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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Ein Lehrbuch der Demagogie.

nichts Dauerndes zu schaffen vermochten, für Mustergeschgeber gelten, bald
meinen sie, daß es hinreiche, jenen einige Redensarten zu entlehnen, um sich
das Geheimnis ihrer übermenschlichen Kraft anzueignen." Er meint, die Männer
des Konvents müßten, wenn sie das Getriebe dieser Welt noch mit ansehen
könnten, ihre Nachahmer belachen: welcher Art würde jedoch das Gefühl sein,
welches der Anblick der deutschen Nachahmer ihrer Nachahmer in ihnen hervor¬
riefe? "Heute ist das Werk vollbracht. Die Bücher, die Reden und die Tages¬
presse haben die öffentliche Meinung in den revolutionärem Glauben aufgehen
lassen; der Konvent ist zum Konzil geworden: seine großen Männer sind Priester
und Propheten, die der Jugend als Vorbilder hingestellt werden. ... Die
Souveränetät des Volkes wird kaum noch bestritten. Man läßt es aber nicht
mehr bei der Behauptung bewenden, das Volk sei die höchste Instanz, der
Majoritätswille sei das Gesetz. Gleich den Königen und Päpsten hat das
Volk Höflinge, die ihm begreiflich machen, daß die Souveränetät nichts zu be¬
deuten habe, sofern sie nicht die Unfehlbarkeit mit in sich schließe. Weil auf
die Entscheidungen des Volkes hin nur an dieses selbst appellirt werden kann,
so folgern die Höflinge, dessen Entscheidungen seien gerecht und weise, und es
habe nicht nur über das legale Recht, sondern auch über Rechtlichkeit und
Wahrheit zu bestimmen. Sie fügen noch hinzu, daß das Volk, weil es nur
nach seinem Wohle, also nach dem Wohle aller zu streben vermöge, nur dann
sein Ziel verfehle, wenn ihm entweder durch die Staatseinrichtungen oder durch
unvorhergesehene Ereignisse unüberwindliche Hindernisse in den Weg gelegt
werden. Man verwechselt immer wieder das Volk, also die Gesamtheit der
Bürger, mit der Majorität, also einem der Veränderung unterliegenden Teile
des Volkes."

Ein arger Ketzer, dieser Franzose! Und er läßt sich daran noch nicht ge¬
nügen, er unterfängt sich zu behaupten, die menschliche Natur sei nie weniger
erkannt worden als im achtzehnten Jahrhundert, welches nur den Menschen,
einen Begriff, nicht die Menschen, die Wirklichkeit, studirte. Er schärft seinem
Schüler ein, daß es nur allgemein verständlicher Behauptungen, leicht faßlicher
Folgerungen, wohl einstudirtcr Posen und passender Redensarten bedürfe, um
sich der Herrschaft über die Gemüter zu bemächtigen, und daß es nicht zu schwer
fallen würde, eine Wählerversammlung unter Anrufung des gesunden Menschen¬
verstandes davon zu überzeugen, daß dem sophistischen Galilei zum Trotz die
Sonne sich um die Erde drehe. Vor allem müsse er dem Herrscher, dein Volke,
zu gefallen trachten: durch den Schein der Ergebenheit; durch jene Uneigen¬
nützigreit, welche den Ehrgeiz nicht ausschließt, wohl aber die Habgier (hier wird
eingeschaltet, daß die Franzosen in diesem Punkte nicht so vorurteilsfrei seien,
wie z. B. die Amerikaner, weil ihnen mehr an der Gleichheit als an der Frei¬
heit gelegen sei); durch nie rastenden Eifer, bei jeder Gelegenheit als Verfechter
des wahren oder eingebildeten Volkswohles aufzutreten und die Rivalen durch


Ein Lehrbuch der Demagogie.

nichts Dauerndes zu schaffen vermochten, für Mustergeschgeber gelten, bald
meinen sie, daß es hinreiche, jenen einige Redensarten zu entlehnen, um sich
das Geheimnis ihrer übermenschlichen Kraft anzueignen." Er meint, die Männer
des Konvents müßten, wenn sie das Getriebe dieser Welt noch mit ansehen
könnten, ihre Nachahmer belachen: welcher Art würde jedoch das Gefühl sein,
welches der Anblick der deutschen Nachahmer ihrer Nachahmer in ihnen hervor¬
riefe? „Heute ist das Werk vollbracht. Die Bücher, die Reden und die Tages¬
presse haben die öffentliche Meinung in den revolutionärem Glauben aufgehen
lassen; der Konvent ist zum Konzil geworden: seine großen Männer sind Priester
und Propheten, die der Jugend als Vorbilder hingestellt werden. ... Die
Souveränetät des Volkes wird kaum noch bestritten. Man läßt es aber nicht
mehr bei der Behauptung bewenden, das Volk sei die höchste Instanz, der
Majoritätswille sei das Gesetz. Gleich den Königen und Päpsten hat das
Volk Höflinge, die ihm begreiflich machen, daß die Souveränetät nichts zu be¬
deuten habe, sofern sie nicht die Unfehlbarkeit mit in sich schließe. Weil auf
die Entscheidungen des Volkes hin nur an dieses selbst appellirt werden kann,
so folgern die Höflinge, dessen Entscheidungen seien gerecht und weise, und es
habe nicht nur über das legale Recht, sondern auch über Rechtlichkeit und
Wahrheit zu bestimmen. Sie fügen noch hinzu, daß das Volk, weil es nur
nach seinem Wohle, also nach dem Wohle aller zu streben vermöge, nur dann
sein Ziel verfehle, wenn ihm entweder durch die Staatseinrichtungen oder durch
unvorhergesehene Ereignisse unüberwindliche Hindernisse in den Weg gelegt
werden. Man verwechselt immer wieder das Volk, also die Gesamtheit der
Bürger, mit der Majorität, also einem der Veränderung unterliegenden Teile
des Volkes."

