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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Die Tragödie Dantes.

lichen Komödie: die Werke Vuonarrottis verfehlen nie in Erstaunen zu setzen,
zu erschüttern, außer Fassung zu bringen, aber nie wird man vor seinen Pro¬
pheten oder seinem Jüngsten Gericht träumen. Es ist eben ein vielverbreiteter
Irrtum, der diesen beiden souveränen Geistern ein Kondominium im Reiche des
Übernatürlichen zuweist. Während endlich Michelangelo der Malerei und Bild¬
hauerei der spätern Epoche eine ganz neue und unheilvolle Richtung gegeben hat,
hat Alighieri auf die Entwicklung der italienischen Poesie weder im guten noch
im schlimmen Sinne eingewirkt; erst seit Alfieri und unter der spätern Nach¬
wirkung der romantischen Bewegung kann man eine gewisse Dantesche Ader
wahrnehmen. Dante und Michelangelo sind also unvergleichlich, in jeder Be¬
ziehung; nicht dasselbe Geschick hat seinen verhängnisvollen und düstern Stempel
diesen zwei Genies aufgedrückt. Die Tragödie Michelangelos sehen wir ganz
im Künstler: der gewaltigen Phantasie fehlte die Macht der Ausführung; aber
die Tragödie Dantes ruht ganz sicher nicht im Dichter. Man sollte sie viel¬
mehr im Menschen suchen.

Vielleicht im Liebhaber der Beatrice, der seine Liebesverzweiflung in den
Canzonen der Vita nuova ausspricht?

Aber ist denn die Leidenschaft Dantes für die Tochter-Port^uns wirklich
ernst zu nehmen? Im Alter von neun Jahren verliebt er sich in sie -- eine
poetische Licenz; er sieht sie und besingt sie; er spricht zum erstenmal mit ihr
als Achtzehnjähriger, und er fährt fort, sie zu besingen; sie heiratet einen andern,
ohne daß er betrübt oder auch nur erzürnt wäre, und sein Lied erhebt sich zur
höchsten Begeisterung; sie stirbt und wehklagend geht er hin und nimmt ein
Weib: die äouug, Ahnens, an welche er die schönsten und rührendsten Sonette
der ganzen Sammlung richtet. Mit fünfzig Jahren erliegt er noch den Reizen
einer neuen Zauberin! Keines Lasters klagt er sich in seiner Komödie, der
Generalbeichte seines Herzens, so heftig an, als der Verirrungen des Fleisches!
Ist nun seine Liebe zu Beatrice wirklich noch ernst zu nehmen? Und wieviel
Ziererei, Unnatur, spitzfindige Klügelei trifft man in der Vita nuova, die er
sogar höchst gelehrt kommentirt -- Liebesgedichte! Sie sind ebensowenig ernst
zu nehmen als die Leidenschaft Petrarcas für Laura, welche dieser in den Rims
zur Schau trägt. Allerdings geht die wahre Leidenschaft fast immer der da¬
maligen Liebespoesie ab, bei Tasso wie bei Petrarca und Dante. Die Empfind¬
samkeit, diese weibliche Haupteigenschaft, wird hier seltsamerweise der Beruf und
die Haupttugend des Mannes: er kämpft nicht, er rührt sich nicht, er handelt
nicht. Die bewundernswerter Strophen Petrarcas über die Sklaverei Italiens
würde man noch viel bewundernswerter finden, sähe man sie nicht untermischt
mit taufenden von Versen, die nur jene "Liebessklaverei" preisen, welche viel¬
leicht am meisten dazu beigetragen hat, Italien zu entnerven und seine politische
Knechtschaft zu verlängern. Eine systematische Unbestimmtheit, der völlige Mangel
eines Reliefs herrscht bei allen weiblichen Figuren dieser Dichter, wie sie auch


Die Tragödie Dantes.

lichen Komödie: die Werke Vuonarrottis verfehlen nie in Erstaunen zu setzen,
zu erschüttern, außer Fassung zu bringen, aber nie wird man vor seinen Pro¬
pheten oder seinem Jüngsten Gericht träumen. Es ist eben ein vielverbreiteter
Irrtum, der diesen beiden souveränen Geistern ein Kondominium im Reiche des
Übernatürlichen zuweist. Während endlich Michelangelo der Malerei und Bild¬
hauerei der spätern Epoche eine ganz neue und unheilvolle Richtung gegeben hat,
hat Alighieri auf die Entwicklung der italienischen Poesie weder im guten noch
im schlimmen Sinne eingewirkt; erst seit Alfieri und unter der spätern Nach¬
wirkung der romantischen Bewegung kann man eine gewisse Dantesche Ader
wahrnehmen. Dante und Michelangelo sind also unvergleichlich, in jeder Be¬
ziehung; nicht dasselbe Geschick hat seinen verhängnisvollen und düstern Stempel
diesen zwei Genies aufgedrückt. Die Tragödie Michelangelos sehen wir ganz
im Künstler: der gewaltigen Phantasie fehlte die Macht der Ausführung; aber
die Tragödie Dantes ruht ganz sicher nicht im Dichter. Man sollte sie viel¬
mehr im Menschen suchen.

Vielleicht im Liebhaber der Beatrice, der seine Liebesverzweiflung in den
Canzonen der Vita nuova ausspricht?

