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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Gin Lehrbuch der Demagogie.

Entschiedenheit der Sprache und Neuheit der Argumente zu überbieten, wobei
es weder auf die Stichhaltigkeit der Argumente noch auch darauf ankomme, ob
eigne oder fremde Ideen vorgetragen werden; durch Lobsprüche auf das Land,
von denen jeder Zuhörer wenigstens einen Teil auf sich persönlich beziehen kann;
durch Weihräuchern vor den politischen Überzeugungen der Menge (in Frank¬
reich sehr vereinfacht durch die revolutionäre Tradition, wobei darauf zu achten
ist, daß die Hörer sich des Ruhmes der Revolution teilhaftig fühlen, nicht aber
verantwortlich für die folgenden Reaktionsperioden); dnrch das Hätscheln von
Vorurteilen und Einbildungen der Menge, die man nicht belehren wollen darf,
sondern als den Inbegriff des Unterrichtetseins und als die verkörperte Unfehl¬
barkeit behandeln muß; dadurch, daß man den Hörer zufrieden mit sich selbst
und unzufrieden mit den Gesetzen entläßt; durch Schilderung einer Zukunft,
von welcher ein jeder die Befriedigung seiner besondern Wünsche und Träume
erhoffen darf, weshalb die Schilderung sich in allgemeinen Zügen halten und
den Pedner zu nichts verpflichten muß (denn dieser hat sich bei Verheißungen,
Anfachen der Begierde und andrer Leidenschaften immer gegenwärtig zu halten,
daß er einmal beim Worte genommen werden könnte: "Sobald man, wie etwa
die Journalisten und die Wahlkandidaten, unverantwortlich ist, dann kann man
dem Haß die Zügel schießen lassen, hat man aber einmal Anteil an der Staats¬
gewalt, dann muß man vorsichtig sein und wissen, wie weit man gehen darf");
u, s. w, u. s. w. Denn wir sehen ein, daß selbst eine Fortsetzung dieser dürftigen
Inhaltsangabe viel Raum beanspruchen würde. Deshalb mögen lieber noch
einige Zitate hier Platz finden, welche manchem Leser vielleicht den bescheidenen
Trost gewähren, daß auch Frankreich am Fortschritt leidet, während dieser und
jener in Herrn Frary einen Pasqnillcmten entdecken dürfte, der sich ganz unbe¬
fugter Weise in freisinnige Angelegenheiten mische. Man braucht nur gelegentlich
anstatt Republik -- konstitutionelle Monarchie, statt Revolution -- 1848 zu
setzen, und die Bemerkungen und Ratschläge würden in das Album eines jungen
Strebers passen, welcher in Berlin als Zeitungsschreiber oder Klubredner sich
in das politische Leben einzuführen gedenkt.

"Wäre es möglich, auf den Händen einherzugehen, dann könnte man eine
Menge von Leuten dazu durch den einzigen Grund bestimmen, daß überall, wo
es einen König giebt, dessen Unterthanen sich der Beine bedienen, und daß vor
der Erstürmung der Bastille die Beine das gebräuchlichste Mittel zur Fort¬
bewegung gewesen sind." Trifft das nicht in hundert und tausend Fällen zu?
Der seinerzeit sehr bekannte und sehr einflußreiche "Demokrat" Held ließ ein¬
mal, und nicht etwa in ironischer Absicht, drucken, der freie Mann könne sein
Hemd wechseln an jedem beliebigen Tage mit Ausnahme des Sonntags, weil
den letztern Tag der Philister dafür ausersehen habe.

An einer andern Stelle wird ausgeführt, daß der wirkliche Gelehrte vor¬
sichtig und bescheiden in der Politik aufzutreten Pflege, weil er die Grenzen


Gin Lehrbuch der Demagogie.

Entschiedenheit der Sprache und Neuheit der Argumente zu überbieten, wobei
es weder auf die Stichhaltigkeit der Argumente noch auch darauf ankomme, ob
eigne oder fremde Ideen vorgetragen werden; durch Lobsprüche auf das Land,
von denen jeder Zuhörer wenigstens einen Teil auf sich persönlich beziehen kann;
durch Weihräuchern vor den politischen Überzeugungen der Menge (in Frank¬
reich sehr vereinfacht durch die revolutionäre Tradition, wobei darauf zu achten
ist, daß die Hörer sich des Ruhmes der Revolution teilhaftig fühlen, nicht aber
verantwortlich für die folgenden Reaktionsperioden); dnrch das Hätscheln von
Vorurteilen und Einbildungen der Menge, die man nicht belehren wollen darf,
sondern als den Inbegriff des Unterrichtetseins und als die verkörperte Unfehl¬
barkeit behandeln muß; dadurch, daß man den Hörer zufrieden mit sich selbst
und unzufrieden mit den Gesetzen entläßt; durch Schilderung einer Zukunft,
von welcher ein jeder die Befriedigung seiner besondern Wünsche und Träume
erhoffen darf, weshalb die Schilderung sich in allgemeinen Zügen halten und
den Pedner zu nichts verpflichten muß (denn dieser hat sich bei Verheißungen,
Anfachen der Begierde und andrer Leidenschaften immer gegenwärtig zu halten,
daß er einmal beim Worte genommen werden könnte: „Sobald man, wie etwa
die Journalisten und die Wahlkandidaten, unverantwortlich ist, dann kann man
dem Haß die Zügel schießen lassen, hat man aber einmal Anteil an der Staats¬
gewalt, dann muß man vorsichtig sein und wissen, wie weit man gehen darf");
u, s. w, u. s. w. Denn wir sehen ein, daß selbst eine Fortsetzung dieser dürftigen
Inhaltsangabe viel Raum beanspruchen würde. Deshalb mögen lieber noch
einige Zitate hier Platz finden, welche manchem Leser vielleicht den bescheidenen
Trost gewähren, daß auch Frankreich am Fortschritt leidet, während dieser und
jener in Herrn Frary einen Pasqnillcmten entdecken dürfte, der sich ganz unbe¬
fugter Weise in freisinnige Angelegenheiten mische. Man braucht nur gelegentlich
anstatt Republik — konstitutionelle Monarchie, statt Revolution — 1848 zu
setzen, und die Bemerkungen und Ratschläge würden in das Album eines jungen
Strebers passen, welcher in Berlin als Zeitungsschreiber oder Klubredner sich
in das politische Leben einzuführen gedenkt.