Ein arger Ketzer, dieser Franzose! Und er läßt sich daran noch nicht ge¬
nügen, er unterfängt sich zu behaupten, die menschliche Natur sei nie weniger
erkannt worden als im achtzehnten Jahrhundert, welches nur den Menschen,
einen Begriff, nicht die Menschen, die Wirklichkeit, studirte. Er schärft seinem
Schüler ein, daß es nur allgemein verständlicher Behauptungen, leicht faßlicher
Folgerungen, wohl einstudirtcr Posen und passender Redensarten bedürfe, um
sich der Herrschaft über die Gemüter zu bemächtigen, und daß es nicht zu schwer
fallen würde, eine Wählerversammlung unter Anrufung des gesunden Menschen¬
verstandes davon zu überzeugen, daß dem sophistischen Galilei zum Trotz die
Sonne sich um die Erde drehe. Vor allem müsse er dem Herrscher, dein Volke,
zu gefallen trachten: durch den Schein der Ergebenheit; durch jene Uneigen¬
nützigreit, welche den Ehrgeiz nicht ausschließt, wohl aber die Habgier (hier wird
eingeschaltet, daß die Franzosen in diesem Punkte nicht so vorurteilsfrei seien,
wie z. B. die Amerikaner, weil ihnen mehr an der Gleichheit als an der Frei¬
heit gelegen sei); durch nie rastenden Eifer, bei jeder Gelegenheit als Verfechter
des wahren oder eingebildeten Volkswohles aufzutreten und die Rivalen durch


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[0404] Ein Lehrbuch der Demagogie. nichts Dauerndes zu schaffen vermochten, für Mustergeschgeber gelten, bald meinen sie, daß es hinreiche, jenen einige Redensarten zu entlehnen, um sich das Geheimnis ihrer übermenschlichen Kraft anzueignen." Er meint, die Männer des Konvents müßten, wenn sie das Getriebe dieser Welt noch mit ansehen könnten, ihre Nachahmer belachen: welcher Art würde jedoch das Gefühl sein, welches der Anblick der deutschen Nachahmer ihrer Nachahmer in ihnen hervor¬ riefe? „Heute ist das Werk vollbracht. Die Bücher, die Reden und die Tages¬ presse haben die öffentliche Meinung in den revolutionärem Glauben aufgehen lassen; der Konvent ist zum Konzil geworden: seine großen Männer sind Priester und Propheten, die der Jugend als Vorbilder hingestellt werden. ... Die Souveränetät des Volkes wird kaum noch bestritten. Man läßt es aber nicht mehr bei der Behauptung bewenden, das Volk sei die höchste Instanz, der Majoritätswille sei das Gesetz. Gleich den Königen und Päpsten hat das Volk Höflinge, die ihm begreiflich machen, daß die Souveränetät nichts zu be¬ deuten habe, sofern sie nicht die Unfehlbarkeit mit in sich schließe. Weil auf die Entscheidungen des Volkes hin nur an dieses selbst appellirt werden kann, so folgern die Höflinge, dessen Entscheidungen seien gerecht und weise, und es habe nicht nur über das legale Recht, sondern auch über Rechtlichkeit und Wahrheit zu bestimmen. Sie fügen noch hinzu, daß das Volk, weil es nur nach seinem Wohle, also nach dem Wohle aller zu streben vermöge, nur dann sein Ziel verfehle, wenn ihm entweder durch die Staatseinrichtungen oder durch unvorhergesehene Ereignisse unüberwindliche Hindernisse in den Weg gelegt werden. Man verwechselt immer wieder das Volk, also die Gesamtheit der Bürger, mit der Majorität, also einem der Veränderung unterliegenden Teile des Volkes." Ein arger Ketzer, dieser Franzose! Und er läßt sich daran noch nicht ge¬ nügen, er unterfängt sich zu behaupten, die menschliche Natur sei nie weniger erkannt worden als im achtzehnten Jahrhundert, welches nur den Menschen, einen Begriff, nicht die Menschen, die Wirklichkeit, studirte. Er schärft seinem Schüler ein, daß es nur allgemein verständlicher Behauptungen, leicht faßlicher Folgerungen, wohl einstudirtcr Posen und passender Redensarten bedürfe, um sich der Herrschaft über die Gemüter zu bemächtigen, und daß es nicht zu schwer fallen würde, eine Wählerversammlung unter Anrufung des gesunden Menschen¬ verstandes davon zu überzeugen, daß dem sophistischen Galilei zum Trotz die Sonne sich um die Erde drehe. Vor allem müsse er dem Herrscher, dein Volke, zu gefallen trachten: durch den Schein der Ergebenheit; durch jene Uneigen¬ nützigreit, welche den Ehrgeiz nicht ausschließt, wohl aber die Habgier (hier wird eingeschaltet, daß die Franzosen in diesem Punkte nicht so vorurteilsfrei seien, wie z. B. die Amerikaner, weil ihnen mehr an der Gleichheit als an der Frei¬ heit gelegen sei); durch nie rastenden Eifer, bei jeder Gelegenheit als Verfechter des wahren oder eingebildeten Volkswohles aufzutreten und die Rivalen durch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/404>, abgerufen am 29.12.2024.