als
der Ausbruch in Spezia erfolgte, half die Erwägung freilich nichts mehr, daß
er hauptsächlich darauf zurückzuführen war, daß die Regierung zu schwach ge¬
wesen, den Verkauf der Lumpen zu verhindern, welche die Lumpenhändler in
Spezia von den Flüchtlingen aus Frankreich eingehandelt hatten, denen man
sie nach Beendigung ihrer Quarantäne an der französischen Grenze nicht ab¬
genommen hatte. Dieser groben Nachlässigkeit gegenüber machte es denn einen
geradezu lächerlichen Eindruck, daß Spezia durch einen Truppenkordon einge-
schlossen wurde. Sind schon die Quarantänen zu Lande deshalb illusorisch,
weil Leute, welche die Quarantäne eben antreten, mit andern zusammenleben,
welche sie zu beenden im Begriffe sind und so eine gegenseitige Übertragung
etwaigen Ansteckungsstoffes stattfinden kann, so ist ein Truppeukordon der
Gipfel der Unbesonnenheit, weil seine Herstellung mehr Zeit erfordert als nötig
ist, um den infizirten Ort in aller Ruhe zu verlassen. Und so kam es auch:
wer irgend in der Lage war, aus Spezia fortzugehen, reiste ab und übertrug
die eventuell in ihm vorhandenen Krankheitskeime in andre Ortschaften, das
Militär aber langte — wie es nicht anders konnte — erst dann an, als nie¬
mand mehr in Spezia war, der die Absicht gehabt hatte, die Stadt zu ver¬
lassen.

Freilich ist dies nur eine Seite der Sache. Die Landquarantäne gegen
das Ausland sollte sür das Kabinet zur Erreichung mehrerer Zwecke dienlich
sein. Erstens trug sie — und darin offenbarte sich wieder die Schwäche der
Regierung — der durch die Opposition in Szene gesetzten allgemeinen Furcht
Rechnung und beraubte die parlamentarischen Gegner für die nächste Session
einer günstigen Angriffsstellung. Zweitens wollte das Kabinet der schweize¬
rischen Regierung die Weigerung des Bundesrates, etwas gegen den großartigen
Schmuggel zu thun, der aus der Schweiz nach Italien getrieben wird, durch


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[0415] Italienische Zustände. Österreich angeordnete Landquarantäne brachte es mit sich, daß kein italienischer Staatsangehöriger sich länger als 24 Stunden im Auslande aufhalten durfte, wenn er nicht nach seiner Rückkehr ins Lazaret gehen wollte. In Arsiero in den venezianischen Alpen wurde mir mitgeteilt, wie man die Sache umging. Der aus Italien Hinausgehende bekam eine Bescheinigung seines Bürgermeisters, daß er an dem und dem Tage, zu der und der Stunde abgereist sei; wollte er nun länger als vierundzwanzig Stunden jenseits der Grenze bleiben, so schrieb er an einen Freund; dieser ließ sich sür seine eigne Person ein Zertifikat für den Tag geben, an welchem der Reisende zurückkehren wollte, und schickte es ihm. Da nun die Truppen, welche den Grenzkordon bildeten, nicht angewiesen waren, die Persönlichkeit der in Frage kommenden festzustellen, so sand fortwährend ein durch die Post vermittelter, ebenso lebhafter als unbehinderter Grenz¬ verkehr statt. Man kann ferner geradezu behaupten, daß die Krankheit eigentlich durch die sanitären Maßregeln der Regierung im Lande verbreitet worden ist. Als der Ausbruch in Spezia erfolgte, half die Erwägung freilich nichts mehr, daß er hauptsächlich darauf zurückzuführen war, daß die Regierung zu schwach ge¬ wesen, den Verkauf der Lumpen zu verhindern, welche die Lumpenhändler in Spezia von den Flüchtlingen aus Frankreich eingehandelt hatten, denen man sie nach Beendigung ihrer Quarantäne an der französischen Grenze nicht ab¬ genommen hatte. Dieser groben Nachlässigkeit gegenüber machte es denn einen geradezu lächerlichen Eindruck, daß Spezia durch einen Truppenkordon einge- schlossen wurde. Sind schon die Quarantänen zu Lande deshalb illusorisch, weil Leute, welche die Quarantäne eben antreten, mit andern zusammenleben, welche sie zu beenden im Begriffe sind und so eine gegenseitige Übertragung etwaigen Ansteckungsstoffes stattfinden kann, so ist ein Truppeukordon der Gipfel der Unbesonnenheit, weil seine Herstellung mehr Zeit erfordert als nötig ist, um den infizirten Ort in aller Ruhe zu verlassen. Und so kam es auch: wer irgend in der Lage war, aus Spezia fortzugehen, reiste ab und übertrug die eventuell in ihm vorhandenen Krankheitskeime in andre Ortschaften, das Militär aber langte — wie es nicht anders konnte — erst dann an, als nie¬ mand mehr in Spezia war, der die Absicht gehabt hatte, die Stadt zu ver¬ lassen. Freilich ist dies nur eine Seite der Sache. Die Landquarantäne gegen das Ausland sollte sür das Kabinet zur Erreichung mehrerer Zwecke dienlich sein. Erstens trug sie — und darin offenbarte sich wieder die Schwäche der Regierung — der durch die Opposition in Szene gesetzten allgemeinen Furcht Rechnung und beraubte die parlamentarischen Gegner für die nächste Session einer günstigen Angriffsstellung. Zweitens wollte das Kabinet der schweize¬ rischen Regierung die Weigerung des Bundesrates, etwas gegen den großartigen Schmuggel zu thun, der aus der Schweiz nach Italien getrieben wird, durch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/415>, abgerufen am 29.12.2024.