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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Ein Lehrbuch der Demagogie.

uns mit derselben Vorstellung schmeicheln in einer Zeit, welche "Deutschland,
Deutschland über alles" zu einem Parteiliede gestempelt hat, bei dessen Klängen
die einen Grimassen schneiden, wie Satan beim Anblick des Kreuzes, und dem
andere einen verbesserten Text unterlegen: "Rom -- oder Judäa über alles"!

Der Titel "Lehrbuch der Demagogie" würde besser passen als der vom
Übersetzer gewählte. Der Verfasser fingirt die Aufgabe, einem jungen Manne
Anweisung zu geben, wie er so schnell und mühelos als möglich "zu der Art
von Berühmtheit gelangen könne, die zur Macht führt," und er giebt dem
jungen Manne den Rat: "Werden Sie Demagog." Den Franzosen ist, so be¬
lehrt er ihn, stets das Lächeln des Fürsten und der Beifall des Volkes über
alles gegangen; heute, wo das Volk zugleich der Herrscher ist, brauchen sie
nicht einmal zwischen beiden zu wählen, sie werden Schmeichler, Höflinge, indem
sie Freiheitsphrasen im Munde führen. Vortrefflich ist dargelegt, wie die erste
Revolution, ganz der Voraussage Mirabecius entsprechend, mehr für die Herr¬
schaft der Autorität gethan hat als ganze Perioden unumschränkter Regierung;
wie Napoleon I. gleich einem Ludwig XIV. herrschte, nur die Gleichmacherei
der Jakobiner mit Konsequenz auch in der Volkserziehung durchführte; wie die
Prcifekten Ludwigs XVIII. und Ludwig Philipps sich wenig von den Prcifekten
Napoleons unterschieden, und daß während des großen Lärmes und der leiden¬
schaftlichen Kämpfe um die Rechte des Volksvertreters, des Wählers, des
Schriftstellers das Hausrecht, die Genossenschaftsfreiheit, die Testirfreiheit, die
Lehrfreiheit, die Religionsfreiheit, die kommunale Selbstverwaltung immer und
immer entweder unbeachtet gelassen oder absichtlich der Bevölkerung vorent¬
halten worden sind. Die erste Republik war wie ein furchtbarer Traum über
das Volk hingegangen, sich nach jener Zeit zurückzusehnen, fiel keinem ein, der
sie miterlebt hatte, während die unablässig eingeforderte Blutsteuer unter Napo¬
leon und endlich der zweimalige Zusammenbruch seines Thrones das alte
Königtum in gewissen Schichten wieder populär machten, und die Bourbonen
mit den Erinnerungen an den Glanz des Kaiserreiches zu kämpfen hatten.
Erst nach 1830 entstand jene revolutionäre Tradition, welche seitdem in den
Köpfen der Franzosen -- und andrer! -- spukt. Geschichtschreiber, Drama¬
tiker und Romanschreiber beschworen die Revolutionshelden aus ihren Gräbern
herauf, und man begeisterte sich für sie, ohne ihre Handlungen und Ansichten
zu prüfen, man bewunderte sie "gleich jenen heldenhaften, durch die Kunst schön
zu sterben berühmt gewordenen Gladiatoren." Und da die Mehrzahl derselben
"ehre Verbrechen und Schwächen wie Einzelne) ihre hohen Tugenden mit dem
Leben bezahlt hatten, begann man, sie als Märtyrer zu verehren und jeden
ihrer Ansprüche als ein Evangelium zu betrachten." Mit kräftigen, treffenden
Worten charakterisirt Frarh das Unheil, welches "der böse Zauber dieser zur
Sage und zum Heldengesang umgewandelten Geschichtsepoche" in den letzten
fünfzig Jahren über Frankreich gebracht hat. "Bald lassen sie Männer, die


Ein Lehrbuch der Demagogie.

uns mit derselben Vorstellung schmeicheln in einer Zeit, welche „Deutschland,
Deutschland über alles" zu einem Parteiliede gestempelt hat, bei dessen Klängen
die einen Grimassen schneiden, wie Satan beim Anblick des Kreuzes, und dem
andere einen verbesserten Text unterlegen: „Rom — oder Judäa über alles"!

Der Titel „Lehrbuch der Demagogie" würde besser passen als der vom
Übersetzer gewählte. Der Verfasser fingirt die Aufgabe, einem jungen Manne
Anweisung zu geben, wie er so schnell und mühelos als möglich „zu der Art
von Berühmtheit gelangen könne, die zur Macht führt," und er giebt dem
jungen Manne den Rat: „Werden Sie Demagog." Den Franzosen ist, so be¬
lehrt er ihn, stets das Lächeln des Fürsten und der Beifall des Volkes über
alles gegangen; heute, wo das Volk zugleich der Herrscher ist, brauchen sie
nicht einmal zwischen beiden zu wählen, sie werden Schmeichler, Höflinge, indem
sie Freiheitsphrasen im Munde führen. Vortrefflich ist dargelegt, wie die erste
Revolution, ganz der Voraussage Mirabecius entsprechend, mehr für die Herr¬
schaft der Autorität gethan hat als ganze Perioden unumschränkter Regierung;
wie Napoleon I. gleich einem Ludwig XIV. herrschte, nur die Gleichmacherei
der Jakobiner mit Konsequenz auch in der Volkserziehung durchführte; wie die
Prcifekten Ludwigs XVIII. und Ludwig Philipps sich wenig von den Prcifekten
Napoleons unterschieden, und daß während des großen Lärmes und der leiden¬
schaftlichen Kämpfe um die Rechte des Volksvertreters, des Wählers, des
Schriftstellers das Hausrecht, die Genossenschaftsfreiheit, die Testirfreiheit, die
Lehrfreiheit, die Religionsfreiheit, die kommunale Selbstverwaltung immer und
immer entweder unbeachtet gelassen oder absichtlich der Bevölkerung vorent¬
halten worden sind. Die erste Republik war wie ein furchtbarer Traum über
das Volk hingegangen, sich nach jener Zeit zurückzusehnen, fiel keinem ein, der
sie miterlebt hatte, während die unablässig eingeforderte Blutsteuer unter Napo¬
leon und endlich der zweimalige Zusammenbruch seines Thrones das alte
Königtum in gewissen Schichten wieder populär machten, und die Bourbonen
mit den Erinnerungen an den Glanz des Kaiserreiches zu kämpfen hatten.
Erst nach 1830 entstand jene revolutionäre Tradition, welche seitdem in den
Köpfen der Franzosen — und andrer! — spukt. Geschichtschreiber, Drama¬
tiker und Romanschreiber beschworen die Revolutionshelden aus ihren Gräbern
herauf, und man begeisterte sich für sie, ohne ihre Handlungen und Ansichten
zu prüfen, man bewunderte sie „gleich jenen heldenhaften, durch die Kunst schön
zu sterben berühmt gewordenen Gladiatoren." Und da die Mehrzahl derselben
„ehre Verbrechen und Schwächen wie Einzelne) ihre hohen Tugenden mit dem
Leben bezahlt hatten, begann man, sie als Märtyrer zu verehren und jeden
ihrer Ansprüche als ein Evangelium zu betrachten." Mit kräftigen, treffenden
Worten charakterisirt Frarh das Unheil, welches „der böse Zauber dieser zur
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fünfzig Jahren über Frankreich gebracht hat. „Bald lassen sie Männer, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/403>, abgerufen am 29.12.2024.