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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Ein Lehrbuch der Demagogie.

"Seine Partei zersplittern, d. h. die Führer tadeln und einer Strömung
entgegenarbeiten, die man für verderblich hält, ist ein Verbrechen, auf das der
Strang steht. Es giebt Fälle, daß Äußerungen von Vernunft und Vorbedacht
als gleichbedeutend mit Desertion ohne Milderuugsgrund gelten." Der Verfasser
hat augenscheinlich Richtersche Tagesbefehle gelesen.

"Man zankt sich lieber um das Recht, als daß man das Nützliche er¬
örterte; man bespricht die Wurzeln der Regierungsformen viel ausgiebiger als
deren Früchte. . . . Anstatt Genossenschaften zu gleichen, die über gemeinsame
Interessen mit Wärme beraten, gleichen wir verschiednen Völkerschaften, die durch
die Macht der Verhältnisse in demselben Lande zusammengewürfelt worden sind
und die einander auszuschließen, zu vertreiben und zu vertilgen streben." Und
über diejenigen, welche noch an die Möglichkeit eines friedlichen Zusammen¬
tu ohnens und Zusammenwirkens glauben und dafür eintreten, fallen mit doppelter
Wut alle Äußersten her!

In dem Kapitel "Neid" wird Frary ganz besonders anzüglich. "Ziffern
sind nicht zu verachten, sie verleihen dem hohlsten Redeschwall einen Anschein
von Tiefe und Gründlichkeit." Sollte sich darauf nicht eine Injurienklage
gründen lassen? Doch nein, er hätte noch hinzufügen müssen, daß die Ziffern
auch falsch sein dürfen, weil im Moment niemand nachrechnet.

"Wenn Sie die unverzügliche Abschaffung der stehenden Heere nicht direkt
in Anwendung bringen wollten, müsse" Sie solche wenigstens in Aussicht stellen____
Wenn erst die Sonne des Volksherrschertnms über die ganze Welt hin leuchten
wird, dann werden die Kanonen durch die Brüderlichkeit vernagelt, die jungen
Leute dem Pflug und der Werkstätte zurückgegeben werden." Diese Franzosen
stehen doch nicht auf der Höhe, nicht wahr, Herr Virchow? Umgekehrt wird
ein Schuh daraus, zuerst muß entwaffnet werde", damit die Volksherrschaft sich
ungestört ausbreiten könne. Und durch einen Mißerfolg darf man sich nicht
irremachen lassen, denn während in jedem andern Lebe"sverhält"löse ein Ver¬
sehen, eine falsche Berechnung u. s. w. den Kredit erschüttert, "wachsen in der
Politik die Advokaten mit ihren verunglückten Verteidigungen."

"Von Haus aus ist das Volk zweifellos vernünftig. Der beste Beweis dafür
ist die Mühe, die man sich geben muß, bis man es dahin bringt, den Kopf zu ver¬
lieren. Selbst mit Hilfe der Presse, die fortwährend am Werke ist, würde das den
Kandidaten nicht gelingen, wenn ihnen die Komitees nicht zur Seite stünden....
Diese Institution, die zwar vom Gesetze nicht vorgesehen, durch den Brauch
aber uumer mächtiger wird, ist für das Demagogentum unentbehrlich. Sie
spielt bei den Wahlen dieselbe Rolle wie die Brüderschaften bei den religiösen
Sekten. Sie entflammt die Begeisterung, reißt die Menge mit sich fort und
verzehnfacht die Energie der Leidenschaften. Jene Freiwilligen der Politik, die
dem allgemeinen Stimmrecht entstammen, setzen sich an dessen Stelle, machen
ihm weiß, daß ihr Wille der seinige sei, und veranlassen es, sich ihren Ehrgeiz,


Ein Lehrbuch der Demagogie.

„Seine Partei zersplittern, d. h. die Führer tadeln und einer Strömung
entgegenarbeiten, die man für verderblich hält, ist ein Verbrechen, auf das der
Strang steht. Es giebt Fälle, daß Äußerungen von Vernunft und Vorbedacht
als gleichbedeutend mit Desertion ohne Milderuugsgrund gelten." Der Verfasser
hat augenscheinlich Richtersche Tagesbefehle gelesen.

„Man zankt sich lieber um das Recht, als daß man das Nützliche er¬
örterte; man bespricht die Wurzeln der Regierungsformen viel ausgiebiger als
deren Früchte. . . . Anstatt Genossenschaften zu gleichen, die über gemeinsame
Interessen mit Wärme beraten, gleichen wir verschiednen Völkerschaften, die durch
die Macht der Verhältnisse in demselben Lande zusammengewürfelt worden sind
und die einander auszuschließen, zu vertreiben und zu vertilgen streben." Und
über diejenigen, welche noch an die Möglichkeit eines friedlichen Zusammen¬
tu ohnens und Zusammenwirkens glauben und dafür eintreten, fallen mit doppelter
Wut alle Äußersten her!

In dem Kapitel „Neid" wird Frary ganz besonders anzüglich. „Ziffern
sind nicht zu verachten, sie verleihen dem hohlsten Redeschwall einen Anschein
von Tiefe und Gründlichkeit." Sollte sich darauf nicht eine Injurienklage
gründen lassen? Doch nein, er hätte noch hinzufügen müssen, daß die Ziffern
auch falsch sein dürfen, weil im Moment niemand nachrechnet.