Aber ist denn die Leidenschaft Dantes für die Tochter-Port^uns wirklich
ernst zu nehmen? Im Alter von neun Jahren verliebt er sich in sie — eine
poetische Licenz; er sieht sie und besingt sie; er spricht zum erstenmal mit ihr
als Achtzehnjähriger, und er fährt fort, sie zu besingen; sie heiratet einen andern,
ohne daß er betrübt oder auch nur erzürnt wäre, und sein Lied erhebt sich zur
höchsten Begeisterung; sie stirbt und wehklagend geht er hin und nimmt ein
Weib: die äouug, Ahnens, an welche er die schönsten und rührendsten Sonette
der ganzen Sammlung richtet. Mit fünfzig Jahren erliegt er noch den Reizen
einer neuen Zauberin! Keines Lasters klagt er sich in seiner Komödie, der
Generalbeichte seines Herzens, so heftig an, als der Verirrungen des Fleisches!
Ist nun seine Liebe zu Beatrice wirklich noch ernst zu nehmen? Und wieviel
Ziererei, Unnatur, spitzfindige Klügelei trifft man in der Vita nuova, die er
sogar höchst gelehrt kommentirt — Liebesgedichte! Sie sind ebensowenig ernst
zu nehmen als die Leidenschaft Petrarcas für Laura, welche dieser in den Rims
zur Schau trägt. Allerdings geht die wahre Leidenschaft fast immer der da¬
maligen Liebespoesie ab, bei Tasso wie bei Petrarca und Dante. Die Empfind¬
samkeit, diese weibliche Haupteigenschaft, wird hier seltsamerweise der Beruf und
die Haupttugend des Mannes: er kämpft nicht, er rührt sich nicht, er handelt
nicht. Die bewundernswerter Strophen Petrarcas über die Sklaverei Italiens
würde man noch viel bewundernswerter finden, sähe man sie nicht untermischt
mit taufenden von Versen, die nur jene „Liebessklaverei" preisen, welche viel¬
leicht am meisten dazu beigetragen hat, Italien zu entnerven und seine politische
Knechtschaft zu verlängern. Eine systematische Unbestimmtheit, der völlige Mangel
eines Reliefs herrscht bei allen weiblichen Figuren dieser Dichter, wie sie auch


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[0235] Die Tragödie Dantes. lichen Komödie: die Werke Vuonarrottis verfehlen nie in Erstaunen zu setzen, zu erschüttern, außer Fassung zu bringen, aber nie wird man vor seinen Pro¬ pheten oder seinem Jüngsten Gericht träumen. Es ist eben ein vielverbreiteter Irrtum, der diesen beiden souveränen Geistern ein Kondominium im Reiche des Übernatürlichen zuweist. Während endlich Michelangelo der Malerei und Bild¬ hauerei der spätern Epoche eine ganz neue und unheilvolle Richtung gegeben hat, hat Alighieri auf die Entwicklung der italienischen Poesie weder im guten noch im schlimmen Sinne eingewirkt; erst seit Alfieri und unter der spätern Nach¬ wirkung der romantischen Bewegung kann man eine gewisse Dantesche Ader wahrnehmen. Dante und Michelangelo sind also unvergleichlich, in jeder Be¬ ziehung; nicht dasselbe Geschick hat seinen verhängnisvollen und düstern Stempel diesen zwei Genies aufgedrückt. Die Tragödie Michelangelos sehen wir ganz im Künstler: der gewaltigen Phantasie fehlte die Macht der Ausführung; aber die Tragödie Dantes ruht ganz sicher nicht im Dichter. Man sollte sie viel¬ mehr im Menschen suchen. Vielleicht im Liebhaber der Beatrice, der seine Liebesverzweiflung in den Canzonen der Vita nuova ausspricht? Aber ist denn die Leidenschaft Dantes für die Tochter-Port^uns wirklich ernst zu nehmen? Im Alter von neun Jahren verliebt er sich in sie — eine poetische Licenz; er sieht sie und besingt sie; er spricht zum erstenmal mit ihr als Achtzehnjähriger, und er fährt fort, sie zu besingen; sie heiratet einen andern, ohne daß er betrübt oder auch nur erzürnt wäre, und sein Lied erhebt sich zur höchsten Begeisterung; sie stirbt und wehklagend geht er hin und nimmt ein Weib: die äouug, Ahnens, an welche er die schönsten und rührendsten Sonette der ganzen Sammlung richtet. Mit fünfzig Jahren erliegt er noch den Reizen einer neuen Zauberin! Keines Lasters klagt er sich in seiner Komödie, der Generalbeichte seines Herzens, so heftig an, als der Verirrungen des Fleisches! Ist nun seine Liebe zu Beatrice wirklich noch ernst zu nehmen? Und wieviel Ziererei, Unnatur, spitzfindige Klügelei trifft man in der Vita nuova, die er sogar höchst gelehrt kommentirt — Liebesgedichte! Sie sind ebensowenig ernst zu nehmen als die Leidenschaft Petrarcas für Laura, welche dieser in den Rims zur Schau trägt. Allerdings geht die wahre Leidenschaft fast immer der da¬ maligen Liebespoesie ab, bei Tasso wie bei Petrarca und Dante. Die Empfind¬ samkeit, diese weibliche Haupteigenschaft, wird hier seltsamerweise der Beruf und die Haupttugend des Mannes: er kämpft nicht, er rührt sich nicht, er handelt nicht. Die bewundernswerter Strophen Petrarcas über die Sklaverei Italiens würde man noch viel bewundernswerter finden, sähe man sie nicht untermischt mit taufenden von Versen, die nur jene „Liebessklaverei" preisen, welche viel¬ leicht am meisten dazu beigetragen hat, Italien zu entnerven und seine politische Knechtschaft zu verlängern. Eine systematische Unbestimmtheit, der völlige Mangel eines Reliefs herrscht bei allen weiblichen Figuren dieser Dichter, wie sie auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/235>, abgerufen am 29.12.2024.