„Wäre es möglich, auf den Händen einherzugehen, dann könnte man eine
Menge von Leuten dazu durch den einzigen Grund bestimmen, daß überall, wo
es einen König giebt, dessen Unterthanen sich der Beine bedienen, und daß vor
der Erstürmung der Bastille die Beine das gebräuchlichste Mittel zur Fort¬
bewegung gewesen sind." Trifft das nicht in hundert und tausend Fällen zu?
Der seinerzeit sehr bekannte und sehr einflußreiche „Demokrat" Held ließ ein¬
mal, und nicht etwa in ironischer Absicht, drucken, der freie Mann könne sein
Hemd wechseln an jedem beliebigen Tage mit Ausnahme des Sonntags, weil
den letztern Tag der Philister dafür ausersehen habe.

An einer andern Stelle wird ausgeführt, daß der wirkliche Gelehrte vor¬
sichtig und bescheiden in der Politik aufzutreten Pflege, weil er die Grenzen


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[0405] Gin Lehrbuch der Demagogie. Entschiedenheit der Sprache und Neuheit der Argumente zu überbieten, wobei es weder auf die Stichhaltigkeit der Argumente noch auch darauf ankomme, ob eigne oder fremde Ideen vorgetragen werden; durch Lobsprüche auf das Land, von denen jeder Zuhörer wenigstens einen Teil auf sich persönlich beziehen kann; durch Weihräuchern vor den politischen Überzeugungen der Menge (in Frank¬ reich sehr vereinfacht durch die revolutionäre Tradition, wobei darauf zu achten ist, daß die Hörer sich des Ruhmes der Revolution teilhaftig fühlen, nicht aber verantwortlich für die folgenden Reaktionsperioden); dnrch das Hätscheln von Vorurteilen und Einbildungen der Menge, die man nicht belehren wollen darf, sondern als den Inbegriff des Unterrichtetseins und als die verkörperte Unfehl¬ barkeit behandeln muß; dadurch, daß man den Hörer zufrieden mit sich selbst und unzufrieden mit den Gesetzen entläßt; durch Schilderung einer Zukunft, von welcher ein jeder die Befriedigung seiner besondern Wünsche und Träume erhoffen darf, weshalb die Schilderung sich in allgemeinen Zügen halten und den Pedner zu nichts verpflichten muß (denn dieser hat sich bei Verheißungen, Anfachen der Begierde und andrer Leidenschaften immer gegenwärtig zu halten, daß er einmal beim Worte genommen werden könnte: „Sobald man, wie etwa die Journalisten und die Wahlkandidaten, unverantwortlich ist, dann kann man dem Haß die Zügel schießen lassen, hat man aber einmal Anteil an der Staats¬ gewalt, dann muß man vorsichtig sein und wissen, wie weit man gehen darf"); u, s. w, u. s. w. Denn wir sehen ein, daß selbst eine Fortsetzung dieser dürftigen Inhaltsangabe viel Raum beanspruchen würde. Deshalb mögen lieber noch einige Zitate hier Platz finden, welche manchem Leser vielleicht den bescheidenen Trost gewähren, daß auch Frankreich am Fortschritt leidet, während dieser und jener in Herrn Frary einen Pasqnillcmten entdecken dürfte, der sich ganz unbe¬ fugter Weise in freisinnige Angelegenheiten mische. Man braucht nur gelegentlich anstatt Republik — konstitutionelle Monarchie, statt Revolution — 1848 zu setzen, und die Bemerkungen und Ratschläge würden in das Album eines jungen Strebers passen, welcher in Berlin als Zeitungsschreiber oder Klubredner sich in das politische Leben einzuführen gedenkt. „Wäre es möglich, auf den Händen einherzugehen, dann könnte man eine Menge von Leuten dazu durch den einzigen Grund bestimmen, daß überall, wo es einen König giebt, dessen Unterthanen sich der Beine bedienen, und daß vor der Erstürmung der Bastille die Beine das gebräuchlichste Mittel zur Fort¬ bewegung gewesen sind." Trifft das nicht in hundert und tausend Fällen zu? Der seinerzeit sehr bekannte und sehr einflußreiche „Demokrat" Held ließ ein¬ mal, und nicht etwa in ironischer Absicht, drucken, der freie Mann könne sein Hemd wechseln an jedem beliebigen Tage mit Ausnahme des Sonntags, weil den letztern Tag der Philister dafür ausersehen habe. An einer andern Stelle wird ausgeführt, daß der wirkliche Gelehrte vor¬ sichtig und bescheiden in der Politik aufzutreten Pflege, weil er die Grenzen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/405>, abgerufen am 29.12.2024.