„Wenn Sie die unverzügliche Abschaffung der stehenden Heere nicht direkt
in Anwendung bringen wollten, müsse» Sie solche wenigstens in Aussicht stellen____
Wenn erst die Sonne des Volksherrschertnms über die ganze Welt hin leuchten
wird, dann werden die Kanonen durch die Brüderlichkeit vernagelt, die jungen
Leute dem Pflug und der Werkstätte zurückgegeben werden." Diese Franzosen
stehen doch nicht auf der Höhe, nicht wahr, Herr Virchow? Umgekehrt wird
ein Schuh daraus, zuerst muß entwaffnet werde», damit die Volksherrschaft sich
ungestört ausbreiten könne. Und durch einen Mißerfolg darf man sich nicht
irremachen lassen, denn während in jedem andern Lebe»sverhält»löse ein Ver¬
sehen, eine falsche Berechnung u. s. w. den Kredit erschüttert, „wachsen in der
Politik die Advokaten mit ihren verunglückten Verteidigungen."

„Von Haus aus ist das Volk zweifellos vernünftig. Der beste Beweis dafür
ist die Mühe, die man sich geben muß, bis man es dahin bringt, den Kopf zu ver¬
lieren. Selbst mit Hilfe der Presse, die fortwährend am Werke ist, würde das den
Kandidaten nicht gelingen, wenn ihnen die Komitees nicht zur Seite stünden....
Diese Institution, die zwar vom Gesetze nicht vorgesehen, durch den Brauch
aber uumer mächtiger wird, ist für das Demagogentum unentbehrlich. Sie
spielt bei den Wahlen dieselbe Rolle wie die Brüderschaften bei den religiösen
Sekten. Sie entflammt die Begeisterung, reißt die Menge mit sich fort und
verzehnfacht die Energie der Leidenschaften. Jene Freiwilligen der Politik, die
dem allgemeinen Stimmrecht entstammen, setzen sich an dessen Stelle, machen
ihm weiß, daß ihr Wille der seinige sei, und veranlassen es, sich ihren Ehrgeiz,


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[0407] Ein Lehrbuch der Demagogie. „Seine Partei zersplittern, d. h. die Führer tadeln und einer Strömung entgegenarbeiten, die man für verderblich hält, ist ein Verbrechen, auf das der Strang steht. Es giebt Fälle, daß Äußerungen von Vernunft und Vorbedacht als gleichbedeutend mit Desertion ohne Milderuugsgrund gelten." Der Verfasser hat augenscheinlich Richtersche Tagesbefehle gelesen. „Man zankt sich lieber um das Recht, als daß man das Nützliche er¬ örterte; man bespricht die Wurzeln der Regierungsformen viel ausgiebiger als deren Früchte. . . . Anstatt Genossenschaften zu gleichen, die über gemeinsame Interessen mit Wärme beraten, gleichen wir verschiednen Völkerschaften, die durch die Macht der Verhältnisse in demselben Lande zusammengewürfelt worden sind und die einander auszuschließen, zu vertreiben und zu vertilgen streben." Und über diejenigen, welche noch an die Möglichkeit eines friedlichen Zusammen¬ tu ohnens und Zusammenwirkens glauben und dafür eintreten, fallen mit doppelter Wut alle Äußersten her! In dem Kapitel „Neid" wird Frary ganz besonders anzüglich. „Ziffern sind nicht zu verachten, sie verleihen dem hohlsten Redeschwall einen Anschein von Tiefe und Gründlichkeit." Sollte sich darauf nicht eine Injurienklage gründen lassen? Doch nein, er hätte noch hinzufügen müssen, daß die Ziffern auch falsch sein dürfen, weil im Moment niemand nachrechnet. „Wenn Sie die unverzügliche Abschaffung der stehenden Heere nicht direkt in Anwendung bringen wollten, müsse» Sie solche wenigstens in Aussicht stellen____ Wenn erst die Sonne des Volksherrschertnms über die ganze Welt hin leuchten wird, dann werden die Kanonen durch die Brüderlichkeit vernagelt, die jungen Leute dem Pflug und der Werkstätte zurückgegeben werden." Diese Franzosen stehen doch nicht auf der Höhe, nicht wahr, Herr Virchow? Umgekehrt wird ein Schuh daraus, zuerst muß entwaffnet werde», damit die Volksherrschaft sich ungestört ausbreiten könne. Und durch einen Mißerfolg darf man sich nicht irremachen lassen, denn während in jedem andern Lebe»sverhält»löse ein Ver¬ sehen, eine falsche Berechnung u. s. w. den Kredit erschüttert, „wachsen in der Politik die Advokaten mit ihren verunglückten Verteidigungen." „Von Haus aus ist das Volk zweifellos vernünftig. Der beste Beweis dafür ist die Mühe, die man sich geben muß, bis man es dahin bringt, den Kopf zu ver¬ lieren. Selbst mit Hilfe der Presse, die fortwährend am Werke ist, würde das den Kandidaten nicht gelingen, wenn ihnen die Komitees nicht zur Seite stünden.... Diese Institution, die zwar vom Gesetze nicht vorgesehen, durch den Brauch aber uumer mächtiger wird, ist für das Demagogentum unentbehrlich. Sie spielt bei den Wahlen dieselbe Rolle wie die Brüderschaften bei den religiösen Sekten. Sie entflammt die Begeisterung, reißt die Menge mit sich fort und verzehnfacht die Energie der Leidenschaften. Jene Freiwilligen der Politik, die dem allgemeinen Stimmrecht entstammen, setzen sich an dessen Stelle, machen ihm weiß, daß ihr Wille der seinige sei, und veranlassen es, sich ihren Ehrgeiz,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/407>, abgerufen am 29.12.2024.