Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.Ein Tehrbuch der Demagogie. seiner Sphäre kenne, wisse, daß wir noch keine Physiologie der Völker besitzen "Unsre Vorgänger aus dem Jahre 1789 würden der Mehrzahl nach die Ein Tehrbuch der Demagogie. seiner Sphäre kenne, wisse, daß wir noch keine Physiologie der Völker besitzen „Unsre Vorgänger aus dem Jahre 1789 würden der Mehrzahl nach die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0406" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/157331"/> <fw type="header" place="top"> Ein Tehrbuch der Demagogie.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1401" prev="#ID_1400"> seiner Sphäre kenne, wisse, daß wir noch keine Physiologie der Völker besitzen<lb/> und daß die menschliche Freiheit Verwirrung und Unsicherheit in das Studium<lb/> der Politik bringt, Halbgelehrte dagegen über jede Schwierigkeit unbefangen hin¬<lb/> weggehen mit einem „Es ist dargethan, es ist anerkannt, die moderne Wissen¬<lb/> schaft hat bewiesen," und daß die offenkundigste» Nichtswisser begeisterte An¬<lb/> hänger solcher Wissenschaft werden, „Unfähig, das, was mau ihnen als<lb/> sicher aufbindet, zu berichtigen oder zu bestreiten, nehmen sie es für<lb/> baare Münze: auf diese Weise verschaffen sie sich gleichzeitig die Befrie¬<lb/> digung der Überzeugung und die des Wissens; . , , halten sie, dank ihrer Ge¬<lb/> lehrtheit, Vorurteile für Grundsätze, Voraussetzungen für Thatsachen, Redens¬<lb/> arten für Beweise, einen unverständlichen Schwall von Worten für eine logische<lb/> Folgerung und Träumereien für Ornlelsprüche." Es wäre nnr noch hinzu¬<lb/> zufügen, daß diese Art von Nichtswissern — die im übrigen ganz gebildete<lb/> Leute sein können — jede wirkliche Belehrung hartnäckig von sich abwehren. Ver¬<lb/> sucht es, sie durch den authentischen Text eines Gesetzes, eines diplomatischen<lb/> Aktenstückes, durch ein historisches Quellenwerk, durch eine Spezialkarte zu über¬<lb/> führen, daß sie auf eine irrige Voraussetzung doppelt irrige Schlüsse gebaut<lb/> haben: sie werden es verschmähen, in solche Details einzugehen, sie bedürfen<lb/> keiner Aufklärung, denn sie wissen ihre Sache ganz gewiß — aus der Zeitung<lb/> oder von einem Parteifreunde! — „Es würde keine Parteiungen mehr geben,<lb/> wenn jeder Bürger die Sache, die er liebt und der er dient, aus dem Grunde<lb/> kennen müßte," schließt Frary diese Betrachtung. Jawohl, aber was sollte dann<lb/> aus den Wohlthätern werden, welche eben darum, weil sie nichts aus dem<lb/> Grunde kennen, alles verstehen?</p><lb/> <p xml:id="ID_1402"> „Unsre Vorgänger aus dem Jahre 1789 würden der Mehrzahl nach die<lb/> Revolution für beendet halten, wenn sie uns im Besitz aller jener so lange be-<lb/> strittenen Vorteile sähen. Sie würden meinen, daß die Periode der großen<lb/> Umwälzungen abgeschlossen sei, und daß es fürderhin bei allmählichen Reformen<lb/> und vorsichtigem Fortschritt sein Bewenden haben müsse." Vor dieser Ansicht<lb/> soll der angehende Demagog sich hüten, da er in einem Volke, dessen Gelüste<lb/> nicht weitergehen, eine zu bescheidne Rolle spielen würde. Der bestehenden<lb/> Republik müsse er die Forderung der „wahren Republik" entgegensetzen, mit<lb/> dem Vorbehalt, daß die wahre Republik nicht in Erscheinung treten werde, so<lb/> lange der Ehrgeiz des Demagogen noch nicht befriedigt sei. Und bei uns?<lb/> Würden die Männer, welche dereinst den Gedanken an Kaiser und Reich in der<lb/> Nation lebendig erhielten, dafür büßen mußten oder mit unerfüllten Sehnen<lb/> in die Grube faulen — würden sie nicht ihre kühnsten Träume überboten sehen?<lb/> Würden sie nicht meinen, daß nun die Zeit für den ruhigen, wohlüberlegten<lb/> inneren Ausbau gekommen sei? Aber dergleichen ist keine Beschäftigung für Dema¬<lb/> gogen, deshalb muß der zufriedne Deutsche zur Unzufriedenheit gestachelt werden<lb/> dnrch das Phantom des wahren Konstitutionalismus, des Parlamentarismus!</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0406]
Ein Tehrbuch der Demagogie.
seiner Sphäre kenne, wisse, daß wir noch keine Physiologie der Völker besitzen
und daß die menschliche Freiheit Verwirrung und Unsicherheit in das Studium
der Politik bringt, Halbgelehrte dagegen über jede Schwierigkeit unbefangen hin¬
weggehen mit einem „Es ist dargethan, es ist anerkannt, die moderne Wissen¬
schaft hat bewiesen," und daß die offenkundigste» Nichtswisser begeisterte An¬
hänger solcher Wissenschaft werden, „Unfähig, das, was mau ihnen als
sicher aufbindet, zu berichtigen oder zu bestreiten, nehmen sie es für
baare Münze: auf diese Weise verschaffen sie sich gleichzeitig die Befrie¬
digung der Überzeugung und die des Wissens; . , , halten sie, dank ihrer Ge¬
lehrtheit, Vorurteile für Grundsätze, Voraussetzungen für Thatsachen, Redens¬
arten für Beweise, einen unverständlichen Schwall von Worten für eine logische
Folgerung und Träumereien für Ornlelsprüche." Es wäre nnr noch hinzu¬
zufügen, daß diese Art von Nichtswissern — die im übrigen ganz gebildete
Leute sein können — jede wirkliche Belehrung hartnäckig von sich abwehren. Ver¬
sucht es, sie durch den authentischen Text eines Gesetzes, eines diplomatischen
Aktenstückes, durch ein historisches Quellenwerk, durch eine Spezialkarte zu über¬
führen, daß sie auf eine irrige Voraussetzung doppelt irrige Schlüsse gebaut
haben: sie werden es verschmähen, in solche Details einzugehen, sie bedürfen
keiner Aufklärung, denn sie wissen ihre Sache ganz gewiß — aus der Zeitung
oder von einem Parteifreunde! — „Es würde keine Parteiungen mehr geben,
wenn jeder Bürger die Sache, die er liebt und der er dient, aus dem Grunde
kennen müßte," schließt Frary diese Betrachtung. Jawohl, aber was sollte dann
aus den Wohlthätern werden, welche eben darum, weil sie nichts aus dem
Grunde kennen, alles verstehen?
„Unsre Vorgänger aus dem Jahre 1789 würden der Mehrzahl nach die
Revolution für beendet halten, wenn sie uns im Besitz aller jener so lange be-
strittenen Vorteile sähen. Sie würden meinen, daß die Periode der großen
Umwälzungen abgeschlossen sei, und daß es fürderhin bei allmählichen Reformen
und vorsichtigem Fortschritt sein Bewenden haben müsse." Vor dieser Ansicht
soll der angehende Demagog sich hüten, da er in einem Volke, dessen Gelüste
nicht weitergehen, eine zu bescheidne Rolle spielen würde. Der bestehenden
Republik müsse er die Forderung der „wahren Republik" entgegensetzen, mit
dem Vorbehalt, daß die wahre Republik nicht in Erscheinung treten werde, so
lange der Ehrgeiz des Demagogen noch nicht befriedigt sei. Und bei uns?
Würden die Männer, welche dereinst den Gedanken an Kaiser und Reich in der
Nation lebendig erhielten, dafür büßen mußten oder mit unerfüllten Sehnen
in die Grube faulen — würden sie nicht ihre kühnsten Träume überboten sehen?
Würden sie nicht meinen, daß nun die Zeit für den ruhigen, wohlüberlegten
inneren Ausbau gekommen sei? Aber dergleichen ist keine Beschäftigung für Dema¬
gogen, deshalb muß der zufriedne Deutsche zur Unzufriedenheit gestachelt werden
dnrch das Phantom des wahren Konstitutionalismus, des Parlamentarismus!
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